Archäologie: Wer waren die ersten Amerikaner?
Es galt als sicher: Jäger folgten Mammutherden vor 13000 Jahren von Sibirien über die Bering-straße nach Amerika. Neuere archäologische Funde widersprechen diesem Standardmodell. Danach ist es nur eine These von mehreren. Jagten die Uramerikaner Fische statt Mammuts?
Südchile, vor 14700 Jahren: Eine Gruppe von ungefähr dreißig Männern, Frauen und Kindern siedelt für kurze Zeit an einem kleinen Bach. Diese Menschen werden dort bleiben, solange es genug Nahrung gibt – Wurzeln, Früchte und Wild. Wenn sie weiterziehen, lässt einer der Jäger eine blattförmige Speerspitze zurück, die Archäologen unserer Zeit entdecken werden. "Monte Verde" nennen sie diesen bislang ältesten Siedlungsplatz in Südamerika. Waren jene Pioniere wohlmöglich Nachkommen von Menschen, die vor mindestens 15000 Jahren über eine Landbrücke von Asien nach Nordamerika gelangten?
Kentucky in den USA, ein Kellerraum der Universität: Der Anthropologe Tom Dillehay, der Monte Verde in den siebziger Jahren freigelegt hat, breitet vor mir eine kleine Sammlung von Artefakten aus, darunter die erwähnte, eigentlich recht zierlich wirkende Speerspitze. Dillehay macht mich auf das Fragment einer anderen aufmerksam, die ihr sehr ähnelt. "Vielleicht wurden sie von derselben Person angefertigt", vermutet der Wissenschaftler.
Stunden, vielleicht sogar Tage, brauchte jener Mensch, um so ein Steinwerkzeug zu fertigen. Jede Speerspitze misst knapp 10 Zentimeter und ist 12 Millimeter stark. Selbst meinem ungeschulten Auge fällt die exzellente Verarbeitung auf: Völlig symmetrisch verläuft eine Reihe winziger Kerben und formt die scharfe Klinge.
Wann die ersten Menschen nach Amerika kamen, wird unter Anthropologen und Archäologen in den letzten Jahren lebhaft diskutiert. Die Datierung von Monte Verde widerspricht der bislang gängigen Annahme – vor etwa 14000 Jahren – und fand denn auch erst 1997 internationale Anerkennung. Doch einige wenige zweifeln nach wie vor. Sie werden es künftig nicht leicht haben: Aktuelle Ausgrabungen in Südamerika und im Osten der USA deuten darauf hin, dass die ersten Menschen sogar vor 20000 oder gar 40000 Jahren auf dem Kontinent eintrafen. Aus ihren Hinterlassenschaften rekonstruieren Forscher, wie diese frühen Amerikaner jagten und welche Pflanzen sie aßen.
Die herkömmliche Datierung lässt sich bis in das Jahr 1589 zurückverfolgen, als der in Südamerika wirkende Jesuitenmissionar José de Acosta postulierte, die Ur-Amerikaner müssten vor vielen tausend Jahren irgendwie von Sibirien nach Amerika gekommen sein. Diese These hatte Bestand, und zu Anfang des 20. Jahrhunderts war sich die Fachwelt weitgehend darüber einig.
In Clovis (Neumexiko) untersuchte Ridgely Whiteman vom Smithsonian Institut in Washington (D. C.) 1929 einen alten Siedlungsplatz und fand Speerspitzen mit zwei scharfen Kanten und Kerben oder Nuten an den Enden. Ihr Alter datierte man anhand von organischen Resten in den Fundschichten auf rund 13000 Jahre. Seitdem gruben Archäologen derartige Waffen in Kanada, den gesamten USA und in Mittelamerika aus. In manchen Teilen der Vereinigten Staaten, insbesondere in den Wüsten des Südwestens, sind sie fast so häufig wie Kakteen. Die Ähnlichkeit dieser Werkzeuge aus den verschiedenen Fundstellen ist so groß, dass ein gemeinsamer Kulturkreis nahe liegt; nach dem ersten Fundort nennt man ihn Clovis. Unter dieser Annahme erschien es nur vernünftig, auch von einer einzigen Besiedlungswelle kurz vor dieser Zeit auszugehen.
