Unfallforschung: Was steuert uns, wenn wir am Steuer sitzen?
Airbag löst nicht alle Probleme im Straßenverkehr: Forscher suchen nach den psychologischen Randbedingungen tödlicher Unfälle.
Ein erwachsener Mann befährt eine Strecke, die er seit langem täglich mehrmals zurücklegt. Obwohl er alle Kurven und Gefahrenpunkte genau kennt, kommt sein Fahrzeug von der Straße ab und prallt gegen einen Baum. Der Fahrer stirbt noch am Unfallort. Hatte er, übermüdet vielleicht, falsch reagiert? War sein Tempo zu hoch gewesen, sodass weder Knautsch-zone noch sonstige Sicherheitseinrichtungen sein Leben retten konnten? Oder haben diese Systeme versagt? Welche seiner Verletzungen waren letztlich tödlich?
Mit derartigen Fragen beschäftigen sich Ärzte, Verkehrspsychologen und Unfallanalytiker in Europa und den USA seit etwa fünfzig Jahren. Als Mittel der Forschung dienen Crashtests mit Leichen und Dummys (SdW 9/1997, S. 90 und 9/1999, S. 54) sowie »In-Depth-Investigation-Studies«. In diesen Erhebungen sollen alle Aspekte eines Crashs zusammengetragen werden, wie Wetterbedingungen, Straßengestaltung sowie Schäden an Insassen und Fahrzeug.
An der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald versuchen wir seit Januar 2001 erstmals in Europa, auch psychologische Aspekte der Unfallentstehung miteinzubeziehen. Zudem erfragen wir die Ergebnisse der medizinischen Behandlung von Verletzten. Ziel des Projekts ist eine effektive Unfallprävention.
Schon jetzt können wir sagen, dass mehr als neunzig Prozent aller tödlich verlaufenden Unfälle eine nahe liegende und doch von vielen verdrängte Ursache haben: zu schnelles Fahren. Dabei wurden nicht nur die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit berücksichtigt, sondern auch äußere Umstände wie Nebel oder Regen, die eine langsamere Fahrweise verlangt hätten. Betrachtet man die Gesamtheit aller Verkehrsunfälle, zeigt sich ein Unterschied der Geschlechter: Sind Männer die Schuldigen, waren sie meist schneller als erlaubt gefahren, während Frauen signifikant häufiger die Vorfahrt missachten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Auswertung der psychologischen Daten. Männer und Frauen unterscheiden sich nicht in ihrer allgemeinen Bereitschaft, Risiken einzugehen, wohl aber hinsichtlich der konkreten Ausprägung: Während Männer beim Autofahren eher Aufregung und Abenteuer suchen, wollen Frauen stärker Grenzen auszutesten: Lässt sich eine Kurve nicht doch etwas schneller nehmen als erlaubt? Ab welcher Geschwindigkeit beginnt der Wagen auszubrechen?
Auf einen Geschlechterunterschied deutet auch die bisherige Auswertung von Fragen zur Lebensqualität nach einem Unfall. Frauen klagen demnach häufiger unter körperlichen Beschwerden als Folge ihrer Verletzungen. Da ihnen das Unfallgeschehen öfter ins Bewusstsein tritt, als das bei Männern der Fall ist, wäre eine mögliche Deutung: Frauen fällt es schwerer, ihre psychische Traumatisierung zu verarbeiten,sie reagieren mit psychosomatischen Beschwerden. Weniger überraschen dürfte, dass Menschen, älter als 35 und Unfallopfer, die mehrere Verletzungen erlitten haben, häufiger über bleibende Einschränkungen der Lebensqualität klagen als jüngere beziehungsweise einfach verletzte.
Die vorläufigen Daten ermöglichen es uns bereits, das Ziel »Prävention« konkret anzugehen. Beispielsweise haben wir das Konzept entwickelt, durch einen speziellen Straßenbelag Autofahrer zur Verringerung der Geschwindigkeit zu veranlassen – fährt er schneller als die zulässige Höchstgeschwindigkeit, muss er Lärm und Vibrationen ertragen. Der Belag soll an Unfallschwerpunkten außerhalb geschlossener Ortschaften eingesetzt werden. Gelingt es, die Finanzierung sicherzustellen, wird das Institut für Straßenwesen der Technischen Universität Berlin diesen Belag entwickeln. Gemeinsam mit dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat, dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur sowie den Landesschulämtern wollen wir auch die Verkehrserziehung anhand unserer Studie verbessern. Wir denken beispielsweise daran, diese Unterweisung stärker auf Geschlecht und Alter abzustimmen. Verknüpft mit einer Gesundheits-, Sozial- und Sicherheitserziehung könnte ein solcher Unterricht auch benotet werden, um Leistungsanreize zu geben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2003, Seite 70
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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