Der evolutionäre Ursprung von Krankheiten
Warum leidet die Spezies Mensch an Arteriosklerose, Angstzuständen oder gar Krebs? Eine Bewertung aus evolutiver Sicht zeigt, daß unsere Anfälligkeit für Krankheiten oft das Resultat einer biologischen Gratwanderung zwischen Vor- und Nachteilen ist.
Der Körper des Menschen macht ehrfürchtig Staunen – und zugleich Kopfschütteln. Das Auge zum Beispiel erscheint geradezu vollkommen: Seine Hornhaut aus durchsichtigem lebenden Gewebe hat genau die passende Wölbung, die Iris regelt als Blende die Helligkeit, und die Linse stellt sich auf die Entfernung ein, so daß alles in allem Licht in optimaler Stärke scharf auf die Netzhaut projiziert wird (Sehfehler einmal außer acht gelassen). Aber die Bewunderung weicht alsbald Ratlosigkeit: Allen sinnvollen Konstruktionsprinzipien zuwider durchqueren Blutgefäße und Nervenfasern die Netzhaut, erzeugen an ihrer gemeinsamen Durchtrittsstelle einen blinden Fleck.
Unser Körper steckt voller krasser Widersprüche dieser Art. So kommt auf jede vorzüglich konzipierte Herzklappe ein überflüssiger Weisheitszahn. Die Erbsubstanz steuert die Entwicklung der rund zehn Billionen Zellen, die einen erwachsenen Menschen ausmachen, läßt dann aber zu, daß der Körper stetig verfällt und schließlich stirbt. Unser Immunsystem kann Millionen verschiedene Fremdstoffe erkennen und zerstören, und dennoch sind viele Bakterien imstande, uns den Garaus zu machen. Man könnte meinen, unser Organismus sei von einem Team ausgezeichneter Ingenieure konstruiert worden, denen gelegentlich jemand vom Schlage eines Daniel Düsentrieb ins Handwerk gepfuscht hat.
In Wirklichkeit haben solche scheinbaren Widersinnigkeiten durchaus einen Sinn, allerdings nur, wenn wir uns mit der Frage befassen, woher die Verletzlichkeit unseres Körpers stammt, und dabei die weisen Worte des angesehe-nen russisch-amerikanischen Genetikers Theodosius Dobzhansky (1900 bis 1975) beherzigen: "Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Lichte der Evolution." Die Evolutionsbiologie ist die wissenschaftliche Grundlage der gesamten Biologie, und auf der wiederum fußt die gesamte Medizin. Gleichwohl, und das ist eigentlich verwunderlich, erkennt man erst jetzt allmählich die Evolutionsbiologie auch als Teilgebiet der medizinischen Grundlagenforschung an. Für das Studium medizinischer Fragen im Lichte der Evolution wurde der Begriff darwinistische Medizin geprägt.
In der medizinischen Forschung geht es größtenteils darum, die Ursachen einer Erkrankung zu erkennen und auf Heilung oder Linderung abzielende Therapiemöglichkeiten zu finden. Dabei stützt man sich traditionell auf die direkte Untersuchung der gegebenen anatomischen und physiologischen Mechanismen unseres Organismus. Die darwinistische Medizin dagegen fragt: Warum ist unser Körper allgemein so konstruiert, daß er beispielsweise für Krebs, Arteriosklerose, Depressionen oder Ersticken durch Verschlucken anfällig ist? Damit stellt sie die Forschung in einen breiteren Zusammenhang.
Die evolutionsorientierten Erklärungen für die Schwachpunkte unseres Körpers lassen sich erstaunlicherweise in wenigen Punkten zusammenfassen. Erstens sind manche sehr unangenehmen Beschwerden – wie Schmerzen, Fieber, Husten, Erbrechen und Angst – weder Krankheiten noch Fehler, sondern in Wirklichkeit Abwehr- und Schutzmechanismen, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben. Zweitens sind Konflikte mit anderen Organismen – ob nun Bakterien wie Escherichia coli oder räuberischen Tieren wie Krokodilen – einfach Bestandteil des Lebens. Drittens sind manche Umstände, darunter das Zuviel an Nahrungsfetten und die daher rührenden gesundheitlichen Probleme, so jungen Datums, daß die natürliche Auslese noch keine Chance hatte, überhaupt zu greifen. Viertens kann der Organismus Opfer eines Handels werden, bei dem er sich den Vorteil aus einem Merkmal um den Preis eines gleichzeitigen Nachteils erkauft. Ein Lehrbuchbeispiel hierfür ist das Sichelzell-Gen, das einen Defekt im roten Blutfarbstoff Hämoglobin bedingt, aber zugleich in gewissem Grade vor Malaria schützt. Und fünftens schließlich unterliegt die natürliche Auslese auch Beschränkungen und Zwängen, die zu nicht ganz optimalen Konstruktionsmerkmalen führen, wie im Falle des Säugetier-Auges.
Kein Problem, sondern Teil seiner Lösung
Wohl am ehesten als nützlicher Abwehrmechanismus erkennbar ist das Husten: Wer Fremdkörper wie Staub, Schmutz oder Bakterien nicht aus den Atemwegen befördern kann, stirbt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit an Lungenentzündung. Auch das Schmerzempfinden ist mit Sicherheit etwas Sinnvolles. Die wenigen Menschen, die es nicht haben, verspüren beispielsweise auch kein Unbehagen, wenn sie lange dieselbe Körperhaltung beibehalten; doch die unnatürliche Unbeweglichkeit beeinträchtigt die Zufuhr von Sauerstoff und Nährstoffen in den Gelenken – mit entsprechenden Folgen. Schmerzunempfindliche Menschen sterben meist schon als junge Erwachsene an Gewebeschäden und Infektionen.
