Werner Nachtigall:: Vorbild Natur. Bionik-Design für funktionelles Gestalten.
Springer, Berlin/Heidelberg 1997. 176 Seiten, DM 39,80.
Werner Nachtigall ist seit 1969 Direktor des Zoologischen Instituts an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Insbesondere in Gestalt der Forschungs- und Ausbildungsrichtung "Technische Biologie und Bionik" hat er ein Leben lang an einer Brücke gebaut, die Technik und Natur verbinden sollte. Wegen der gelegentlich ablehnenden Haltung der deutschen Industrie gegenüber neuen Ideen war das allerdings kein leichtes Unterfangen.
Das Buch enthält 52 Unterkapitel auf nur 138 Textseiten. Schon daraus wird klar, daß Nachtigall nicht einen Einzelaspekt allseitig betrachten und wissenschaftlich beschreiben wollte. Vielmehr breitet er ein Mosaik von Fakten und Methoden aus, teils bereits zusammengesetzt, teils bunt und lose liegend; er ruft auf, doch endlich aus diesem Fundus gewachsener Erfindungen zu schöpfen. Statt eine tragende Struktur neu zu erfinden, kann man sie eben auch einem Baum oder einem Oberschenkelknochen abschauen – so geschehen bei der Betonrippendecke des alten Biologiehörsaals der Universität Freiburg (Seite 48).
Nachtigall zeigt uns eine Fülle biologischer Konstruktionen, die technischen teilweise zum Verwechseln ähnlich sehen: Die gestielten Saugnäpfe des Gelbrandkäfers gleichen denen eines Seifenhalters (Bild links), ein Stutzkäfer klappt seine Beine zusammen wie ein Taschenmesser (Bild rechts), Vorder- und Hinterflügel einer Wanze sind durch eine Kupplung verbunden wie Feldbahnwagen.
An anderer Stelle macht Nachtigall die wesentlichen Unterschiede zwischen technischem und biologischem Design deutlich: Die 0,2 Millimeter große Speichelpumpe der Rinderwanze enthält sämtliche Bauteile ihres technischen Gegenstücks: Zylinder, Kolben, Dichtungen, Ventile und einen Antrieb – aber nicht säuberlich getrennt, sondern ineinander übergehend.
"Integrierte statt additiver Konstruktion" ist das erste von zehn "Grundprinzipien natürlicher Konstruktionen", die Nachtigall aufstellt und sodann in "zehn Gebote bionischen Designs" wendet. Teilweise sind diese bereits fast zu Gemeinplätzen geworden wie "Energieeinsparung statt Energieverschleuderung" und "direkte und indirekte Nutzung der Sonnenenergie" oder sind technischem Denken ohnehin nicht fremd wie "Feinabstimmung gegenüber der Umwelt".
Prinzip 7 mag auf den ersten Blick überraschen: "zeitliche Limitierung statt unnötiger Haltbarkeit". In der Tat scheint es durchaus sinnvoll, die langlebigen Teile einer Konstruktion kurzlebiger und die kurzlebigen langlebiger zu machen, um eine homogene Alterung zu erreichen. Ideal ist demnach ein gleichzeitiges Versagen aller Teile – oder überhaupt kein Versagen.
Auch wenn sich die zehn Gebote teilweise überlappen, geben sie doch dem Entwickler in der Praxis genügend Denkanstöße. Er wird ohnehin nicht um eine Filterung der für ihn interessanten Gebiete herumkommen.
Eine besondere Rolle in diesem Buch spielen das Design und insbesondere dessen ästhetischer Aspekt. Viele biologische Formen sehen einfach schön aus und haben Generationen von Beobachtern zu Bewunderung und teilweise auch unkritischer Begeisterung hingerissen – was diesen Enthusiasten nicht unbedingt den Respekt der Techniker eingetragen hat. Nachtigall weist denn auch bei allem Sinn für Schönheit deutlich darauf hin, daß seine Wissenschaft nichts mit Naturschwärmerei zu tun hat.
Abgehobene biologische Studien, die für sich selbst erstellt dem potentiellen Anwender in der Industrie nicht die Hand eines Partners darreichen, bringen nichts. Ohne die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen gibt es keine Erfolge in der Bionik. Die Industrie wird sich nur dafür interessieren, wenn damit Geld zu verdienen ist – und auch das erst dann, wenn das mit den alten Ideen nicht mehr geht.
Wer aber ist nun die Zielgruppe dieses Buches? Vor wem hat der Autor all diese vielen bunten Mosaiksteinchen ausgebreitet? Nicht vor Fachkollegen; dazu geht es vielleicht zu wenig in die Tiefe. Vielmehr soll sich jeder, der in irgendeiner Weise an der Entwicklung von Konstruktionen beteiligt ist, hier Anregungen holen.
Und es wird Zeit, daß dies geschieht! In einem Lande, in dem noch Schrauben mit Spitzgewinde und hohen Kerbspannungen im Gewindegrund zum Lehrbuchwissen gehören, obwohl es kerbspannungsärmere oder gar -lose, biologisch inspirierte Kerbformen gibt, scheint die Industrie in einem Dornröschenschlaf zu liegen. Ob dieses Buch sie wachküßt, mag die Praxis zeigen – charmant genug ist es wohl. Auf jeden Fall ist es ein weiterer Versuch, den klassischen Konstrukteur von seinem Trampelpfad zu locken, an dessen ausgetretenen Rändern längst alle Blumen der Kreativität verblüht sind.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1998, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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