Technische Biologie und Bionik: Von Grashalmen und Hochhäusern
Mechanische Schöpfungen in Natur und Technik
Aus dem Englischen von Thomas Filk. Wiley-VCH, Weinheim 2000. 363 Seiten, DM 48,–
Aus dem Englischen von Thomas Filk. Wiley-VCH, Weinheim 2000. 363 Seiten, DM 48,–
Steven Vogel ist ein begeisterter Biologe mit physikalisch-technischem Hintergrund, ein hartnäckiger Forscher, ein philosophisch orientierter Denker und ein geschickter Schreiber, dessen eigenwillige Sprache sich so wunderschön wie nur etwas vom üblich-langweiligen Wissenschafts-Englisch absetzt. Es spricht für den Übersetzer, dass diese Darstellungskunst auch im deutschen Text zu spüren ist, mitsamt den hier und da blitzartig aufleuchtenden Sarkasmen.
Als Vogel in den siebziger und achtziger Jahren seine Hauptarbeiten vorlegte, war die Betrachtung der Natur unter physikalischen, speziell biomechanischen Gesichtspunkten noch die Sache weniger Einzelkämpfer. Inzwischen ist das Gebiet stark aufgeblüht. Zwei Sichtweisen haben sich herauskristallisiert: Man nutzt die Mittel der physikalischen und der technischen Disziplinen, um die "Konstruktionen der Natur" besser zu verstehen und angemessener zu beschreiben (das nenne ich "Technische Biologie"), und man holt sich aus der Natur Anregungen und überträgt sie in die Technik ("Bionik").
Das Gemeinsame an den "mechanischen Schöpfungen in Natur und Technik" ist ebenso schlicht wie schlagend: Die Physik beherrscht alle Reiche in gleicher Weise. Also kann man mechanische Konstruktionen aus beiden Reichen – unter gehöriger Beachtung der jeweils unterschiedlichen Randbedingungen – vergleichen bis weit ins Detail und aus dem einen Reich für das andere lernen.
Der Autor geht mit den Darstellungen des Buches schön schrittweise vor. Er beginnt mit Länge, Oberfläche und Volumen, Oberflächenspannung und Diffusion, Schwerkraft und Trägheit, Säulen und Balken. Es folgen Materialien, ihre Eigenschaften, Vorteile der Flexibilität, unkonventionelle Materialien wie Pneus, dann Metalle und Verbundstoffe und ein philosophischer Exkurs, warum die Natur wohl keine Metalle als Baumaterial verwendet. Danach Spannung und Druck, Bänder und Stützen.
Etwas heterogen ist das Kapitel über "Maschinen für die mechanische Welt", in dem technische wie Verbrennungsmotoren und Elektromotoren und natürliche wie Muskeln und Flimmerepithelien einigermaßen beziehungslos nebeneinander stehen. Und so geht das weiter, über Hebel und Räder, Motoren und Rotoren, Pumpen und Strahlantriebe bis zu Fertigungsproblemen: die lebende Fabrik – die nichtlebende Fabrik.
Die 236 Seiten bis dahin sind eine wunderschöne Lektüre. Jeder, der gerne einmal über den Zaun zwischen den Disziplinen blicken will, wird die sehr individuelle Darstellung mit Gewinn nachvollziehen und sich davon anregen lassen. Der Nicht-Biomechaniker lernt eine ganze Welt kennen, und der Spezialist fühlt sich hier in seiner Sichtweise bestätigt, da zum Widerspruch gereizt – wie das halt so ist.
In den nächsten Hauptkapiteln "Die Natur kopieren? – Ein Rückblick" sowie "Nachahmung – Gegenwart und Zukunft" leistet sich Vogel nun einen schwer nachvollziehbaren Bruch. Nachdem er mit einer gelernten Bibliothekarin verheiratet ist, hat er sich die Mühe ge-macht, klassische (und damit eben leider auch immer nur frühe) Übertragungen auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen. War die Natur wirklich Vorbild, oder haben sich erst nachträglich Ähnlichkeiten zwischen technischer Entwicklung und natürlichem Sosein ergeben? Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet er zum Beispiel gewölbte Vogelflügel als Vorbilder für Tragflächen (die Werke der Flugpioniere Otto Lilienthal und der Brüder Wright), Sir George Cayleys Spechtrümpfe als Vorbild für Ballonformen, René-Antoine de Reaumurs Wespennester als Vorbild für Papier, Trommelfell und Mikrofonmembran, Rosendornen und Stacheldraht, Käferkiefer und Kettensägenzähne, Kletten und Klettverschlüsse und anderes mehr.
Sein Schluss: Technische Biologie ist außerordentlich produktiv, aber Bionik hat die Welt kaum weitergebracht. "Wir haben nur selten ein mechanisches Prinzip in einem Organismus erkannt, mit dem wir aus der Technik nicht schon vertraut waren." Nun ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Vogel durch sorgfältige Bibliotheksrecherchen einige hartnäckige Irrtümer der Wissenschaftsgeschichte korrigiert. Unsere Vorfahren haben demnach weit weniger direkt aus der Natur gelernt, als die populären Geschichten uns glauben machen. Auch ich teile Vogels Grundbedenken. Natur liefert keine Blaupausen für die Technik, und reine Naturkopie ist fast schon Scharlatanerie. Aber der Schluss, Lernen aus der Natur für die Technik sei prinzipiell nicht möglich, ist nicht nur unzulässig, sondern durch eine Fülle von Gegenbeispielen widerlegt: Universitätsinstitute (in Berlin und Saarbrücken), die Entwicklungslabors praktisch aller Großunternehmen und Forschungsinstitute in aller Welt betreiben mittlerweile Bionik sehr engagiert und mit großem Erfolg.
Warum so rückwärts gewandt, Herr Kollege? Steven Vogel war in seiner wissenschaftlichen Laufbahn eigentlich nicht der Bedenkenträger, als den er sich in den Schlusskapiteln seines Buches darstellt. Wie ich selbst hat er mit biophysikalischen Forschungen zum Insektenflug begonnen, sich dann aber andere Nischen gesucht, nämlich strömungsmechanische Phänomene im Bereich der Biologie, die nichts mit der Fortbewegung zu tun haben. Wie erzeugt die Umströmung in einem Schwamm eine Durchströmung? Warum zerreißen große Tange nicht, wenn sie in der Brandung herumgedonnert werden? Hierbei hat er biologische Intuition und physikalisches Verständnis aufs Schönste kombiniert und mit einer tastenden, zunächst halbquantitativen Sichtweise, die sich kein Ingenieur gestatten würde, immer den Punkt erwischt, an dem Neues festzumachen war. Und eigen war er auch schon immer. Wenn er etwas anfing, und andere Leute machten das dann auch, hat ihn das nicht mehr interessiert; er hat wieder Neues angepeilt. "Biomimetik", wie im Wissenschaftskauderwelsch statt Bionik gerne gesagt wird, betreiben für seinen Geschmack vielleicht auch schon zu viele Leute. Möglicherweise ist das der eigentliche Grund, warum er etwas vorsichtig ist, wenn es darum geht, von Gräsern für Hochhäuser zu lernen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2001, Seite 96
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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