Husten oder Schmerzen gelten zwar gemeinhin als Krankheit beziehungsweise Trauma. Doch in Wirklichkeit verkörpern sie nicht das Problem, sondern sind Teil seiner Lösung. Diese Schutz- und Abwehrmechanismen – ein Ergebnis natürlicher Auslese – springen bei Bedarf an.
Weniger bekannt ist, daß Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Ängste, Erschöpfung, Niesen und Entzündungen ebenfalls in diese Kategorie gehören. Selbst manche Ärzte wissen nicht um den Nutzen von Fieber. Es handelt sich dabei nicht einfach um das Resultat eines gesteigerten Stoffwechselumsatzes, sondern um eine sorgfältig gesteuerte höhere Einstellung des körpereigenen Thermostaten. Die höhere Temperatur erleichtert das Zerstören von Krankheitserregern.
Wie Matthew Kluger vom Lovelace-Institut in Albuquerque (Neu-Mexiko) gezeigt hat, machen sich selbst wechselwarme Tiere wie Eidechsen den Effekt zunutze. Bei einer Infektion suchen sie eine wärmere Stelle ihres Käfigs auf, bis ihre Körpertemperatur um mehrere Grad höher liegt als sonst. Hindert man sie daran, erliegen sie leichter dem Erreger. Ähnliches beobachtete Evelyn Satinoff von der Universität von Delaware in Newark bei älteren Ratten, die nicht mehr so hohes Fieber bekommen können wie ihre jüngeren Artgenossen; die Tiere suchten instinktiv eine wärmere Umgebung auf, wenn sie infiziert waren.
Ein weiterer verkannter Abwehrmechanismus ist das Absenken des Eisenspiegels im Blut, das oft im Zuge chronischer Infektionen auftritt. Ein solcher "Eisenmangel" wird gelegentlich für die Erkrankung selbst verantwortlich gemacht, ist aber in Wirklichkeit eine Gegenmaßnahme: Während einer Infektion hält die Leber das lebenswichtige Element fest, so daß bakterielle Erreger nicht mehr ausreichend damit versorgt werden.
Schwangere Frauen leiden oft unter morgendlicher Übelkeit. Sie wird als unangenehme Begleiterscheinung angesehen, tritt jedoch auffälligerweise in der Phase auf, in der sich das Gewebe des Fetus schnell differenziert und am ehesten durch Giftstoffe in seiner Entwicklung gestört werden kann. Wenn einer Frau übel ist, meidet sie gewöhnlich streng schmeckende, möglicherweise schädliche Kost oder Substanzen. Deshalb vermutete die selbständige Wissenschaftlerin Margie Profet in der Schwangerschaftsübelkeit eine Anpassung, die das ungeborene Kind vor Giftstoffen schützen hilft – und tatsächlich erlitten Frauen, denen häufiger übel war, seltener eine Fehlgeburt. (Dieser Befund stützt zwar die Hypothese, ist aber noch kaum ein schlüssiger Beleg. Wenn Margie Profet recht hat, sollten auch trächtige Weibchen vieler Tierarten ihre Nahrungspräferenzen ändern. Das ist noch zu prüfen – ebenso die aus der Hypothese zu folgernde Zunahme von angeborenen Defekten bei Neugeborenen, deren Mütter wenig oder gar nicht unter morgendlicher Übelkeit gelitten und deshalb während der Schwangerschaft eine breitere Palette von Lebensmitteln zu sich genommen hatten.)
Angstgefühl, eine weitere häufige Störung, entstand offenbar ursprünglich als Schutz vor gefährlichen Situationen, weil es das Flucht- und Vermeidungsverhalten fördert. Lee A. Dugatkin von der Universität Louisville (Kentucky) untersuchte 1992 den Nutzen dieser Emotion bei Guppies. Er stufte die kleinen Fische als ängstlich, normal oder mutig ein, je nachdem wie sie in Gegenwart von Schwarzbarschen reagierten. Die ängstlichen Individuen versteckten sich, die normalen schwammen davon, und die mutigen blieben an Ort und Stelle, behielten dabei den Räuber im Auge. Jede Gruppe wurde dann in ein Becken mit einem Barsch gesetzt. Zweieinhalb Tage später waren noch 40 Prozent der Angsthasen am Leben, aber nur 15 Prozent der bloß wegschwimmenden Tiere. Und die Mutigen endeten alle im Magen des Raubfisches – statt ihre Chancen zu erhöhen, die eigenen Gene weiterzugeben, hatten sie die des Barsches verbessert.
Die Auslese begünstigt hier also Gene, die ängstliches Verhalten fördern. Entsprechend sind auch Menschen mit zuviel Angst zu erwarten. Das Gegenteil – eine Hypophobie – sollte es ebenfalls geben, veranlagungsbedingt oder infolge angstlösender Medikamente. Wie dieses Krankheitsbild allerdings im einzelnen aussieht und wie häufig es auftritt, ist unklar, denn nur selten kommt jemand zum Psychiater, um über mangelnde Furchtsamkeit zu klagen. Aber wenn man sich die Mühe machte, nach krankhaft furchtlosen Personen zu suchen, fände man sie wohl in Notambulanzen und Gefängnissen.
Der Nutzen so häufiger Beschwerden wie Durchfall, Fieber und Angst ist nicht intuitiv erkennbar. Wenn die ihnen zugrundeliegenden Regelmechanismen ein evolutionär erprobtes Produkt sind – wie kann dann der Organismus sie ausschaltende Medikamente verkraften, ohne offenkundig Schaden zu erleiden? Eine Teilantwort lautet, daß wir uns damit manchmal sehr wohl einen schlechten Dienst erweisen.
