Gesellschaft: Ware Mensch - die neue Sklaverei
In den Schattenzonen der Weltwirtschaft blüht der Menschenhandel. Trotz internationaler Ächtung werden immer mehr Unschuldige zum rechtlosen Besitz.
Mit dem Wort Sklaverei verbinden kultivierte Europäer vermutlich Bilder von Menschenmärkten im antiken Rom, von geknechteten Schwarzen auf amerikanischen Baumwollfeldern oder jüdischen Zwangsarbeitern in deutschen Fabriken. Wie weit auch immer der Blick in die Vergangenheit schweift: Sklaverei gilt als überwunden und steht nicht auf der Liste der dringenden Probleme dieser Welt.
In Wirklichkeit grassiert der Menschenhandel wie eine Epidemie, dabei aber oft in einer modernen Form, die meines Erachtens die Bezeichnung "neue Sklaverei" rechtfertigt: Weit entfernt von jeder Onkel-Toms-Hütte-Romantik sind Menschen heutzutage nicht mehr nur Ware, sondern oft sogar Wegwerfprodukt, das nur einem Zweck dient: dem Profit.
Dabei haben sich durchaus auch traditionelle Formen erhalten, wie die Inderin Meera erfahren musste. Ihr kleines Dorf in den Bergen des Bundesstaates Uttar Pradesh war noch vor drei Jahren ein Dorf von Sklaven. Damals kam zufällig ein Sozialarbeiter vorbei und entdeckte das schreckliche Geflecht erblicher Schuldknechtschaft. Es mag zur Zeit der Großväter oder ihrer Urgroßväter gewesen sein – nur wenige im Dorf konnten sich daran erinnern –, doch irgendwann in der Vergangenheit hatten die Familien Geld leihen müssen, um ihr Überleben zu sichern. Im Gegenzug verpflichteten sie sich zu unbezahlte Arbeit, erhielten künftig lediglich ein paar Rupien, um Reis zu kaufen. Diese "Schuld" wurde von Generation zu Generation weitervererbt. Fünfjährigen drückten die Gläubiger bereits einen Hammer in die Hand und ließen sie im Steinbruch Felsbrocken zu Sand zermahlen. Staub, umherfliegende Steinsplitter und das Tragen schwerer Lasten machten die Dorfbewohner krank, verursachten Silikose (Staublunge), ruinierten Augen und Rücken.
Der Sozialarbeiter ersann einen radikalen Plan: Wenn sich zehn der Frauen bereit fänden, vom Hungerlohn pro Woche eine Rupie beiseite zu legen, würde er ein Startgeld beisteuern und für die Sicherheit des Ersparten sorgen. Meera gehörte zu den Mutigen. Drei Monate später hatte die Gruppe genug gespart, um sie als Erste auszulösen. Von nun an wurde Meera für ihre Arbeit bezahlt und konnte entsprechend mehr Geld zur gemeinsamen Kasse beisteuern. Acht Wochen später kam die zweite Frau frei, nach weiteren vier die dritte.
Als die übrigen Gruppenmitglieder ihre Freiheit schon in greifbarer Nähe sahen, erklärten sie kurzerhand jegliche Schuld für nichtig. Ihre "Besitzer" ließen sich das nicht gefallen und drohten den Frauen Gewalt an, doch vereint hatten diese den Mut zu widerstehen. "Ihr könnt mich töten, aber nicht wieder in die Sklaverei zwingen", verkündete eine von ihnen. Als sie aus den Steinbrüchen verjagt wurden, suchten die Frauen bezahlte Arbeit. Bald formierten sich neue Gruppen, um die Freiheit zu erlangen. Ich hatte Gelegenheit, den Sozialarbeiter zweimal in Meeras Dorf zu begleiten; beim zweiten Besuch waren alle Einwohner frei und die Kinder gingen zur Schule.
