Kleinwuchs: Von Knochen und Knorpeln
Bei der häufigsten Form des Kleinwuches ist die Umwandlung von Knorpel- in Knochenmasse gestört. Neue Einblicke in die Steuerung dieses Vorgangs wecken nun erstmals Hoffnung auf eine wirksame Behandlung des genetischen Defekts.
Arme und Beine sind stark verkürzt und leicht gekrümmt. Der Kopf ist relativ groß, die Stirn vorgewölbt und die Nasenwurzel eingedrückt. Einzig der Rumpf hat fast normale Maße. Ein solches Kind wird ausgewachsen nur eine Größe von ungefähr 1,30 Metern erreichen und mit einer ziemlich unproportionierten Körperfigur leben müssen. Es leidet an Achondroplasie, der häufigsten Form des skelettären Kleinwuchses beim Menschen. Etwa eines unter 10000 Neugeborenen ist davon betroffen.
Der medizinische Fachbegriff bedeutet übersetzt "fehlende Knorpelbildung" und weist damit auf die Ursache der Knochenmissbildung hin. Diese ist freilich noch keineswegs im Detail geklärt. Außerdem gibt es bisher kaum Möglichkeiten, die Achondroplasie zu behandeln, weil sie – im Unterschied zu anderen Formen des Kleinwuchses – so gut wie nicht auf Wachstumshormone anspricht. Umso wertvoller sind neue Erkenntnisse am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin: Vertiefte Einsichten in die molekularen Regulationsmechanismen der menschlichen Knochenentwicklung liefern erstmals Ansätze zu Erfolg versprechenden Therapiemöglichkeiten.
Bei der Achondroplasie sind die langen Knochen der Extremitäten stark verkürzt. Diese "Röhrenknochen" bilden sich während der Entwicklung eines Embryos in einem komplizierten Differenzierungsprozess. Dabei verdichten sich zunächst noch unspezialisierte Zellen und wandeln sich in so genannte Chondrozyten um, die Knorpelsubstanz produzieren. Während diese sich anfangs noch vermehren, stellen sie später, ausgehend von der Mitte der Knochenanlage, die Zellteilung ein und differenzieren sich zu den charakteristisch aufgeblähten Zellen des so genannten Blasenknorpels. Dieser umgibt sich strumpfartig mit einer Knochenmanschette, durch die Blutgefäße ins Innere der Skelettanlage eindringen und Knochen bildende Osteoblasten sowie Knochen abbauende Osteoklasten einschleusen. Unter deren Einfluss wird der Knorpel schließlich nach und nach durch Knochen und Knochenmark ersetzt.
Die Rolle der Wachstumsfugen
Das Längenwachstum eines Röhrenknochens hängt allein von der Teilung und Differenzierung der Knorpelzellen ab. Auch nach der Geburt bleibt an beiden Enden des Knochenschafts eine Knorpelregion erhalten: die so genannte Wachstumsfuge. An ihr teilen sich die Knorpelzellen kontinuierlich und entwickeln sich zum Blasenknorpel. Da dieser fortlaufend verknöchert, müssen für ein korrektes Längenwachstum Teilung und Differenzierung der Chondrozyten genauestens kontrolliert werden. Nach Ende der Pubertät wandelt sich der Knorpel in den Wachstumsfugen vollständig in Knochenmasse um, womit das Längenwachstum dauerhaft zum Erliegen kommt.
Bei der Achondroplasie aber setzt die Verknöcherung der Wachstumsfugen zu früh ein. Durch eine Mutation, bei der nur ein einziger "Buchstabe" in der Erbinformation verändert ist, sind Teilung und Differenzierung der Chondrozyten derart gestört, dass nicht genügend Knorpelsubstanz nachgebildet wird.
Schon 1994 konnte das verantwortliche Gen identifiziert werden. Es trägt die Bauanleitung für einen Rezeptor: ein Protein in der Wand der Chondrozyten, an das sich nur ganz bestimmte Stoffe anlagern können. In diesem Fall sind das die so genannten Fibroblast Growth Factors (FGFs). Diese Wachstumsfaktoren – Proteine mit hormonähnlicher Wirkung – fördern oder hemmen die Teilung und Differenzierung von Zellen. Den Rezeptor kann man sich dabei als Schalter vorstellen: Bei Anlagerung von FGFs wird er auf "an" gestellt; ohne sie steht er auf "aus". Durch die Genmutation ist er so verändert, dass er auch ohne FGF ständig eingeschaltet bleibt.
Zur genaueren Erforschung der Achondroplasie entwickelten Forscher geeignete "Mausmodelle". Dazu brachten sie per Gentransfer mutierte FGF-Rezeptoren in die Knochenanlage von Mäuse-Embryonen ein. Die daraus heranwachsenden Nager hatten wie Menschen mit Achondroplasie verkürzte Gliedmaßen und die ungewöhnliche Kopfform. Betrachtet man ihre Knorpelregion, zeigt sich, dass die Zone der sich teilenden Chondrozyten und der Bereich des Blasenknorpels verkleinert sind. Allerdings gelang es an den Mausmodellen nicht, entscheidende neue Aufschlüsse über die molekularen Hintergründe dieser Art von Zwergwuchs zu gewinnen oder eine wirksame Behandlung zu entwickeln.