Herbert L. DuPont von der Universität von Texas in Houston und Richard B. Hornick vom medizinischen Regionalzentrum Orlando haben dies für Durchfallerkrankungen untersucht, die von Bakterienarten der Gattung Shigella verursacht werden. Nach ihren Befunden blieben Patienten, die Medikamente gegen den wässrigen Stuhl einnahmen, länger krank als solche, die ein Placebo bekamen; auch die Gefahr von Komplikationen war größer.
Das Rauchmelderprinzip – besser zuviel als einmal zuwenig
Ein weiteres Beispiel hat Eugene D. Weinberg von der Indiana-Universität in Bloomington dokumentiert: Gut gemeinte Versuche, einen vermeintlichen Eisenmangel zu beheben, führten in manchen Teilen Afrikas zu einer Zunahme der Infektionskrankheiten, insbesondere solcher durch Amöben. Zwar dürften die meisten oral eingenommenen Eisenpräparate ansonsten gesunde Menschen mit lediglich banalen Infekten nicht nennenswert beeinträchtigen; doch sobald ein schlechter Ernährungszustand hinzukommt, können sie erheblich schaden. Dann bildet der Organismus nämlich nicht genügend eisenbindendes Protein, so daß Krankheitserreger im Blut sich frei mit dem für sie wichtigen Stoff bedienen können.
Was die morgendliche Übelkeit angeht, so wurde kürzlich ein sie bekämpfendes Medikament mit angeborenen Fehlbildungen in Verbindung gebracht. Offenbar hatte man nicht an die Möglichkeit gedacht, daß der Wirkstoff für den Fetus selbst unschädlich sein und dennoch mit Geburtsfehlern zusammenhängen könnte, weil er die schützende Übelkeit bei der Mutter hemmt.
Der evolutive Vorteil der verschiedenen hier erwähnten Abwehrmechanismen ist auch aus einem anderen Grund nicht ohne weiteres ersichtlich: Viele Menschen erleben regelmäßig Angst, Schmerzen, Fieber, Durchfall oder Übelkeit in Situationen, in denen solche Reaktionen offensichtlich wertlos sind. Erklärlich wird dies, wenn man die Regelprinzipien vor dem theoretischen Hintergrund der Signalerkennung analysiert.
Ein Giftstoff im Blut stammt unter Umständen aus dem Mageninhalt. Erbrechen befördert noch nicht Aufgenommenes hinaus, aber das hat seinen Preis. Falscher Alarm – Erbrechen, wenn in Wirklichkeit kein Toxin vorhanden ist – kostet den Organismus bloß ein paar Kalorien. Ein einziger versäumter Alarm dagegen – kein Erbrechen in Gegenwart eines Giftstoffs – kostet unter Umständen das Leben. Deshalb tendiert die Evolution selektionsbedingt zu Regelmechanismen mit überempfindlichen Auslösern. Es ist das gleiche Prinzip wie bei einem Rauchmelder: Wenn er eine schlafende Familie bei jedem Feuer zuverlässig weckt, löst er zwangsläufig auch falschen Alarm aus, wenn bloß der Toast anbrennt. Der Preis für den häufigen "Rauchalarm" im menschlichen Körper: eine Menge Beschwerden, die zwar völlig normal, aber in den meisten Fällen unnötig sind.
Dieses Prinzip erklärt zugleich, warum sich derartige Schutzeinrichtungen so oft ohne tragische Folgen medikamentös ausschalten lassen. Ihrem Anspringen liegen eben zumeist unbedeutende Bedrohungen zugrunde. Um bei dem technischen Bild zu bleiben: Die häufigen Warnmeldungen, die man durch Entfernen der Batterie aus dem Rauchmelder unterbindet, sind in ihrer großen Mehrheit falscher Alarm; deshalb mag eine solche Vorgehensweise durchaus vertretbar erscheinen – jedenfalls so lange, bis es einmal tatsächlich brennt.
Die natürliche Auslese kann uns zu keinem lückenlosen Schutz gegen alle Krankheitserreger verhelfen, weil deren Evolution gewöhnlich viel schneller verläuft als unsere eigene. Coli-Bakterien mit ihrer raschen Vermehrung haben an einem Tag so viele Gelegenheiten, sich durch Mutation und Selektion zu verändern, wie die Menschheit in einem Jahrtausend. Und unsere Abwehrmaßnahmen, ob natürlich oder künstlich (in Form von Antibiotika etwa), üben einen hohen Selektionsdruck aus. Krankheitserreger müssen schnell dagegenhalten, sonst sterben sie aus.
Nach einem Vorschlag des Biologen Paul W. Ewald vom Amherst-College (Massachusetts) sollte man die Begleiterscheinungen einer Infektion danach einteilen, wem sie nützen: dem befallenen Organismus, dem Erreger, beiden oder keinem davon. Nehmen wir beispielsweise die laufende Nase bei einer Erkältung. Der abgesonderte Schleim könnte entweder eingedrungene Erreger hinausbefördern oder die Übertragung auf einen neuen Wirt beschleunigen oder beides zugleich tun (siehe Paul W. Ewald, "Die Evolution der Virulenz", Spektrum der Wissenschaft, Juni 1993, Seite 40). Um Aufschluß zu erhalten, wäre zu prüfen, ob eine künstliche Hemmung der Nasensekretion die Krankheit verlängert oder verkürzt. Solche Studien gibt es allerdings bisher kaum.