Nicht immer finden solche Aktionen ein glückliches Ende. Kaum hundert Kilometer von Meeras Ort entfernt lebt der Inder Baldev, auch er ein Sklave in Schuldknechtschaft. Als ich ihn 1997 zum ersten Mal traf, pflügte er gerade das Feld seines Herrn. Der nannte ihn "mein Halvaha", das bedeutet: "mein Pflugknecht". Zwei Jahre später traf ich Baldev wieder und erfuhr, dass er dank einer unerwarteten Erbschaft seine Schulden begleichen konnte. "Wir waren frei, alles zu tun, was wir wollten. Aber ich hatte nur noch Sorgen – was, wenn eines unserer Kinder krank würde? Wenn wir eine schlechte Ernte hätten oder die Regierung Geld von mir wollte? Der Landlord hatte uns jeden Tag Essen gegeben, jetzt nicht mehr. Nach einiger Zeit ging ich zu ihm und bat, mich wieder aufzunehmen. Ich musste kein Geld von ihm leihen, ich durfte auch so wieder sein Halvaha sein. Jetzt mache ich mir viel weniger Sorgen, denn ich weiß, was ich zu tun habe." Ohne finanzielle Unterstützung und ohne die Hilfe eines Sozialarbeiters sah sich Baldev den Anforderungen der Freiheit nicht gewachsen. Der einzige Vorteil, den er aus der Situation ziehen konnte, war: Seine Kinder müssen keine Erbschuld abtragen.
Standortvorteil Sklaverei
Es mag viele Leser überraschen, Schuldknechtschaft und andere Formen der Sklaverei auch im 21. Jahrhundert anzutreffen. Schließlich ist der Besitz von Menschen weltweit verboten. Und doch gibt es in zahlreichen Ländern Sklaven wie Baldev, die mit Leib und Leben einem anderen gehören. Ihre Zahl kann nur geschätzt werden – anhand der Zusammenschau zahlreicher Berichte staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen gehe ich von weltweit etwa 27 Millionen Sklaven aus (siehe Karte Seite 28/29). Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge werden etwa vier Millionen Menschen alljährlich von organisierten Banden in andere Länder verkauft; der Reingewinn dieser Unternehmungen dürfte bei rund sieben Milliarden Euro liegen.
Die meisten Sklaven gibt es in der Dritten Welt, wo Armut, Hunger und eine stetig wachsende Bevölkerung den Wert des Individuums mindern. Zudem begünstigen gesellschaftliche Normen und Traditionen dort oft den Menschenbesitz. Indirekt betrifft die zunehmende Sklaverei in Entwicklungsländern meines Erachtens auch uns Bürger westlicher Industrienationen. Wenn multinationale Konzerne Produktionsstätten in Billiglohnländer verlegen, dann verdanken sie die niedrigen Standortkosten dort vermutlich oft auch der Sklavenarbeit: Leibeigene produzieren billigen Reis für die Arbeiter der Chip- oder Bekleidungsfabriken, unfreie Prostituierte dienen ihnen als Konsumgut. Allerdings gibt es zu diesem Aspekt der Globalisierung noch keine Daten.
Doch selbst in Europa gibt es den Menschenhandel über Staatsgrenzen hinweg, von Schleuserbanden mit Profit betrieben. In der Hoffnung auf ein besseres Leben haben viele Opfer sogar teuer für den Schleuserdienst bezahlt, werden aber im Ankunftsland zur Prostitution gezwungen. Eine andere Spielart kennen wir aus England und Frankreich: Betuchte Familien aus Ländern, in denen Sklaverei praktiziert wird, bringen "Hausbedienstete" mit nach Europa, die hier den Launen und Schlägen ihrer Herrschaft ausgesetzt sind, bis sie aktenkundig und befreit werden. Das Schicksal all dieser Menschen hat staatliche und nichtstaatliche Organisationen auf den Plan gerufen, unter anderem den Vatikan, die Vereinten Nationen, die Internationale Organisation für Migration (IOM) und Amnesty International. Die Regierung der USA bündelte vor zwei Jahren ihre Aktivitäten im Kampf gegen den illegalen Menschenhandel in einer zentralen Koordinationsstelle. An den Universitäten haben sich Sozialwissenschaftler des Themas angenommen und ersetzen die eher anekdotenhaften Reportagen von Journalisten durch fundierte Studien. Urs Peter Ruf von der Universität Bielefeld beispielsweise dokumentierte die Entwicklung der Sklave-Herr-Beziehungen im heutigen Mauretanien (Interview Seite 30/31). Louise Brown von der Universität Birmingham (England) beleuchtet die Situation von zur Prostitution gezwungenen Frauen in Asien. David Kyle von der Universität Kalifornien in Davis widmet sich zusammen mit Rey Koslowski von der Rutgers-Universität der Soziologie des Menschenschmuggels. Ich selbst arbeite an einer Theorie der globalen Sklaverei.
Häufig werde ich gefragt, ob die beschriebenen Praktiken denn tatsächlich als Sklaverei gelten sollen und nicht als eine Form extremer Ausbeutung. Darauf gibt es eine klare Antwort: Sklaverei bedeutete schon immer den totalen Entzug der Willens- und Wahlfreiheit unter Androhung von Gewalt, ob diese vom Sklavenhalter ausging oder vom Staat. Und genau diese Zustände treffen wir heute an. Einem Arbeiter auf der untersten Sprosse der ökonomischen Leiter mögen nicht viele Optionen offen stehen, doch eine bleibt ihm meist noch: Er kann ungestraft davonlaufen.
Zu den Kennzeichen der Sklaverei gehören auch ihre psychologischen Folgen für die Opfer. Selbst wenn keine Prügel oder andere körperliche Folter das Opfer unterwerfen, erlebt es eine derartige Erniedrigung, dass viele ehemalige Sklaven in der Freiheit gar nicht mehr lebensfähig sind. "Ich habe zuvor in Gefängnissen und mit Opfern häuslicher Gewalt gearbeitet, aber das war weit harmloser", erklärt die amerikanische Psychiaterin Sydney Lytton, die befreite Sklaven betreut.
Sklaverei ist zwar ein universelles, aber kein einheitliches Phänomen; an jedem Ort und zu jeder Zeit nimmt sie verschiedenartige Erscheinungsformen an. Die neue Sklaverei unterscheidet sich von der altbekannten. So gibt es keine Urkunden über den Menschenbesitz, denn schließlich ist er verboten. Aus demselben Grund fehlen Gesetze, die einen Minimalschutz der "Ware" vorschreiben. Den größten Unterschied aber zeigt eine Wirtschaftlichkeitsrechnung: Kostete ein Plantagen-Sklave in Alabama im Jahr 1850 nach heutigen Maßstäben "in der Anschaffung" etwa 30000 Euro, ist ein vergleichbarer Arbeiter heute schon für etwa 100 Euro zu haben.
Wie rentabel ist ein Sklave?
Doch nicht nur die Investitionen für Zwangsarbeit sind drastisch zurückgegangen: Dauerte es zwanzig Jahre, bis ein Sklave auf den Baumwollfeldern der Südstaaten im 19. Jahrhundert seinen Kaufpreis und seine Unterhaltskosten eingebracht hatte, amortisiert sich ein Zwangsarbeiter in Südasien heute schon nach zwei Jahren. Dieser dramatische Preisverfall veränderte auch die moderne "Sklavenhaltung". Bei so kurzen Zyklen besteht kein Anlass, sich um die Gesundheit der Unfreien zu kümmern oder älter werdende Sklaven zu versorgen. Nach den Regeln der globalen Marktwirtschaft hält ein Sklavenhalter seine Gesamtkosten gering und entledigt sich unrentabel gewordener Produktionsmittel – und das nicht immer durch Entlassung des Opfers in die Freiheit.
Für diese Entwicklung lassen sich verschiedene Gründe anführen. Eine Voraussetzung ist sicher das dramatische Anwachsen der Weltbevölkerung: Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sie sich verdreifacht. Damit wuchs auch die Zahl potenzieller Sklaven. Nährboden ist auch die wachsende Armut in der Dritten Welt, die nach einer aktuellen Studie der UN-Organisation für Industrielle Entwicklung weiter voranschreitet. Wo ein wirtschaftlicher Umbau der Entwicklungsländer vom Agrar- in ein Industrieland versucht wurde, gingen familiäre Bindungen und traditionelle soziale Netze verloren. Auch das begünstigt den Menschenhandel, beispielsweise verkaufen Eltern im Bergland Thailands ihre Töchter in die Bordelle im reicheren Flachland heute oft nicht aus existenzieller Not, sondern um sich beispielsweise ein Fernsehgerät leisten zu können. Ein Schlüsselfaktor für das Fortbestehen der Sklaverei ist zudem die faktische Gesetzlosigkeit in vielen Regionen dieser Welt. Überall dort, wo Politiker und Polizei untätig wegsehen, wenn die ihnen Anbefohlenen in die Sklaverei gepresst werden, nutzt ein gesetzliches Verbot wenig. Und nicht selten unterstützen korrupte Beamte diese illegalen Geschäfte sogar aktiv, treiben entlaufende Sklaven wieder zurück und bestrafen sie.
Eine weitere Gemeinsamkeit aller Formen der Sklaverei ist die psychische Manipulation der Opfer. Der Inder Baldev ist nur einer von vielen, der sich mit seinem Los abgefunden hat. Nach meinen Erkenntnissen ist vielen Opfern durchaus bewusst, dass sie zu Unrecht als Sklaven gehalten werden. Doch Zwang, Gewalt und psychischer Druck haben sie dazu gebracht, dieses Dasein zu akzeptieren. Das ist vielleicht eine Überlebensstrategie, denn nach dieser Unterwerfung wird permanenter körperlicher Zwang entbehrlich. Der Versklavte nimmt eine neue Identität an und betrachtet seine Situation als Teil eines normalen, wenn auch bedauerlichen Schicksals.
Im Nordosten Thailands begegnete ich dem Mädchen Siri. Eines Tages klopfte eine fremde Frau an die Tür ihres Elternhauses und versprach, der damals 14-Jährigen eine Arbeit zu besorgen. Als Vorschuss auf das zukünftige Einkommen der Tochter gab sie den Eltern 50000 Baht in bar auf die Hand (damals etwa 2000 Euro). Für das Doppelte wurde Siri dann an ein schäbiges Bordell verkauft. Einmal versuchte sie zu fliehen, da erhöhten die Menschenhändler ihre Schuldenlast. Außer der "Tilgung" musste das Mädchen eine monatliche Miete von 30000 Baht entrichten. Dabei verdiente es gerade mal 100 Baht pro Kunde.
Bei ihrer Ankunft im Bordell hatte Siri keine Vorstellung von der Prostitution. Das erste Mal kam einer Vergewaltigung gleich. In ihrer neuen Welt von Mächtigen und Machtlosen kamen Belohnung wie Bestrafung von derselben Quelle, dem Zuhälter. Eine Beziehung mit dem Zuhälter einzugehen, erweist sich für junge Frauen in Siris Lage häufig als gute Überlebensstrategie. Diese Männer sind Schwerverbrecher, doch sie verstehen sich nicht nur auf rohe Gewalt. Sie sind auch Meister im Schüren von Unsicherheit und Abhängigkeit.
Identität des Leidens
Dabei profitieren sie von den traditionellen thailändischen Geschlechterrollen – Frauen sollen gehorsam und nachgiebig sein. Sogar die Religion wird bemüht, um die Sklavinnen gefügig zu machen. Der Buddhismus thailändischer Prägung sieht in der Geburt als Frau ohnehin eine Strafe für Sünden in vorhergehenden Leben. Die Prostituierten wird nun glauben gemacht, sie sollten durch ihr Los für Verbrechen sühnen.
Um das Leben in der Sklaverei auszuhalten, definieren viele junge Frauen ihre Knechtschaft tatsächlich um in eine Pflicht oder gar eine Form der Buße. Ohne eine andere Wahl zu haben, akzeptieren sie ihre Rolle und die des Zuhälters. Manche dürfen dann sogar an Feiertagen ihre Familien besuchen. Für die Luden ist das eine hochwillkommene Public Relation: Die Mädchen auf dem Lande haben keinerlei Vorstellung von Prostitution und sehen nur die "westlichen" Kleider ihrer Verwandten – ihre Bereitschaft, freiwillig eine solche Arbeit anzunehmen, wächst. Siri selbst hatte zur Zeit meines Besuchs eine solche Schutzidentität angenommen: "Ich bin eine Hure."
Eine ähnliche Psychologie wirkt auch bei Haussklaven, die in Europa und Nordamerika für Diplomaten oder Manager aus afrikanischen und asiatischen Ländern arbeiten. Cristina Talens vom Komitee gegen Moderne Sklaverei engagierte sich mehrere Jahre lang für die Befreiung und Rehabilitierung solcher Sklavinnen, die im Gepäck ihrer Herrschaft nach Paris mitgereist waren. Den Körper zu befreien sei einfacher als den Geist zu befreien, so ihre Erfahrung: "Trotz täglicher Prügel, trotz schlechter Lebens- und Arbeitsbedingungen entwickeln Versklavte eine eigenartige mentale Integrität. Manche schätzen sogar Aspekte ihres Lebens, beispielsweise die Sicherheit oder die Klarheit ihrer Weltordnung. Wird die Ordnung gestört, gerät plötzlich alles durcheinander. Einige befreite Frauen wollten sich sogar umbringen. Wir hatten ihnen die tragende Säule ihrer Identität genommen. Plötzlich hieß es: Dein Leben ist verpfuscht. Fang noch mal von vorne an. Als hätten sie umsonst gelebt."
Freiheit des Leibes allein ist also noch keine wirkliche Freiheit. Als im Jahr 1865 die Sklaverei in den USA abgeschafft wurde, sah die US-Regierung keinerlei Rehabilitation vor. Vier Millionen Menschen wurden in eine am Boden liegende Wirtschaft entlassen, ohne Ressourcen und nicht einmal mit den nötigsten Schutzrechten ausgestattet. Man kann durchaus behaupten, Amerika leide noch heute unter den Folgen einer Sklavenbefreiung ohne entsprechende Rehabilitationsmaßnahmen.
Der Menschenrechtler Vivek Pandit von der indischen Organisation Vidhayak Sansad wird nicht müde zu betonen: Die eigentliche Befreiung geschähe im Kopf, Befreiung des Körpers allein führt in die Sackgasse – wie wir bei Baldev gesehen haben. Umgekehrt kann die Freiheit des Denkens am Anfang eines Weges stehen, der in die Befreiung des Körpers mündet – wie es bei Meera der Fall war.
Pandits Organisation hat ein Bildungsprogramm entworfen, das ehemalige Sklaven auf ein Leben in Freiheit vorbereiten soll. Es umfasst die Vermittlung von Grundwissen, um Neugier und Interesse an Details zu wecken; Rollenspiele zur Erarbeitung von Problemlösungsstrategien sowie Spiele zur Förderung von strategischem Denken und Teamarbeit. Diesem Training geht ein öffentliches Streitgespräch voraus, in dem der Arbeiter ausführlich von seiner Sklaverei berichtet und sie vor der versammelten Öffentlichkeit für nichtig erklärt. Die Freiheitserklärung wird aufgezeichnet und laut im Dorf verlesen.
Bürger zweiter Klasse
Zurzeit werden solche Modelle in Feldversuchen auf ihre Praxistauglichkeit getestet. Die Erfahrung aus diesen Programmen zeigt, das eine Kombination von wirtschaftlicher Unterstützung, Beratung und Bildung in eine stabile Unabhängigkeit führen kann. Doch diese Arbeit steckt noch in den Kinderschuhen. Noch liegt keine systematische Evaluation dieser Programme vor. Und kein Sozialwissenschaftler hat bislang die Beziehung zwischen Sklaven und Herren in der Tiefe ausgelotet.
Die Psychologie des Sklaven findet ihr Gegenüber in der des Sklavenhalters. Beide verbindet oft eine wechselseitige Abhängigkeit. Fast alle Sklavenhalter, die ich in Pakistan, Indien, Brasilien und Mauretanien getroffen und interviewt habe, waren Familienväter, die sich selbst als Geschäftsleute betrachteten. Diese Säulen der örtlichen Gesellschaft waren alle finanziell gut gestellt, sozial integriert und verfügten zudem über die besten Verbindungen zu Justiz und Politik. Sklaven zu halten gilt in jenen Regionen nicht als asozial. Wenn Ausländer dies anprangerten, verstünden sie Land und Leute nicht.
Wie können so angesehene Menschen derart schlimme Dinge tun? Ein Regierungsbeamter aus Baldevs Distrikt, der selbst Sklaven hält, sprach darüber freimütig: "Natürlich habe ich Sklaven. Ich bin ein Landlord, ich sorge für sie und ihre Familien, und sie arbeiten für mich. Wenn sie nicht draußen auf den Feldern arbeiten, dann machen sie bei mir Hausarbeit wie Wäsche waschen, Kochen, Putzen, Reparaturen, was halt so anfällt. Es ist doch ganz normal, dass Leute aus der Kol-Kaste für Vaishyas wie mich arbeiten (Kol ist der Stammesname eines dort unterdrückten Volkes, Vaishyas bezeichnet die Kaste der Landbesitzer und Händler. Die Redaktion). Ich gebe ihnen zu essen und ein kleines Stück Land, das sie bestellen können. Außerdem haben sie bei mir Geld geliehen; ich muss also zusehen, dass sie auf meinem Land bleiben, bis die Schuld bezahlt ist. Sehen Sie, ich bin wie ein Vater zu diesen Arbeitern. Es ist eine Vater-Sohn-Beziehung; ich beschütze sie und führe sie. Natürlich muss ich sie manchmal auch disziplinieren, wie es ein Vater auch tun würde."
Andere Sklavenhalter erzählten mir ähnliche Geschichten: Ihre Sklaven seien für sie wie Kinder, sie bräuchten Kontrolle und Fürsorge. Auch das Argument der Tradition wird angeführt: Die Sklaverei gebe es schon seit Menschengedenken, daher müsse sie der natürlichen Ordnung der Dinge entsprechen. Wieder andere sehen einfach eine Frage der Prioritäten: Sklaven halten zu müssen sei gewiss "eine unglückliche Sache", räumen sie ein, doch das Wohlergehen ihrer eigenen Familie hänge davon ab. Viele Sklavenhalter befreien sich von eventuellen moralischen Skrupeln, indem sie mehrere Managementebenen zwischen sich und den Sklaven einziehen. Ohne direkten Kontakt und Detailwissen um die Vorgänge entledigen sie sich der Verantwortung nach dem Prinzip "Was ich nicht weiß ..."
Um die Sklaverei wirkungsvoll zu bekämpfen, müssen deshalb auch Konzepte entwickelt werden, die dem Sklavenhalter Alternativen bieten. Nur dann wird auch den kriminellen Banden, die Menschen täuschen oder verschleppen, der Markt entzogen. Die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen erleichtern solche Ansätze nicht gerade. Es gibt zu viele offene Fragen: Welche Verbindungen bestehen zwischen Menschen-, Waffen- und Drogenhandel? Welchen Einfluss hat die Globalisierung der Weltwirtschaft auf die Ströme von Menschen, die über Kontinente hinweg verschoben werden? Wer an diesen Geschäften beteiligt ist, hat wenig Interesse daran, Daten preiszugeben. Schließlich könnte manch ein DVD-Player in den Regalen bleiben, würde bekannt, dass sein geringer Preis in irgendeiner Form der Sklavenhaltung zu verdanken ist.
Wenn es eine gute Nachricht gibt, dann die: Eine immer größere Öffentlichkeit kennt das Problem und verlangt Abhilfe. Hilfsfonds unterstützen den Kampf gegen das Elend der Kindersklaven,Anti-Sklaverei-Organisationen und Vertreter der Industrie versuchen zu kooperieren. Die Sklaverei grassiert und wie jeder Epidemie muss man ihr vehement entgegentreten.
Literaturhinweise
der überblick, Heft 1/2002. Dammtorstr. 21a (Hof), Postfach 305590, 20317 Hamburg.
Die neue Sklaverei. Von Kevin Bales. Antje Kunstmann Verlag, München 2001.
Global Human Smuggling: Comparative Perspectives. Von David Kyle und Rey Koslowski (Hgg.). Johns Hopkins University Press, 2001.
Ending Slavery. Hierarchy, Dependency and Gender in Central Mauretania. Von U. P. Ruf. Transcript Verlag, 1999.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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