Gravitation: Von Extra-Dimensionen vorerst keine Spur
Wäre die Welt zehndimensional, nähme die Schwerkraft bei sehr kleinen Abständen vielleicht stärker zu als nach Newtons Gravitationsgesetz. Jetzt gelang ein Test bis 0,2 Millimeter.
In den Naturwissenschaften wird es immer dann besonders spannend, wenn Fortschritte der Experimentierkunst die Möglichkeit eröffnen, bislang unüberprüfbare theoretische Modelle oder Vorhersagen erstmals dem Realitätstest zu unterwerfen. Als Beispiel sei der experimentelle Nachweis der W- und Z-Bosonen als Trägerteilchen der schwachen Wechselwirkung genannt: 23 Jahre nach ihrer theoretischen Vorhersage konnten sie mit speziell für diesen Zweck gebauten Beschleunigern erzeugt werden, sodass sie heute gesicherter Bestandteil des physikalischen Weltbildes sind.
Deutlich exotischer noch als eine Theorie, die bestimmte Austauschteilchen als Vermittler einer grundlegenden Kraft postuliert, ist der gedankliche Entwurf eines Universums, in dem es mehr als die drei uns geläufigen Raumdimensionen gibt. Schließlich widerspricht er scheinbar aller menschlichen Erfahrung und Intuition.
Dennoch existieren gewichtige Gründe dafür, zusätzliche Dimensionen in das physikalische Weltbild einzuführen. So gelingt es nur unter dieser Bedingung, die im Standardmodell der Teilchenphysik vereinigten Grundkräfte der starken, schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung mit der Gravitation unter einen Hut zu bringen.
Die erste Theorie solcher Extra-Dimensionen entwickelte schon 1919 der deutsche Mathematiker Theodor Kaluza (1885–1954) als Privatdozent an der Universität Königsberg. Damit wollte er die beiden damals bekannten Grundkräfte Gravitation und Elektromagnetismus in einheitlicher Weise beschreiben. Die fünfte Dimension ist dabei an jeden Punkt der vierdimensionalen Raumzeit angeheftet, die der Speziellen und All-gemeinen Relativitätstheorie zu Grunde liegt. Sie lässt sich allerdings nicht wahrnehmen, weil sie eingerollt ist. Zur Veranschaulichung kann man sich ein zweidimensionales Blatt Papier vorstellen, das auch eindimensional erscheint, wenn man es zu einem Rohr mit winzigem Durchmesser aufwickelt.
Der schwedische Physiker Oskar Klein (1894–1974) versuchte sieben Jahre später diese Theorie mit der frisch gebackenen Quantenmechanik in Einklang zu bringen und formulierte eine Version der Schrödinger-Gleichung mit fünf Variablen (siehe "Die fünfte Dimension", Spektrum der Wissenschaft 7/88, S. 52). Wegen einiger substanzieller Probleme – so sagt die Theorie im Widerspruch zu experimentellen Befunden eine zeitabhängige Gravitationskonstante voraus – wurde der Ansatz aber nicht weiter verfolgt.
Erst Jahrzehnte später gab es wieder Versuche, die vier Grundkräfte in höherdimensionalen Räumen zu vereinheitlichen. Neuerdings liegt der Schwerpunkt auf den so genannten Stringtheorien, die allerdings mit bescheidenen fünf Dimensionen nicht auskommen – es müssen schon mindestens zehn sein (Spektrum der Wissenschaft 4/98, S. 62). Auch hier werden die höheren Dimensionen in sehr kleine Raumbereiche zusammengerollt, damit nur die vier unserer vertrauten Raumzeit übrig bleiben. Als typischer Durchmesser der eingewickelten Dimensionen gilt die so genannte Plancksche Länge von 1,6x10E-35 Metern, unterhalb derer der Raum seine gleichförmige Beschaffenheit verliert und eine diskrete Quantenstruktur offenbart.
Um in derart winzige Raumregionen "hineinschauen" zu können, bräuchte man gemäß der Heisenbergschen Unschärferelation Teilchen mit einer Energie, die mindestens der Planckschen Masse von 1,2x10E28 Elektronenvolt (etwa 0,02 Milligramm) entspricht. Spätestens bei dieser Energie vereinigen sich die vier Naturkräfte zu einer universellen Wechselwirkung. Sie liegt jedoch weit jenseits der Möglichkeiten von irdischen Beschleunigern: Der Large Hadron Collider (LHC) wird, die größte je gebaute Teilchenschleuder, ab 2005 Protonen gerade mal auf 1,4x10E13 Elektronenvolt bringen.
Möglicherweise existieren jedoch Auswege aus diesem Dilemma. So fanden sich in den letzten Jahren theoretische Hinweise darauf, dass die Vereinheitlichung der vier Grundkräfte bereits bei Energien einsetzen könnte, die deutlich unter der Planck-Masse liegen und mit dem LHC erreichbar wären. Insbesondere entwickelten Stringtheoretiker Vorstellungen und präzisierten sie mathematisch, wonach drei der fundamentalen Wechselwirkungen auf die üblichen drei Raumdimensionen beschränkt blieben; nur die Gravitation würde in allen zehn Dimensionen agieren (siehe "Die unsichtbaren Dimensionen", Spektrum der Wissenschaft 10/2000, S. 44). Solche Konzepte sind mit den bisherigen Stringmodellen vereinbar. Für sie spricht, dass sie zwanglos erklären würden, warum die für die Gravitation charakteristische Planck-Masse so viel größer ist als die Massen der Elementarteilchen.