Durch die Entwicklung von Antibiotika und Impfstoffen hat der Mensch im Kampf gegen Mikroben schon große Schlachten geschlagen. Die Triumphe folgten so rasch aufeinander und erschienen so vollständig, daß 1969 der Chef der amerikanischen Gesundheitsbehörde William H. Steward verkündete, es sei "an der Zeit, das Kapitel der Infektionskrankheiten zu schließen". Aber man hatte den Feind und die Wirksamkeit der natürlichen Auslese unterschätzt. Die nüchterne Realität lautet: Was immer Forscher an Pharmaka entwickeln – Erreger können sich offenbar daran anpassen. ("Der Krieg ist gewonnen", witzelte ein Wissenschaftler später, "und zwar von der anderen Seite.")
Rüstungsspiralen
Ein klassisches Beispiel für natürliche Auslese ist die Antibiotika-Resistenz. Besitzt ein Bakterium zufällig Gene, die es trotz Gegenwart eines Antibiotikums noch gedeihen lassen, vermehrt es sich schneller als seine Artgenossen und verbreitet dadurch die Merkmale rasch. Wie der Nobelpreisträger Joshua Lederberg von der Rockefeller-Universität in New York nachwies, können solche Gene sogar auf andere Bakterienarten übergehen – mit Stücken der DNA, auf der sie liegen (siehe "Gentransfer zwischen Bakterien in der Natur", Spektrum der Wissenschaft, März 1998, Seite 50). Mittlerweile sind in New York manche Stämme des Tuberkulose-Erregers gegen die drei wichtigsten bei dieser Krankheit gebräuchlichen Antibiotika resistent; wer sich mit ihnen ansteckt, hat keine bessere Überlebenschance als die Patienten vor hundert Jahren. Ein mehrfachresistenter Stamm, der sich an der amerikanischen Ostküste ausgebreitet hat, ist möglicherweise erstmals in einer Obdachlosenunterkunft gegenüber dem Columbia-Presbyterian-Hospital der Stadt aufgetreten – so die Erkenntnis von Stephen S. Morse von der Columbia-Universität. Wo immer ein hoher Selektionsdruck herrscht, der weniger widerstandsfähige Stämme schnell ausmerzt, muß man mit derartigen Effekten rechnen. Im Bereich eines Krankenhauses werden die überlebenden Bakterien geradezu auf Resistenz hin gezüchtet.
Viele Menschen, darunter auch manche Ärzte und Wissenschaftler, glauben nach wie vor an die veraltete Theorie, wonach Krankheitserreger nach langer gemeinsamer Entwicklung mit ihrer Wirtsart zwangsläufig für sie harmlos werden. Auf den ersten Blick erscheint dies logisch. Führt ein Erreger sehr schnell den Tod herbei, gelangt er unter Umständen nie in einen neuen Wirtsorganismus; deshalb sollte man meinen, eine geringe Gefährlichkeit wäre von Vorteil und durch die natürliche Auslese begünstigt. Als beispielsweise die Syphilis zum ersten Mal Europa heimsuchte, war sie eine höchst gefährliche Erkrankung; über die Jahrhunderte verlief sie dann immer milder. Die Virulenz eines Erregers ist jedoch ein Merkmal im Rahmen aller Anpassungen des Lebenszyklus; sie kann ab- wie auch zunehmen, je nachdem, was für die Verbreitung der Gene günstiger ist.
Für Krankheitskeime, die unmittelbar von einem Menschen zum anderen überspringen, hat eine geringere Virulenz gewöhnlich Vorteile, weil die infizierte Person aktiv und mit potentiellen Wirten in Kontakt bleiben kann (Schnupfenviren sind ein Beispiel). Manche Erreger aber, darunter die der Malaria, werden ebenso gut – oder sogar besser – weiterverbreitet, wenn das Opfer wehrlos darniederliegt. Sie sind meist auf Überträger wie blutsaugende Insekten angewiesen; deshalb kann eine hohe Virulenz ihnen einen Selektionsvorteil verschaffen. Aus diesem Prinzip ergeben sich unmittelbare Konsequenzen für die Infektionsbekämpfung in Krankenhäusern: Dort kann das Pflegepersonal, wenn es nicht jedesmal sorgfältig die Hände reinigt, Keime verschleppen und so für eine Selektion gefährlicher Stämme sorgen.
Bei der Cholera spielt die Trinkwasserversorgung die gleiche Rolle wie die Stechmücken bei der Malaria. Ist die Trink- und Waschwasser-Ressource durch die Ausscheidungen der bettlägerigen Patienten verunreinigt, fördert die Auslese tendentiell Cholera-Bakterien höherer Virulenz – weil vermehrte und heftigere Durchfälle die Ausbreitung auf dem Wasserwege erleichtern, auch wenn die einzelnen Kranken sehr schnell sterben. Bei verbesserten hygienischen Verhältnissen hingegen, so Ewalds Befund, arbeitet die Auslese gegen die klassischen Typen des Erregers und zugunsten des weniger gefährlichen Typs "El Tor". Dann nämlich wird ein toter Wirt zur Sackgasse, während ein halbwegs fitter und mobiler über einen viel längeren Zeitraum zahlreiche Personen anstecken kann und deshalb dem weniger virulenten Erreger besser nützt.
Ein ähnliches Beispiel betrifft die Bakterienruhr: Die aggressive Erregerart Shigella flexneri wird unter besseren hygienischen Verhältnissen von der eher gutartigen Spezies Shigella sonnei verdrängt.