Mit ihren Speeren, so die bis vor etwa zehn Jahren gängige Theorie, jagten diese Vorfahren der Indianer Großwild wie das Wollmammut oder das Bison. Deren Fleisch lieferte reichlich Fett und Proteine, die wolligen Felle warme Kleidung. Im Gefolge der wandernden Herden könnten die Pioniere vor etwa 15000 bis 14000 Jahren über die damals trockenliegende Beringstraße Amerika betreten haben. Zu dieser Zeit waren die eiszeitlichen Gletscher gerade so weit zurückgewichen, dass sie einen Landweg durch Kanada freigaben. Innerhalb von etwa eintausend Jahren bahnte sich der Mensch seinen Weg durch ganz Nord- und Südamerika, von der Suche nach Nahrung vorangetrieben.
Diese Vorstellung von den mutigen Großwildjägern füllt seit Jahrzehnten Lehrbücher und wissenschaftliche Zeitschriften. Doch sie hat ihre blinden Flecken, wie mehr und mehr Wissenschaftler bemängeln. Dazu gehört David Meltzer, Anthropologe an der Southern Methodist University in Dallas (Texas). Allzu simpel scheint ihm das Klischee von den Mammutknochen kauenden Ur-Indianern: "Für kleine Gruppen von etwa 15 bis 30 Personen, eine für Nomadenvölker typische Größe, wäre die Mammutjagd als einzige Nahrungsquelle viel zu riskant gewesen. Kleinwild, Nüsse und Beeren, vielleicht auch Fisch und Schildkröten gehörten sicher auch auf den Speiseplan." Archäologen haben in Clovis-Ausgrabungsstätten tatsächlich Überreste von Rotwild, Kaninchen und Schlangen entdeckt. Doch leider bleiben die bei der Kleinwildjagd, dem Fischfang und dem Sammeln pflanzlicher Nahrung verwendeten hölzernen Werkzeuge, Netze und Körbe in aller Regel nicht so gut erhalten wie aus Stein gefertigte Artefakte.
13000 Jahre alte Körbe
Eine Ausnahme macht die Ausgrabungsstätte "Meadowcroft Rockshelter" südwestlich von Pittsburgh. Der Archäologe James Adovasio vom Mercyhurst College in Erie (Pennsylvania) fand dort in fast dreißig Jahren zahlreiche vergängliche Artefakte: Körbe, die einst vielleicht zum Transport pflanzlicher Nahrung genutzt worden sind, Teile von Fallen für Kleinwild und sogar knöcherne Ahlen zur Bearbeitung von Textilien und Leder. Das Alter dieser Funde schätzt der Wissenschaftler auf mindestens 12900 Jahre.
Doch von Anfang an kritisierten Fachkollegen seine Interpretation dieser Funde und zweifelten überdies am Alter der Ausgrabungsstätte. Einige vermuteten eine Kontamination der Erdschichten mit älterem Material, das dann zur Datierung genutzt worden sei. Dieser Vorwurf wurde 1999 von Paul Goldberg von der Universität Boston (Massachusetts) entkräftet.
Adovasio ärgert sich über die Art der Diskussion um seine Ausgrabungen: "Wir finden Nadeln aus Tierknochen, und die Leute sagen sofort: Na klar, damit wurde Leder genäht. Dabei sind diese Nadeln viel zu zerbrechlich, das sieht man doch." Die Knochennadeln müssten deshalb zum Nähen leichter Gewebe aus pflanzlichen Fasern gedient haben. Wozu diese benötigt wurden? "Viele machen den Fehler, dass sie denken, in der Eiszeit sei es immer kalt gewesen. Sie stellen sich vierzigtausendmal Januar vor, und vergessen ganz, dass es auch vierzigtausendmal Juli wurde", meint der Archäologe augenzwinkernd.