Neue Hoffnung bringen jetzt die Ergebnisse der Arbeitsgruppe von Andrea Vortkamp am Berliner Max-Planck-Institut. Das Team entwickelte eine Methode, die Knorpel- und Knochenanlagen der Extremitäten von Mausembryonen in Kultur zu halten. Dabei liegen die Zellen nicht einzeln, sondern als intaktes Gewebe vor, was den Bedingungen in einer lebenden Maus recht nahe kommt. Zugleich sind Experimente viel einfacher durchführbar als am vollständigen Tier, weil man die Gewebekulturen direkt mit den Wachstumsfaktoren behandeln und die anschließende Entwicklung der Zellen untersuchen kann. Dafür wird das Gewebe geschnitten, angefärbt und zunächst einmal auf Veränderungen in der Zellgröße oder der Zusammensetzung von verschiedenen Zellzonen untersucht. Wichtiger ist aber die Analyse, welche Gene in den verschiedenen Regionen des Knorpels oder in bestimmten Zellverbänden abgelesen werden. Der Vergleich von unbehandelten mit behandelten Geweben ermöglicht dann recht einfach Aufschlüsse über Veränderungen.
Mit diesem Modellsystem konnten die Berliner Forscher bestätigen, dass FGFs die Vermehrung der Knorpelzellen in der Wachstumsfuge hemmen. Dagegen widerlegten sie eine andere Annahme: Aus der verkleinerten Region des Blasenknorpels hatte man geschlossen, FGFs würden auch die Differenzierung von Knorpelzellen zur Knochensubstanz verzögern. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wie sich nun zeigte, beschleunigen sie den Prozess sogar. Damit wirken sie gleich doppelt negativ auf das weitere Längenwachstum von Röhrenknochen.
Diese Erkenntnis verdankt das Team um Vortkamp einer Technik, mit der sich das Differenzierungsstadium von Knorpelzellen daran erkennen lässt, welche Gene gerade aktiv sind. Von angeschalteten Genen werden nämlich Blaupausen erzeugt – so genannte Boten-RNAs –, die dann an den Ribosomen die Herstellung der entsprechenden Proteine veranlassen. Die Anwesenheit der Boten-RNAs aber lässt sich daran erkennen, dass sie "komplementäre" Moleküle binden, die zuvor radioaktiv markiert worden waren. Diese Untersuchungen ergaben, dass nach Zugabe von FGF weniger Knorpelzellen in frühen und mehr in späten Differenzierungsstadien vorliegen. Die Verknöcherung wird also beschleunigt.
Neben FGF gibt es aber noch weitere Faktoren, die den Differenzierungsprozess der Knorpelzellen steuern. Dazu zählen die BMPs (Bone Morphogenetic Proteins). Von ihnen ist schon seit längerem bekannt, dass sie bei zu hoher Konzentration ein übermäßiges Längenwachstum auslösen, also zu übergroßen Extremitäten führen. Sind dagegen bestimmte BMP-Gene defekt, kommt es zur Verkürzung einzelner Skelett-Elemente.
Aus diesem Grund behandelten die Berliner Forscher die Gewebekultur auch mit BMPs. Das Ergebnis war eindeutig. Danach regulieren FGFs und BMPs unabhängig voneinander die gleichen Schritte, nämlich Vermehrung und Differenzierung des Knorpels – allerdings in entgegengesetzter Richtung. Im Unterschied zu FGF- erhöhen BMP-Signale die Teilungsrate der Knorpelzellen und verzögern deren Weiterentwicklung zum Blasenknorpel. Somit wirken sie doppelt positiv auf das Längenwachstum.
Ansatz für eine wirksame Therapie
Es lag daher nahe, BMPs auf ihre therapeutische Wirkung bei Achondroplasie zu testen. Dazu brachte das Team um Vortkamp Knochenanlagen von Mäuse-Embryonen mit dem mutierten FGF-Rezeptor in Gewebekultur. Tatsächlich entwickelten sie sich bei Zugabe von BMP deutlich normaler. Damit eröffnet sich erstmals ein hoffnungsvoller Ansatz für eine gezielte Therapie der Achondroplasie.
Zudem lehren die Ergebnisse eines: Das Gen zu kennen, das hinter einer Fehlbildung steckt, reicht keineswegs aus, um eine gezielte Behandlungsstrategie zu entwickeln. Vielmehr muss man das gesamte Regulationsnetzwerk verstehen, in das ein solches Gen eingebettet ist.
Als Nächstes gilt es nun zu prüfen, ob die Gabe von BMP oder BMP-aktivierenden Substanzen an junge "Achondroplasie-Mäuse" das Wachstum der Gliedmaßen direkt verbessert. Außerdem will Vortkamps Team untersuchen, welche weiteren Wachstumsfaktoren in dem Regulationsnetzwerk eine Rolle spielen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2003, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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