Solche Überlegungen haben unter Umständen gesundheitspolitische Bedeutung, etwa auch im Falle von AIDS. Die Förderung von "Safer Sex" und das Bereitstellen sauberer Injektionsbestecke wird viele Menschen vor einer Infektion mit dem Human-Immunschwäche-Virus HIV bewahren. Der Evolutionstheorie zufolge darf man aber noch mehr erwarten: Wenn wir Menschen durch unser Verhalten dazu beitragen, daß HIV seltener übertragen wird, dann haben die Stämme, die ihren Wirt nicht binnen kurzem umbringen, auf lange Sicht einen Überlebensvorteil gegenüber den virulenten Varianten; denn letztere gehen mit dem Wirt zugrunde und verspielen damit jegliche weitere Chance, sich auszubreiten. Mit unseren kollektiven Entscheidungen können wir also die Natur von HIV verändern.
Die Konflikte mit anderen Lebewesen beschränken sich nicht auf Krankheitserreger. In früheren Zeiten war der Mensch stark durch Raubtiere gefährdet. Von wenigen Gebieten der Erde einmal abgesehen, geht heute die größere Gefahr von kleineren wehrhaften Lebewesen wie Spinnen und Schlangen aus, die sich mit ihrem Gift auch verteidigen. Mehr als alle unliebsamen Begegnungen selbst schadet aber vermutlich die zur Phobie übersteigerte Angst vor derartigem Kleingetier. Weit gefährlicher als räuberische oder giftige Tiere sind die Mitglieder unserer eigenen Spezies. Bei diesen Attacken geht es nicht um Fleisch als Beute, sondern um Paarungspartner, Reviere oder andere Ressourcen. Gewalttätige Konflikte dominieren zwischen konkurrierenden jungen Männern, und daraus erwachsenen Organisationen, die solche Ziele fördern. Ähnlichen Zwecken dienen die mit gewaltigem Aufwand unterhaltenen Armeen, die sich üblicherweise wiederum aus jungen Männern rekrutieren.
Selbst aus den intimsten zwischenmenschlichen Beziehungen erwachsen noch medizinisch relevante Konflikte. Eine Mutter und ihr Säugling mögen beispielsweise anfangs übereinstimmende Fortpflanzungsinteressen im evolutiven Sinne haben, aber diese gehen schon bald auseinander. Robert Trivers von der Universität von Kalifornien in Santa Cruz hat dies schon 1974 in einem mittlerweile klassischen Aufsatz dargelegt. Sobald ein Kind wenige Jahre alt ist, wäre den genetischen Interessen der Mutter (also der Weitergabe ihrer Gene) wohl am besten mit einer erneuten Schwangerschaft gedient, während der Nachwuchs von ungeteilter Fürsorge am meisten profitieren würde. Doch schon im Mutterleib gibt es widerstreitende Interessen. Aus der Sicht der Schwangeren ist die optimale Größe des Fetus ein wenig geringer als die, welche dem ungeborenen Kind und dem Vater am meisten nützt (was den Gesamtfortpflanzungserfolg anbelangt). Daraus resultiert – so David Haig von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) – ein heftiges Tauziehen zwischen Fetus und Mutter um Blutdruck und Blutzuckerspiegel, und das führt manchmal während der Schwangerschaft zu Bluthochdruck und Diabetes.
Mit Neuem zurechtkommen
Jede Visite in einem modernen Krankenhaus zeigt das gleiche traurige Bild: Am häufigsten sind Krankheiten, die wir uns selbst zuzuschreiben haben. Herzinfarkte zum Beispiel gehen meist auf Arteriosklerose zurück, die sich erst in diesem Jahrhundert zu einem verbreiteten medizinischen Problem entwickelt hat und bei Jäger- und Sammlerkulturen nach wie vor selten ist. Aus epidemiologischen Studien ergeben sich einfache Regeln zum Vorbeugen: weniger Fett, viel Gemüse und täglich intensive körperliche Betätigung. Aber die Fast-FoodKetten in den USA florieren, fettar-me Lebensmittel sind Ladenhüter, und Heimtrainer verkommen landauf landab zu teuren Kleiderständern. Bereits ein Drittel aller Amerikaner hat ausgesprochenes Übergewicht, Tendenz steigend. In Deutschland sieht es nicht viel anders aus. Wir wissen alle, was gut für uns ist. Warum leben dann so viele ungesund?
Unsere Entscheidungen trifft ein Gehirn, das auf die Bewältigung einer ganz anderen Umwelt als der heutigen zugeschnitten ist. In den afrikanischen Sa-vannen, wo der anatomisch moderne Mensch entstand, waren Fett, Salz und Zucker rar und kostbar. Wer dazu neigte, Fettes in Mengen zu konsumieren, sobald sich die seltene Gelegenheit bot, hatte einen Selektionsvorteil. Solche Menschen überlebten eher Hungersnöte, an denen die schlankeren Artgenossen starben. Und wir, ihre Nachkommen, gieren immer noch nach Nahrungskomponenten, die heute in den reichen Nationen alles andere als knapp sind. Diese evolutionär entstandenen Gelüste obsiegen leicht über Vernunft und Willenskraft. Angeheizt werden sie noch durch die Werbung konkurrierender Lebensmittelhersteller, die selbst überleben, indem sie uns alles, was wir wollen, in immer größeren Mengen verkaufen. Es ist schon eine Ironie des Schicksals: Jahrhundertelang hat der Mensch den Traum eines Landes zu realisieren versucht, in dem fast buchstäblich Milch und Honig fließen, und nun muß er erkennen, daß sein Erfolg auch viel Krankheit und unnötig frühen Tod verursacht.