Und noch eine Schwäche des offiziellen, Mammutjäger-zentrierten Bildes vom Ur-Amerikaner: Es ignoriert Frauen, Kinder und ältere Menschen. Wer aber nähte wohl die Kleidung für die wärmeren Monate? Adovasio relativiert deshalb die Bedeutung der Speerspitzen: "Wenn wir uns nur mit Steinen befassen, entgehen uns 95 Prozent vom Leben dieser Menschen. Bei Jäger- und Sammlervölkern unserer Zeit beschaffen Frauen, Kinder und ältere Menschen den allergrößten Teil der Nahrung und fertigen Kleidung, Netze und Körbe. Warum sollte das bei den frühen Amerikanern anders gewesen sein?"
Noch ein blinder Fleck der Standardtheorie ist die Frage nach der Fortbewegungsweise der Clovis-Menschen. Margaret Jodry, Archäologin am Smithsonian Institut in Washington (D. C.) zweifelt am gängigen Bild einer "Völkerwanderung". Denn manche Fundstätten liegen beiderseits eines Flusses. "Wenn wir nicht annehmen wollen, dass die Leute jeden Tag hindurch geschwommen sind, mitsamt den Alten, Schwangeren, Kindern und Haustieren, müssen sie wohl Boote gehabt haben. Unwahrscheinlich ist das nicht, denn Wasserfahrzeuge gibt es auf der Welt seit mindestens 40000 Jahren – damals besiedelte der Mensch Australien." Zudem belegen Menschenknochen auf den Channel Islands vor der kalifornischen Küste, die nur etwas jünger sind als die ältesten Werkzeuge der Clovis, dass die ersten Amerikaner das Meer zu befahren wussten.
Clovis-Boote hätten wohl aus Tierhäuten oder Holz bestanden, also ebenfalls aus schnell vergänglichen Materialien, die sich nur selten erhalten haben dürften. Doch Jodry beobachtete nordamerikanische Indianer beim Bau von Fahrzeugen und identifizierte anhand ihrer Konstruktionstechniken mögliche archäologische "Marker": Beispielsweise könnte eine bestimmte Konfiguration von mit Steinen eingefassten Pfostenlöchern den Standort einer alten "Bootswerkstatt" anzeigen.
Als Reaktion auf diese neuen Fragestellungen und Hypothesen gehen Archäologen bei der Auswahl ihrer Grabungsorte und -methoden heute anders vor als noch vor ein paar Jahren. Einige nehmen sogar bereits abgeschlossene Grabungsprojekte wieder auf, um nach "Bootsmarkern" zu suchen. Und Funde wie die von Meadowcroft haben die Forscher veranlasst, ihr Augenmerk auch auf andere Dinge zu richten als nur auf Steine und Knochen. Beispielsweise fand Dillehay in Monte Verde Überreste von Tierhäuten, die vermutlich einmal als Zelt gedient haben, sowie geknotete Kordeln, die seiner Meinung nach zu deren Sicherung verwendet worden sind. Er rät seinen Kollegen, an völlig anders gearteten Orten nach Artefakten zu suchen als bisher: "In Höhlen und auf freien Flächen bleiben empfindlichere Artefakte selten erhalten. Monte Verde war ein Paradebeispiel, denn dort bedeckte eine Torfschicht vom nahe gelegenen Sumpf die Relikte und verhinderte, dass Luftsauerstoff sie angreifen konnte. Das heißt: Wir müssen nach feuchten Fundstätten Ausschau halten."
Ein neues Bild von den Ur-Amerikanern zeichnet sich ab und gewinnt durch die Erforschung vergänglicher Artefakte immer deutlichere Konturen: Vor vielen tausend Jahren kannten die Menschen ihre Umwelt und wussten sie zu nutzen. Sie verstanden sich nicht nur darauf, hin und wieder ein Mammut zu erlegen, sondern auch auf den Fischfang. Sie wussten, wo es genießbare Beeren gibt, stellten Kleidung und Körbe aus Pflanzenfasern her und bauten den örtlichen Gegebenheiten angepasste Boote.
