Moral : Macht der Identität
Ein Mann namens Jim stürzt bei einer Wanderung, schlägt mit dem Kopf auf und verliert das Bewusstsein. Als er im Krankenhaus aus dem Koma erwacht, hat er sich deutlich verändert. War er zuvor verschlossen, hinterhältig und egoistisch, so ist er jetzt umgänglich, aufrichtig und hilfsbereit. Ist Jim noch dieselbe Person?
Diese Frage stellten die Psychologin Nina Strohminger und der Philosoph Shaun Nichols ihren Testpersonen in einem Experiment. In fiktiven Szenarien verlor Jim dabei verschiedene Fähigkeiten und Eigenschaften: sein Faktenwissen, die Kontrolle über seinen Körper, Lebenserinnerungen oder eben seinen moralischen Charakter. Die Probanden sollten jeweils beurteilen, ob Jim »derselbe« geblieben sei. Ergebnis: Nur wenn er sich charakterlich stark veränderte, sagten die Probanden: »Das ist nicht mehr Jim!« Drastische Einschränkungen seines Gedächtnisses oder seines Wissens erachteten sie dagegen als unwesentlich.
Philosophen behandeln die Frage »Was macht jemanden über einen längeren Zeitraum zu derselben Person?« unter dem Schlagwort personale Identität. Als der englische Empirist John Locke im 17. Jahrhundert darüber nachdachte, betrachtete man mentale Eigenschaften, vor allem autobiografische Erinnerungen, als zentral für unsere Identität. Studien wie die von Strohminger und Nichols belegen jedoch, dass Laien das anders sehen. Sie machen die Identität eines Menschen an seinen Werten und an seiner Moral fest. Die Forscher begründen das so: Wir gehen Freund- oder Liebschaften mit Menschen ein, die unsere moralischen Überzeugungen teilen. Damit diese Beziehungen von Dauer sein können, muss die personale Identität eines Menschen von seinem Charakter abhängen ...
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