Zunehmend leichter sind auch viele Arten von Suchtmitteln zu haben; vor allem auf das Konto von Alkohol und Tabak geht ein hoher Anteil Erkrankungen und vorzeitiger Todesfälle, mit entsprechenden Kosten. Zwar haben immer einzelne Menschen psychoaktive Drogen benutzt, aber zu einem breiten Problem wurde das erst mit weiteren Errungenschaften: leicht verfügbaren hochkonzentrierten Wirkstoffen sowie neueren, direkteren Methoden zu ihrer Verabreichung, insbesondere Injektionen. Die meisten Suchtmittel, darunter Nikotin, Kokain und Opium, entstammen Pflanzen, die sich damit gegen schädliche Insekten schützen. Weil der Mensch ein gewisses entwicklungsgeschichtliches Erbe mit den Insekten teilt, wirken viele dieser Substanzen auch auf sein Nervensystem. Wenn die Interaktionen zwischen Drogen und unserer Hirnchemie derart alte Wurzeln haben, so ist die Annahme naheliegend, daß alle und nicht nur gestörte Menschen oder Gesellschaften für die Gefahren psychoaktiver Stoffe anfällig sind. Auf diese Interaktionen selbst wie auch auf ihre entwicklungsgeschichtliche Entstehung konzentrieren sich derzeit zahlreiche Forschungsarbeiten; denn aus einem detaillierteren Verhältnis könnten sich durchaus bessere Behandlungsmöglichkeiten für Drogensüchtige ergeben.
Veränderungen in Umwelt und Lebensweise müssen auch größtenteils für den erst in relativ neuer Zeit rapide zunehmenden Brustkrebs verantwortlich sein; erbliche Genfehler allein bedingen nur wenige Fälle. Wie Boyd Eaton und seine Kollegen von der Emory-Universität in Atlanta (Georgia) berichten, erkrankt in heutigen "nicht-modernen" Kulturkreisen im Vergleich zu den USA nur ein winziger Bruchteil der Frauen daran. Ein entscheidender Risikofaktor ist nach ihrer Hypothese der Zeitraum zwischen der ersten Menstruation und der ersten Schwangerschaft, des weiteren die Gesamtzahl der Menstruationszyklen während des Lebens. In Jäger- und Sammlerkulturen setzt die erste Regelblutung ungefähr im 15. Lebensjahr oder noch später ein; binnen weniger Jahre folgt die erste Schwangerschaft, eine zweite dann bald nach den zwei bis drei Jahren Stillzeit. Frauen, die Kinder gebären, menstruieren in solchen Kulturen nur zwischen dem Ende der Stillzeit und der nächsten Schwangerschaft, und nur in dieser Spanne stellt sich der hohe Östrogenspiegel ein, der sich möglicherweise schädlich auf die Zellen der weiblichen Brust auswirkt.
In modernen Gesellschaften dagegen bekommen Mädchen schon mit zwölf oder dreizehn Jahren ihre erste Monatsblutung – vermutlich zumindest teilweise deshalb, weil der Fettkonsum so hoch ist, daß auch eine extrem junge Frau bereits einen Fetus ernähren könnte. Die erste Schwangerschaft dagegen folgt unter Umständen erst zehn Jahre später, wenn überhaupt. In Jäger- und Sammlerkulturen erlebt eine Frau während ihres Lebens vielleicht 150 Menstruationszyklen, in modernen Gesellschaften aber im Mittel 400 oder mehr. Zwar würde wohl kaum jemand einem weiblichen Teenager raten, schwanger zu werden, nur um Brustkrebs vorzubeugen, aber mit einem frühzeitig verabreichten Hormonstoß, der eine Schwangerschaft nachahmt, ließe sich womöglich das Krebsrisiko vermindern. Überprüft werden soll diese Idee in Versuchen, die derzeit an der Universität von Kalifornien in San Diego laufen.
Kompromisse und Zwänge
Anpassung ist immer mit Kompromissen verbunden. Wären unsere Armknochen dreimal so dick, würden sie fast nie brechen, aber uns zu einem schwerfälligen Geschöpf machen, das dauernd viel Calcium braucht. Ein noch empfindlicheres Gehör könnte bisweilen nützlich sein, aber dann würde die Geräuschkulisse der auf unser Trommelfell prasselnden Luftmoleküle uns von anderen Dingen ablenken.
Dieses Einhandeln von Nachteilen gegen einen Vorteil gibt es auch auf genetischer Ebene. Bietet eine Mutation unter dem Strich einen Fortpflanzungsvorteil, setzt sie sich gewöhnlich selbst dann in einer Population zu einem gewissen Prozentsatz durch, wenn sie für eine Krankheit anfälliger macht. Wer zum Beispiel zwei Exemplare des Sichelzell-Gens trägt, stirbt in jungen Jahren an der qualvollen als Sichelzellanämie bezeichneten Erbkrankheit. (Seine roten Blutkörperchen werden sehr leicht sichelförmig und verstopfen die Kapillargefäße, worauf Gewebe und Blut zerfallen.) Mit zwei Exemplaren des "normalen" Gens dagegen besteht ein hohes Risiko, einer eventuellen Ansteckung mit einer schweren Form der Malaria zu erliegen. Wer aber eines von jedem Typ besitzt, ist vor den tödlichen Folgen der Infektion geschützt, ohne an Sichelzellanämie erkranken zu müssen. In Malariagebieten sind solche Menschen im Darwinschen Sinne fitter als Angehörige der beiden anderen Gruppen. Obwohl also das Sichelzell-Gen bei dafür reinerbigen Nachkommen Krankheit verursacht, wird es in mischerbiger Form dort von der Auslese begünstigt, wo auch Malaria vorkommt (siehe "Malariaresistenz: Tödliche Gene als Lebensretter", Spektrum der Wissenschaft, Mai 1981, Seite 86). Wer kann da noch sagen, was in diesem Umfeld die "gesunde" Genvariante ist? Es gibt nicht "das normale Humangenom", sondern nur Gene.