Inzwischen geriet das Standardmodell der Ur-Amerikaner noch weiter unter Beschuss. Seit das Alter von 14700 Jahren für Monte Verde von der internationalen Archäologengemeinde akzeptiert worden ist, steht die ketzerische Frage im Raum, ob die Clovis denn wirklich als Erste Amerika erreicht haben. Mike Waters von der texanischen A&M Universität bietet zwei weitere Arbeitshypothesen an: Es gab schon vorher versprengte Grüppchen in Nordamerika, die aber so gut wie keine Spuren hinterließen. Oder eine bislang noch unbekannte Kultur bevölkerte große Teile des Kontinents und harrt der Entdeckung. Einige Wissenschaftler verlegen die Ankunft der ersten Menschen in Amerika mittlerweile auf 15000 bis 20000 Jahre vor unserer Zeit.
In diesem Zusammenhang wird auch der Weg des Menschen in die Neue Welt heftig debattiert. Sofern die frühen Amerikaner in Kanus und Kajaks durch den Kontinent kreuzten, wäre es dann nicht ebenso gut möglich, dass die ersten Siedler von vornherein in Booten statt über die Landbrücke ankamen? Diese Vorstellung wurde von Archäologen jahrzehntelang abgelehnt, findet in den letzten Jahren jedoch immer mehr Unterstützung. Denn ansonsten wäre die "Völkerwanderung" schon eher einem Volkslauf gleichgekommen: Um Monte Verde im Süden Chiles zu erreichen, mussten fast 20000 Kilometer zurückgelegt werden; doch erst vor 15700 Jahren war eine Durchquerung von Alaska und Kanada überhaupt möglich, zuvor bedeckte polares Eis das Land. Wenn nun die Siedlung von Monte Verde 14700 Jahre alt ist, blieb genau ein Jahrtausend für die gesamte Strecke. Zu Fuß wäre das Rekordzeit, durchaus vorstellbar hingegen bei einer Fortbewegung in Booten entlang der Pazifikküste.
Diese Möglichkeit vertritt der Archäologe Knut Fladmark von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby (British Columbia) seit den siebziger Jahren. "Mit Booten hätten die frühen Siedler den ganzen amerikanischen Kontinent sogar innerhalb von 100 Jahren durchqueren können. Rund 300 Kilometer in einem Monat zurückzulegen, halte ich für realistisch; wobei die Menschen zweifelsohne in den Wintermonaten eine Pause einlegten und vermutlich zudem an manchen Orten, die ihnen besonders günstige Bedingungen boten, für eine Generation verweilten."
So reizvoll Fladmarks Theorie auch klingt, sie wird nicht einfach zu beweisen sein. Als am Ende der Eiszeit die Gletscher abschmolzen und der Meeresspiegel stieg, wurden Tausende Quadratkilometer entlang der amerikanischen Pazifikküste überflutet. Alte Lagerplätze und Artefakte wären heute in der Tiefe verborgen.
Deshalb suchen kanadische Archäologen neuerdings auf dem Grund des Pazifiks nach Überresten. Mit Echoloten haben Daryl Fedje von der kanadischen Nationalparkbehörde und seine Kollegen den Meeresgrund abgetastet und versunkene Flusslandschaften entdeckt. Nun fischen sie mit Netzen nach Artefakten. Vor der Küste British Columbias hoben sie aus rund 50 Metern Tiefe 1997 ein kleines Steinwerkzeug, dessen Alter Fedje auf 10200 Jahre schätzt. Es liefert zwar den Beweis, dass einst Menschen auf dem heute versunkenen Land lebten, doch es sagt nur wenig über die damalige Kultur.