Unter diesen Umständen haben einige der zusätzlichen aufgerollten Raumdimensionen Radien, die deutlich über der Planck-Länge liegen. Wäre nur eine Extra-Dimension derart locker aufgewickelt, würde das Gravitationsgesetz allerdings bereits über astronomische Entfernungen hinweg – beispielsweise in unserem Sonnensystem – seine bekannte Newtonsche Form verlieren. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, müssen mindestens zwei der zusätzlichen Raumdimensionen Übergröße haben. In diesem Falle sollte sich das Gravitationsgesetz erst unterhalb genügend kleiner Distanzen ändern. Hätten die beiden Dimension beispielsweise Radien von jeweils etwa einem Millimeter, würden sich zwei Körper bei kleinerem Abstand mit der negativen vierten Potenz ihrer Entfernung anziehen statt – wie bei Newton – mit der zweiten.
Newton auf dem Prüfstand
Tatsächlich war die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes bisher nur bis hinab zu Abständen von etwa einem Zentimeter hinreichend genau überprüft worden. Für kleinere Entfernungen – dort, wo es interessant wird – gab es bis jetzt keine zuverlässigen Daten. Im Wettlauf dreier amerikanischer Forschergruppen hat nun ein Team um Eric Adelberger an der Universität von Washington in Seattle jedoch erste Ergebnisse für kürzere Distanzen vorgelegt.
Die Gruppe konstruierte für ihr Experiment ein spezielles hochempfindliches Torsionspendel. Den Urtyp eines solchen Instruments benutzte bereits im 18. Jahrhundert Henry Cavendish (1731–1810) zur Messung der Gravitationskonstante. Die Forscher aus Seattle hängten für ihre sehr viel raffiniertere Version an einem Wolframfaden einen Ring mit zehn regelmäßig angeordneten gleich großen Löchern auf. Darunter platzierten sie in sehr geringem Abstand eine langsam rotierende Kupferscheibe mit gleichfalls zehn Löchern als Attraktor. Die Gravitationswechselwirkung zwischen beiden erzeugt am Faden ein Drehmoment, das wegen der zehnzähligen Rotationssymmetrie der Anordnung mit der zehnfachen Rotationsfrequenz variiert.
Nun sind die genauesten Experimente oft die, bei denen auf ausgeklügelte Weise gerade verhindert wird, dass ein von Null verschiedener Messwert auftritt. Um dies zu erreichen, brachten die amerikanischen Wissenschaftler eine zweite, dickere Kupferscheibe unter der ersten an und ließen sie synchron mit dieser rotieren. Die zehn Löcher der unteren Scheibe sind etwas größer und außerdem genau in der Mitte zwischen denen der Scheibe darüber angeordnet. Dadurch kompensiert bei einem bestimmten kritischen Abstand zwischen Ring und Attraktor die untere Scheibe gerade die Gravitationswirkungen der oberen auf das Torsionspendel – allerdings nur dann, wenn die Gravitation vom Quadrat des Abstandes abhängt. Sofern das Pendel also in Ruhe bleibt, was sich durch Messen des Laserlichts feststellen lässt, das an zwei Spiegeln oben am Torsionspendel reflektiert wird, gilt Newtons Gesetz.
Bei anderen Abständen als dem kritischen Wert tritt zwar ein Drehmoment auf, aber der durch die Newtonsche Gravitation verursachte Betrag ist sehr gering, während Nicht-Newtonsche Effekte weitgehend unbeeinflusst bleiben. Adelberger und seine Mitarbeiter machten Messungen bis hin zu Abständen von 0,218 Millimetern zwischen Attraktor und Pendel.
Damit das Experiment in dieser Weise überhaupt funktionierte, mussten die Komponenten höchsten Ansprüchen genügen. So betrug die Toleranz für die Abmessungen der Scheiben und des Rings nur 2,5 Mikrometer. Um elektrostatische Kräfte weitgehend auszuschalten, waren die empfindlichen Teile des Geräts mit Goldfolie beschichtet.
Das Ergebnis war enttäuschend – für die Stringtheoretiker zumindest (die Newtonianer mag es freuen): Bis hinunter zu dem erwähnten Minimalabstand von 0,218 Millimetern zeigten sich keine Abweichungen vom bekannten Gravitationsgesetz. Damit steht fest, dass auch die locker aufgerollten Extra-Dimensionen, so es sie denn überhaupt gibt, Durchmesser von deutlich unter einem Millimeter haben müssen.
Derzeit arbeiten die Wissenschaftler in Seattle an einer verbesserten Ausführung ihres Instruments, um eine noch höhere Genauigkeit bei noch kleineren Abständen zu erreichen. Bald sollten auch die ersten Ergebnisse der beiden anderen Teams vorliegen; vielleicht liefern sie bereits Aussagen für kürzere Distanzen. Es besteht also durchaus Hoffnung, in naher Zukunft doch noch quasi den Rocksaum der hypothetischen zusätzlichen Dimensionen zu erhaschen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2001, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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