Noch viele andere krankheitsverursachende Gene müssen – zumindest unter manchen Umweltbedingungen – in mischerbiger Form einen Nutzen geboten haben, sonst wären sie nicht so häufig. An der cystischen Fibrose (CF) beispielsweise, in Deutschland auch Mukoviszidose genannt, stirbt immerhin einer von 2500 Weißen europäischer Abstammung. Warum verschwinden dann die verantwortlichen Erbfehler nicht aus dem Genpool der Bevölkerung? Viele Jahre lang vermuteten die Fachleute, das CF-Gen müsse in mischerbiger Form wohl ähnlich wie das Sichelzell-Gen irgendeinen Vorteil bieten. Handfeste Stütze hierfür lieferte kürzlich eine Studie, die Gerald Pier und seine Kollegen an der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität durchgeführt haben: Wer ein Exemplar des CF-Gens besitzt, läuft nach ihren Befunden weniger Gefahr, sich mit Typhus anzustecken, einer Infektionskrankheit mit einer Sterblichkeit von einstmals 15 Prozent.
Das allerbeste Beispiel für einen genetischen Handel dieser Art dürfte das Altern sein. Einer von uns (Williams) äußerte 1957 die Vermutung, für Altern und selbst für Tod verantwortliche Gene könnten von der Auslese begünstigt werden, wenn sie auch andere Effekte hätten, die in der Jugend, wenn die Selektionskräfte größer sind, einen Vorteil böten. Man denke beispielsweise an ein hypothetisches Gen, das den Calcium-Stoffwechsel steuert und Knochen schneller heilen läßt, gleichzeitig aber zufällig für eine ständige Calcium-Ablagerung an den Arterienwänden sorgt; es könnte durchaus von der Selektion begünstigt werden, obwohl manche ältere Menschen daran sterben.
Die Einflüsse solcher pleiotroper Gene, also von Erbfaktoren mit mehreren Wirkungen, hat man bei Taufliegen und Mehlwürmern beobachtet, aber von Menschen kennt man bisher kein eindeutiges Beispiel. Besonders interessant in dieser Hinsicht ist allerdings die Gicht. Verursacht wird sie durch ein Zuviel an Harnsäure im Blut, die sich dann in kristalliner Form in den Gelenken ablagert. Die Substanz selbst ist aber ein hochwirksames Antioxidans, das ähnlich wie Vitamin C als Radikalfänger fungiert. Antioxidantien wirken der Alterung entgegen, und tatsächlich besteht bei verschiedenen Primaten ein enger Zusammenhang zwischen dem Harnsäurespiegel im Blut und der durchschnittlichen Lebenserwartung. Vielleicht sind hohe Harnsäurewerte für die meisten Menschen von Nutzen, weil sie die Alterung des Gewebes verlangsamen – einige Individuen allerdings zahlen dafür Tribut in Form von Gicht.
Andere Faktoren dürften eher zur rascheren Alterung beitragen. So bietet eine starke Immunabwehr zwar Schutz vor Infektionen, richtet aber im Gewebe zugleich ständig geringfügige Schäden an. Natürlich wäre auch denkbar, daß die meisten der für Alterung ursächlichen Gene in keiner Lebensphase vorteilhaft sind – sie haben bloß in der natürlichen Umwelt den Fortpflanzungserfolg nie so stark gemindert, daß die Auslese sie hätte ausmerzen können.
Im kommenden Jahrzehnt jedenfalls ist mit der Identifizierung einzelner, das Altern beschleunigender Erbfaktoren zu rechnen, und wenig später dürften Forscher auch Mittel und Wege gefunden haben, dem Wirken dieser Gene gegenzusteuern oder sie sogar zu verändern. Bevor wir aber daran herumspielen, sollte für jedes erst einmal geklärt werden, ob es nicht in einer frühen Lebensphase von Nutzen ist.
Da Evolution nur auf Vergangenem aufbauen und die Zeit nicht zurückdrehen kann, erlegen die bereits vorhandenen Strukturen konstruktive Zwänge auf. Wie eingangs erwähnt, ist das Auge der Wirbeltiere eigentlich verkehrt gebaut – mit der Netzhaut zum Augenhintergrund weisend. Das der Tintenfische dagegen hat diesen Fehler nicht: Seine Blutgefäße und Nervenfasern verlaufen an der Außenseite, dringen an den erforderlichen Stellen ein und fixieren die Netzhaut, so daß sie sich nicht ablösen kann. Die Schwachpunkte des menschlichen Auges sind schlichtweg Pech: Vor Hunderten von Jahrmillionen befand sich die Zellschicht, die bei den Wirbeltier-Vorfahren zufällig lichtempfindlich wurde, an einer anderen Stelle als die entsprechende bei den Vorfahren der Tintenfische. Somit entwickelte sich jede der beiden Konstruktionen auf ihre eigene Weise. Ein Zurück gibt es nicht.
Aus konstruktiven, entwicklungsgeschichtlich bedingten Zwängen erklärt sich auch, warum ein so simpler Akt wie das Schlucken für den Menschen lebensgefährlich sein kann. Die Wege, die Luft und Nahrung nehmen, überkreuzen sich, weil die Atemöffnung bei einem unserer fernen Vorfahren, einem frühen Lungenfisch, aus naheliegenden Gründen oberhalb des Mauls lag und in einen Hohlraum mündete, den auch die Nahrung passierte. Da die natürliche Auslese nicht bei Null anfangen kann, laufen wir Menschen heute Gefahr, uns zu verschlucken, so daß Nahrung die Luftröhre verstopft.
Die Auslese kann sogar in eine potentiell tödliche Sackgasse führen. Ein Beispiel ist der Wurmfortsatz, der Überrest eines Hohlraums, der unseren Vorfahren zur Verdauung diente. Da er dazu nicht mehr taugt, eine Infektion des Gewebes überdies tödlich enden kann, hätte man eigentlich sein völliges Verschwinden erwartet. So einfach ist die Sache allerdings nicht. Bei einer sogenannten Blinddarmentzündung preßt das geschwollene Gewebe die arteriellen Gefäße ab, die das Anhängsel mit Blut versorgen. Gute Durchblutung schützt vor der Vermehrung von Bakterien; darum fördert jede Verschlechterung die Infektion und trägt so zu weiterer Schwellung bei. Ist die Blutversorgung schließlich völlig unterbunden, haben die Bakterien freie Bahn und bringen den Wurmfortsatz zum Platzen. Bei einem schlanken Fortsatz kommt es besonders leicht zu einer solchen Kettenreaktion (siehe Abbildung auf der nächsten Seite). Paradoxerweise übt deshalb vielleicht gerade die Blinddarmentzündung den Selektionsdruck aus, der einen großen Appendix fortbestehen läßt. Wie die evolutionäre Analyse also zeigt, ist an unserem Körper bei weitem nicht alles vollkommen; vielmehr müssen wir mit einigen höchst leidigen Altlasten leben, und manche davon werden möglicherweise durch die Kräfte der natürlichen Auslese sogar aktiv erhalten.
Trotz der hohen Erklärungskraft der darwinistischen Lehre wird die Evolutionsbiologie erst jetzt allmählich als eine entscheidende wissenschaftliche Grundlage der Medizin erkannt. Die meisten Erkrankungen mindern die Überlebensaussicht, und deshalb mag es so scheinen, als ließe sich mit natürlicher Auslese nur die Gesundheit erklären, nicht aber das Gegenteil. Ein darwinistischer Denkansatz macht jedoch erst Sinn, wenn man nicht mehr die Krankheiten als solche zu erklären sucht, sondern die Merkmale, die uns für sie anfällig machen. Irrig ist zudem anzunehmen, die natürliche Auslese sorge für größtmögliche Gesundheit; vielmehr maximiert sie den Fortpflanzungserfolg von Genen. Erbfaktoren, die einen Körper mit größerem Fortpflanzungserfolg schaffen, werden häufiger, selbst wenn sie letztlich die Gesundheit des Individuums beeinträchtigen (siehe Kasten auf Seite 45).
Schließlich standen auch Geschichte und Mißverständnisse einer Anerkennung der darwinistischen Medizin im Wege. Eine evolutionsorientierte Funktionsanalyse mutet vielleicht auf den ersten Blick wie naive Teleologie oder Vitalismus an, die beide erst in neuerer Zeit unter größten Mühen aus dem medizinischen Denken verbannt wurden. Und sobald man Evolution und Medizin in einem Atemzug nennt, erhebt natürlich sofort das Gespenst der Eugenik sein Haupt. Neue, aus einer darwinistischen Betrachtungsweise resultierende Erkenntnisse darüber, inwiefern sich alle Menschen in ihrer Krankheitsanfälligkeit ähneln, werden für den einzelnen von großem Nutzen sein – aber daraus folgt nicht, daß wir versuchen können oder sollten, unsere Spezies zu verbessern. Wenn überhaupt, dann ist dieser Denkansatz eher eine Warnung: Scheinbare genetische Defekte könnten eine unerkannte adaptive Bedeutung haben; das "normale" Genom schlechthin gibt es nicht, und Vorstellungen von "Normalität" sind in der Regel eine unzulässige Übervereinfachung.
Die systematische Anwendung der Evolutionsbiologie auf die Medizin ist ein neues Forschungsfeld. Wie die Biochemie zu Beginn unseres Jahrhunderts, so wird sich wahrscheinlich auch die darwinistische Medizin in mehrere Richtungen weiterentwickeln müssen, bevor sie ihre Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit unter Beweis stellen kann. Wenn ihre Fortschritte nur aus den Arbeiten von Wissenschaftlern erwachsen, die aufgrund unzureichender finanzieller Unterstützung weder Daten sammeln noch ihre Vorstellungen überprüfen können, wird es noch Jahrzehnte dauern, bis daraus eine ausgereifte Disziplin wird. Institute für Evolutionsbiologie an den medizinischen Fakultäten würden dies beschleunigen, aber es existieren bisher nur wenige. Gäbe es für die Bewilligung von Fördermitteln Gutachtergremien mit Fachkenntnissen in Evolutionsbiologie, käme die Forschung schneller voran. Noch fehlen solche Gremien, doch rechnen wir beide mit ihrer Einsetzung.
Die evolutionäre Perspektive offenbart einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Krankheiten und normalen Körperfunktionen; sie kann weit auseinanderliegende Richtungen der medizinischen Forschung zusammenführen und auf ganz neue, bedeutende Arbeitsfelder verweisen. Ihre Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit werden der Evolutionsbiologie zur Anerkennung als ein Bereich medizinischer Grundlagenforschung verhelfen.
Literaturhinweise
Evolution of Infectious Disease. Von P. W. Ewald. Oxford University Press, 1994.
Darwinian Psychiatry. Von M. T. McGuire und A. Troisi. Harvard University Press, 1998.
Evolution in Health and Disease. Herausgegeben von S. Stearns. Oxford University Press, 1998.
Evolutionary Medicine. Von W. R. Trevathan und anderen. Oxford University Press (im Druck).
Warum wir krank werden. Die Antworten der Evolutionsmedizin. Von Randolph M. Nesse und George C. Williams. Beck, 1997.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1999, Seite 38
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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