Zurück zu dem kunstfertigen Speerspitzenmacher von Monte Verde. Seine Vorfahren könnten es also innerhalb von nur 100 Jahren bis an die Südspitze Chiles geschafft haben, vorausgesetzt, sie bewegten sich auf dem Wasserwege fort. Aber praktisch gesehen hätte die Gruppe dann kaum Zeit gehabt, sich an ihre neue Umgebung anzupassen.
Und genau hier sieht Professor Dillehay einen ganz entscheidenden Unterschied zwischen Theorie und Realität: "Die Menschen, die vor 14700 Jahren in Monte Verde lebten", argumentiert er, "wussten genau, wo sie sich niederließen". Sie waren lange genug in der Region, um sich in einer erstklassigen Lage einzurichten: Nicht weiter als eine Stunde entfernt boten Feuchtgebiete reichlich essbare Pflanzen; das Meer und die ersten Ausläufer der Anden waren jeweils etwa einen Tagesmarsch entfernt. Ein solcher Ort im Einzugsbereich von drei nutzbaren Ökosystemen musste einfach mit Bedacht ausgesucht worden sein.
Dillehay fand eingetrocknete Seetang-Klumpen, die fast exakt die Form des menschlichen Mundraums aufweisen, sogar Abdrücke von Backenzähnen sind daran zu sehen. Vermutlich haben die Menschen sie wegen des hohen Jod-Gehalts gelutscht oder gekaut. Aus Funden von Mastodon-Knochen (einer ausgestorbenen Elefantenart) schließt der Archäologe, dass die Bewohner von Monte Verde Tieren in den nahen Sümpfen Fallen stellten. Mit deren Rippen-knochen gruben sie möglicherweise in den Feuchtgebieten nach Wurzeln und Knollen.
Solch genaue Kenntnisse seiner Umgebung erwirbt der Mensch nicht von heute auf morgen, sondern eher in mehreren Generationen. Wieviel Zeit genau vergehen musste, bis die Bewohner von Monte Verde zu diesem Wissen gelangt sein konnten, ist jedoch schwer abzuschätzen. Nur zweimal hat der moderne Mensch einen unbewohnten Kontinent besiedelt – Australien und Amerika –, daher stehen uns nur wenig Vergleichsmöglichkeiten zur Verfügung. Doch Dillehay sieht dieses Thema in einem größeren Kontext: "Im Industal und in China vergingen Zehntausende von Jahren bis zur Entwicklung komplexer Zivilisationen. Die Ur-Amerikaner wären das bemerkenswerteste Volk der Welt gewesen, wenn sie innerhalb weniger tausend Jahre eine Kultur begründet hätten." Er nimmt daher an, dass der Grundstein der menschlichen Zivilisation in Amerika schon vor 20000 Jahren gelegt wurde.
Unterstützung bekommt diese These auch von Forschern anderer Fachrichtungen: Die Linguistin Johanna Nichols von der Universität von Kalifornien in Berkeley hält diese Zeitspanne für die untere Grenze, um die ungeheure Vielfalt der ur-amerikanischen Sprachen hervorzubringen, möglicherweise seien sogar 30000 Jahre vonnöten. Ein ähnliches Argument basiert auf der genetischen Diversität der Ureinwohner: Die Genetiker Theodore Schurr von der Southwest Foundation for Biomedical Research in San Antonio (Texas) und Douglas Wallace von der Emory University in Atlanta (Georgia) folgern aus dem Vergleich von genetischen "Markern" der DNA bei heutigen indianischen und sibirischen Völkern, dass die Vorfahren der amerikanischen Ureinwohner Sibirien vor mindestens 30000 Jahren verlassen haben müssen.
Wenn diese Annahmen stimmen sollten, würde dies nicht allein unser Bild von der Besiedlung Amerikas, sondern von der Ausbreitung des Menschen überhaupt verändern. Denn vor etwa 50000 bis 60000 Jahren soll nach heutigem Kenntnisstand der so genannte moderne Mensch von Afrika nach Asien gelangt sein, er breitete sich in den folgenden Zehntausenden von Jahren bis nach Europa aus. Die erste Besiedlung Amerikas rückt damit in den Dunstkreis der Evolution des Menschen. War sie Teil der Migration aus der afrikanischen Urheimat?
