Von Krebsen und Kriminellen. Mathematische Modelle in Biologie und Soziologie
Was haben Krebse mit Kriminellen zu tun? Eine Menge – zumindest für Edward Beltrami, bei dem sie Symbolfiguren sind für Modelle in Biologie und Soziologie mit einem gemeinsamen mathematischen Nenner. Das vorliegende Buch entstand aus Vorlesungen des Autors, der an der Universität des Staates New York in Stony Brook Mathematikprofessor ist.
Krebse und Kriminelle sind die Protagonisten des ersten Kapitels, das Modelle für soziale Mobilität behandelt. Einsiedlerkrebse haben keine harten Panzer; statt dessen suchen sie sich Schneckenhäuser, die sie als Schutz mit sich herumtragen. Dem heranwachsenden Krebs wird diese Behausung im Laufe der Zeit zu eng, so daß er immer wieder auf Wohnungssuche gehen muß. Wird ein Schneckenhaus verfügbar (etwa durch den Tod des Besitzers oder durch den Wissenschaftler, der eines ins Wasser setzt), so löst das eine Kettenreaktion von Wohnungswechseln aus, bei der mehrere Krebse ins nächstgrößere Heim umsiedeln und am Ende ein kleines oder baufälliges Haus leer bleibt oder von einem bislang obdachlosen Krebs besetzt wird – eine Art Leerstellenwanderung.
Eine scheinbar gänzlich andere Geschichte wird uns als "Verbrecherkarriere" vorgestellt: Jemand begeht eine Straftat, wird geschnappt (oder auch nicht), kommt ins Gefängnis (oder auch nicht) und später wieder frei. Wenn er auf freiem Fuß ist, wird er entweder rückfällig oder kehrt in die Gemeinschaft der gesetzestreuen Bürger zurück.
Eine geeignete mathematische Sprache für die Beschreibung beider Szenarien sozialer Mobilität sind die absorbierenden Markow-Ketten. Ein Markow-Prozeß (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, März 1994, Seite 90) ist ein Zufallsprozeß, bestehend aus einer Folge von Bewegungen zwischen N Zuständen. Ein Zustand ist beispielsweise der Status eines Straffälligen oder die Größenklasse eines leeren Schneckenhauses. Dabei gilt, daß die Wahrscheinlichkeit eines Übergangs zum Zustand j im nächsten Schritt nur vom jetzigen Zustand i abhängt und nicht von den vorhergegangenen Schritten.
In beiden Beispielen gibt es zwei Sorten von Zuständen. Die einen sind absorbierend, das heißt, sie können nicht wieder verlassen werden: Alle bewohnbaren Schneckenhäuser sind besetzt, beziehungsweise der Kriminelle ist – durch Tod oder Bekehrung – endgültig aus der Verbrecherwelt ausgeschieden. Die übrigen Zustände sind transient und kommunizieren miteinander: Es gibt eine positive Wahrscheinlichkeit, in einer endlichen Zahl von Schritten von je- dem dieser Zustände aus zu jedem anderen zu gelangen. Schließlich landet man von jedem transienten Zustand aus nach endlich vielen Schritten mit positiver Wahrscheinlichkeit an einem absorbierenden.
Derartige Zufallsprozesse nennt man absorbierende Markow-Ketten. Sie haben besondere Eigenschaften. Insbesondere ist die Wahrscheinlichkeit für eine endgültige Absorption gleich eins: Jede Umzugskette und jede Verbrecherlaufbahn hat irgendwann ein Ende.
Unter dieser Voraussetzung kann man Größen berechnen wie die durchschnittliche Kettenlänge oder die Wahrscheinlichkeit für die Wiederkehr eines transienten Zustands. Diese kann man mit empirischen Daten vergleichen, etwa mit der mittleren Länge von Leerstellenketten bei der Wohnungssuche (nicht nur) der Krebse oder den Rückfallstatistiken Straffälliger. Eine Diskrepanz findet eine Erklärung: Für die Polizei ist ein Rückfälliger jemand, der erneut geschnappt wird, für die Justiz erst einer, der erneut verurteilt wird. Das sind die Wiederkehrwahrscheinlichkeiten verschiedener Zustände der Markow-Kette – und letztere ist im allgemeinen kleiner.
Die weiteren fünf Kapitel sind bei jeweils verschiedenen Themen von ähnlicher Bauart. Anhand ausgewählter Beispiele führt Beltrami die Anwendung verschiedener mathematischer Methoden vor, wobei die Methode die Klammer zwischen den Beispielen bildet. So geht es um die gerechte Verteilung von Abgeordnetensitzen und um Streckenpläne der Müllabfuhr (mit Methoden der ganzzahligen Optimierung), um den optimalen Einsatz von Feuerwehreinheiten (Poisson-Prozesse), Überfischung und Masernepidemien (gewöhnliche Differentialgleichungen), Algenblüte und Verbreitung des grauen Eichhörnchens (Diffusionsgleichungen), Gewinnmaximierung bei beschränkten Ressourcen und das Versteckspiel (Spieltheorie).
Es ist das erklärte Ziel des Autors, die Lücke zwischen Theorie und Anwendung auf verständliche Art und Weise zu schließen. Das ist ihm gelungen – auch deshalb, weil er das Niveau nicht allzu niedrig angesetzt hat. Vorausgesetzt wird etwas mehr als Schulmathematik, insbesondere ein bißchen Matrizentheorie, etwas Differentialrechnung in mehreren Variablen und Differentialgleichungen sowie Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitstheorie. Beltrami zeigt, wie weit man mit diesen einfachen Mitteln kommen kann, ohne allzuviele Kompromisse zu machen. Jedes Kapitel beginnt mit einem Abschnitt, in dem das Handwerkszeug bereitgestellt wird. Hier beweist er viele der verwendeten Resultate – und zwar auf so gekonnte Art, daß sie auch dem weniger geübten Leser einleuchten.
Das Buch schließt in vieler Hinsicht eine Lücke zwischen mathematischen Darstellungen einerseits und übersimplifizierter Populärliteratur andererseits – und ist schon deshalb lesenswert. Bedauerlich ist nur, daß sich in die deutsche Ausgabe doch einige kleinere Fehler eingeschlichen haben. Die meisten sind harmlos, jedoch lassen Schreibfehler in Formeln gelegentlich stutzen, und die Übersetzung von "ever" mit "niemals" verkehrt die Definition der Wiederkehrwahrscheinlichkeit in ihr Gegenteil. In ausgleichender Gerechtigkeit ist eine Reihe von Fehlern des amerikanischen Originals in der Übersetzung berichtigt.
Unter dem Strich ist die Lektüre nur zu empfehlen: Sie ist ein lehrreiches Vergnügen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1995, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben