Wartesaal im Weltraum
Bereits kurz nach Baubeginn ist das ehrgeizigste Projekt der Menschheit in Schwierigkeiten geraten. Doch mindestens genauso schwer wiegt das Problem, wie die bemannte Raumstation nach ihrer Vollendung genutzt werden soll.
Gleich zwei Reparaturtrupps waren letzten Mai im Weltraum unterwegs. Der eine kümmerte sich um einen Patienten, der an chronischer Altersschwäche leidet, der zweite um einen anderen, der schon besonderer Zuwendung bedarf, bevor er flügge geworden ist.
Die russische Raumstation Mir, die seit 14 Jahren die Erde umkreist, hatte in letzter Zeit durch Pannen von sich reden gemacht (Spektrum der Wissenschaft 7/98, S. 32). Seit einem Jahr verliert sie wegen eines Lecks in der Außenhülle auch noch Luft. Eigentlich sollte sie wegen akuter finanzieller Engpässe stillgelegt und kontrolliert zum Absturz gebracht werden. Doch nun machten sich die Kosmonauten Sergej Saljotin und Alexander Kaleri daran, einen Spezialkleber zu testen, mit dem die undichte Stelle in versiegelt werden kann. Ein privates Unternehmen hatte die Flick-Aktion finanziert.
Etwa zeitgleich begannen Juri Usatschew – der bereits mehr als ein Jahr auf der Mir zugebracht hatte – und sechs Kollegen aus den USA mit dringenden Wartungsarbeiten an der Internationalen Raumstation ISS (International Space Station). Die US-Raumfähre Atlantis hatte an der Station angedockt, die bislang nur aus zwei Komponenten besteht. Eigentlich hätten erst wieder Astronauten eintreffen sollen, nachdem das dritte Bauteil eingebaut war. Doch der Start dieses Service-Moduls namens Swesda (russisch für Stern) hatte sich immer wieder verzögert. Der Grund: Finanzprobleme des russischen Partners sowie zwei Fehlstarts der russischen Proton-Rakete, die als Träger vorgesehen ist.
Der Aufbau der Raumstation hinkt nun dem ursprünglichen Terminplan zwei Jahre hinterher. Zunächst waren die beiden ersten Komponenten, das zwölf Meter lange und 23 Tonnen schwere Grundmodul Sarja (russisch für Morgenröte) sowie das Verbindungsstück Unity Ende 1998 in die vorgesehene Umlaufbahn gebracht worden – ein Jahr später als geplant. Die weitere Verzögerung mit dem Start von Swesda brachte das gesamte Unternehmen jetzt in ernste Schwierigkeiten. Infolge der verstärkten Sonnenaktivität dehnte sich nämlich die Hochatmosphäre der Erde weiter in den Weltraum aus, was in der Umlaufbahn zu merklich höheren Reibungsverlusten führte. Deswegen verlor die Raumstation pro Woche rund zwei Kilometer an Höhe.
Swesda enthält außer dem ersten Wohnquartier einen Zentralrechner für die Station. Zudem verfügt das Service-Modul über ein eigenes Energieversorgungssystem, mit dem die Umlaufbahn hätte angehoben werden können. Weil die Situation bedenklich wurde, hatte sich die US-Raumfahrtbehörde Nasa zu einem außerplanmäßigen Shuttle-Flug entschlossen. Mit Hilfe der Atlantis-Triebwerke hob die Astronauten-Crew die Umlaufbahn um 40 Kilometer auf eine Höhe von 380 Kilometern an. Auch ersetzte sie defekte Batterien, korrigierte die Befestigung eines Krans und tauschte Rauchdetektoren und Feuerlöscher aus.
Der Start des russischen Service-Moduls ist für den Juli vorgesehen. Der weitere Aufbau der Raumstation folgt einem Plan, der bis Mitte 2001 neun Shuttle-Flüge und zwei Starts russischer Sojus-Raumschiffe vorsieht. Kann allerdings das Service-Modul nicht rechtzeitig ins All befördert werden, wird die Nasa im Dezember 2000 ein neuentwickeltes Interim Control Moduleals "Zwischenlösung" starten. Ferner diskutieren die an dem Projekt beteiligten Partner gegenwärtig einen von der Nasa erarbeiteten Plan, der den Einsatz des so genannten Propulsion Modulevorsieht. Dieses würde – unabhängig von den russischen Komponenten – eine permanente Flugbahnkontrolle ermöglichen.
Der größte europäische Beitrag, das Labormodul Columbus, wird Mitte 2002 fertig gestellt sein. Bis zu seinem Start – möglicherweise erst im Oktober 2004 – wird es eingelagert. Die Verzögerung hat allerdings auch Vorteile, denn bis dahin erhoffen sich die Raumfahrtmanager eine stärkere Beteiligung der Industrie an den Experimenten – und damit auch an den Kosten für den Betrieb der Station (siehe Interview). Nach Auskunft des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) wurden bisher 14 nationale Projekte erwogen, mit einem Gesamtvolumen von etwa 220 Millionen Mark. Der Anteil der Industrie daran beträgt rund 20 Prozent.
Nicht alle diese Projekte scheinen den gigantischen Aufwand für die Raumstation zu rechtfertigen. Manche nutzen sie lediglich als bequeme, permanent verfügbare Plattform, die dank ihrer Bahnneigung alle bewohnten Gebiete der Erde überfliegt. So hat ein deutscher Großkonzern ein intelligentes System zum Diebstahlschutz von Fahrzeugen entwickelt. Sensoren auf der Raumstation können aus rund 400 Kilometern Höhe den Aufenthaltsort von allen entsprechend ausgerüsteten Fahrzeugen bestimmen. Eine Uhrenfirma möchte die Station als Zeitzeichensender benutzen. Dessen Funksignale könnten weltweit empfangen werden, was die Möglichkeit neuer Produkte eröffnete.
Zu mangeln scheint es noch an kommerziellen Nutzungen für die speziellen Umgebungsbedingungen der Raumstation, insbesondere die Mikrogravitation. Mit dem Einwerben von Industriebeteiligungen wird das Projekt der Internationalen Raumstation denn wohl auch seine zweite Feuertaufe zu bestehen haben. Der Aufbau selbst ist die größte technologische Herausforderung, welche je in Angriff genommen wurde. Sollte es nicht gelingen, Anwendungen für das Weltraumlaboratorium zu finden, könnte es später ungenutzt auf seine Kunden warten. Dann würden 450 Tonnen Hochtechnologie-Schrott die Erde umkreisen, die mit einem Aufwand von rund 200 Milliarden Mark dorthin gebracht wurden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2000, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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