Diese Meinung vertritt jedenfalls der Anthropologe Walter Neves von der Universität São Paulo (Brasilien) für den südamerikanischen Raum. Er untersuchte den 13500 Jahre alten Schädel einer erwachsenen Frau aus dem Südosten Brasiliens. Neves Befund: Der Schädel weise mehr Ähnlichkeiten mit der Physiognomie heutiger Afrikaner und australischer Aborigines auf als mit der moderner Asiaten oder amerikanischer Ureinwohner. Der Anthropologe schließt daraus und aus der Untersuchung von etwa fünfzig weiteren, auf 8900 bis 11600 Jahre datierten Schädelfunden, dass unter den frühen Bewohnern Amerikas auch Menschen so genannter nicht-mongolider Rassen gewesen sein müssen. An eine direkte Besiedelung von Afrika oder Australien aus glaubt er aber nicht, sondern an eine Absplitterung jenes Menschenzuges, der sich langsam durch Asien bewegte und schließlich Australien erreichte. Andererseits gibt es Fossilien, die beweisen, dass vor 9000 Jahren mongolide Gruppen in Südamerika auftauchten.
Auch in Nordamerika lebten möglicherweise Einwanderer, die über das Meer kamen. Das in Kennewick (Washington) 1996 gefundene, 9500 Jahre alte Skelett eines Mannes zeigt eher Merkmale der Polynesier oder japanischen Ainu als der indianischen Völker. Es hat ganz den Anschein, als sei die Neue Welt schon seit Jahrtausenden ein Schmelztiegel der Rassen und Kulturen gewesen. Jene legendären Eiszeitjäger waren vermutlich nicht die ersten frühen Einwanderer – und wohl auch nicht die einzigen.
Archäologen durchkämmen Alaska auf der Suche nach Relikten aus der Vergangenheit; Geologen versuchen, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die Gletscher den Einwanderern erstmals einen Weg in das Gebiet Zentralkanadas und der USA freigaben. In Cactus Hill, einer Fundstätte in Virginia, scheinen die Forscher Menschen auf der Spur zu sein, die zwar zur Clovis-Kultur gehört haben, aber dort schon vor 18000 Jahren lebten.
Vielversprechend ist auch Topper am Savannah-River. Dort gräbt der Archäologe Al Goodyear von der Universität South Carolina mit seinem Team unter einer bereits freigelegten Clovis-Fundstätte. In tieferen und somit älteren Sedimentschichten entdeckten die Wissenschaftler Artefakte, die sich völlig von denen der Clovis unterscheiden – kleine Steinklingen und Schabwerkzeuge, vermutlich zur Bearbeitung von Holz, Knochen und Horn –, hingegen keine einzige Speerspitze vom Clovis-Typ. Allem Anschein nach wurden die Sedimente von einem eiszeitlichen Fluss abgelagert, der auch im Bereich eines der Fundstätte nahe gelegenen Feuchtgebietes floss (die darüber liegenden Clovis-Schichten lassen sich geologisch deutlich abgrenzen). Direkt in der Siedlungsschicht haben sich leider keine organischen Reste erhalten, die zur Radiokarbondatierung dienen könnten. Proben aus dem Feuchtgebiet enthielten 25000 bis 18500 Jahre alte Pflanzenreste, stammten aber vermutlich aus einer noch tiefer liegenden Schicht. Nun bemühen sich Geologen, die zu Topper korrespondierenden Sedimente ausfindig zu machen, in der Hoffnung, darin datierbares Material zu finden. Zudem versuchen sie, die Veränderungen des Flussbettes im Laufe der Jahrtausende zu rekonstruieren, um daraus eine grobe Abschätzung auf das Alter der Vor-Clovis-Siedlung zu gewinnen.
Ähnliche Probleme haben auch andere Forscher. In Südamerika tätige Archäologen munkeln von möglicherweise 30000 Jahre alten Siedlungsplätzen. Unter ihnen ist auch Tom Dillehay, doch er bleibt vorsichtig und verweist darauf, dass diese äußerst kontroversen Datierungen erst noch durch weitere Funde aus eben jener Epoche bestätigt werden müssten.
Eine Frage werden die Wissenschaftler aber niemals klären können: Wie haben die ersten Siedler das Amerika ihrer Zeit erlebt? War ihnen bewusst, dass sie als Pioniere eine neue, menschenleere Welt durchstreiften? Und wenn dies der Fall war: Verspürten sie gelegentlich Entdeckerfreude oder ließ ihnen die Sorge um die tägliche Nahrung dafür keine Zeit? Für Dillehay ist der Fall klar. Für ihn waren diese Männer und Frauen Teilnehmer eines Abenteuers, das höchstens noch dem Aufbruch der Menschheit ins All vergleichbar wäre. "Wenn Menschen durch eine Gegend streiften, nutzten sie oft dieselben Höhlen und Felsdächer als Unterkunft wie andere vor ihnen, einfach weil diese sich dafür gut eigneten. Und jede Gruppe hinterließ ihre Spuren. Es muss Momente gegeben haben, wo die Pioniere an Orte kamen, die noch kein Mensch zuvor betreten hatte; wo ihnen bewusst wurde: "Wir sind die Ersten."
Literaturhinweise
Phantome aus der Frühzeit. Von Michael Parfit in: National Geographic Deutschland. Dezember 2000, S. 96.
The Puzzle of the First Americans. Discovering Archaeology, Special Report, Januar/Februar 2000, S. 30–75.
Radiokarbon-Daten müssen an den Kalender angepasst werden
Die ohnehin schon komplexe Frage, wann der Mensch erstmals amerikanischen Boden betrat, wird durch Datierungsprobleme weiter erschwert. Um das Alter von organischen Artefakten wie Knochen, Holzkohle oder Holz zu bestimmen, verlassen sich Archäologen im Allgemeinen auf die Radiokarbonmethode. Doch ein Radiokarbonjahr entspricht nicht immer einem Kalenderjahr.
Diese Art der Altersbestimmung basiert auf dem Umstand, dass alle Organismen Kohlenstoff zum Leben benötigen. Sie nehmen insbesondere zwei unterschiedliche Isotope davon auf: 14C und 12C (als Isotope bezeichnet man Varianten eines Elements, die dieselbe Anzahl von Protonen – bei Kohlenstoff immer sechs –, aber eine unterschiedliche Anzahl von Neutronen im Atomkern besitzen – hier acht und sechs). Solange ein Tier oder eine Pflanze lebt, entspricht das Verhältnis von 14C zu 12C in ihrem Gewebe demjenigen in der Atmosphäre. Stirbt der Organismus, nimmt es exponentiell ab, denn das erstere Isotop unterliegt radioaktivem Zerfall. Da die Zerfallsgeschwindigkeit des 14C bekannt ist, können Forscher das Alter eines Objekts bestimmen.
Dabei ist jedoch zu beachten, dass das Verhältnis der beiden Isotope in der Atmosphäre über die Jahrtausende nicht konstant geblieben ist. Unabhängige Zeitskalen auf der Basis von Baumringen, Eisbohrkernen und der Uranium-Thorium-Methode ermöglichen die Umrechnung von Radiokarbonjahren in Kalenderjahre.
Unglücklicherweise ist eine solche Kalibrierung gerade für den hier interessanten Zeitraum von 10000 bis 20000 Jahren vor unserer Zeit mit besonderen Schwierigkeiten verbunden; jahrelang präsentierten Archäologen daher unkorrigierte Radiokarbonjahre. Jüngste Forschungen haben die Datierung dieser Epoche jedoch entscheidend vorangebracht; alle Jahreszahlen in diesem Artikel sind bereits in Kalenderjahre umgerechnet.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2001, Seite 42
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