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Paläoanthropologie: Wer waren die ersten Hominiden?

Die Forschung war den Anfängen der menschlichen Evolution noch nie so nah. Doch Anthropologen streiten, ob der neu entdeckte, 7 Millionen Jahre alte Schädel aus dem Tschad vom Urahn der Hominiden stammt.


Behutsam hebt Michel Brunet den steinernen Schädel aus der gepolsterten Metallbox mit dem Vorhängeschloss. Wie ein rohes Ei platziert er das wertvolle Stück vor mich auf den Tisch. "Das ist jetzt der Allerälteste", bemerkt er dazu leise, "der erste Hominide!"

Der bräunliche Schädel, den die Wissenschaftler aus vielen halb zerbröselten Einzelteilen zusammengesetzt haben, ist kaum größer als eine Kokosnuss. Mit der nur wenig vorspringenden Schnauze und den auffallend kräftigen Überaugenwülsten, welche die Augenhöhlen verschatten, wirkt dieses Gesicht auf mich zugleich vertraut und fremd. Für den Paläoanthropologen von der Universität Poitiers (Frankreich) aber gehört dieses Antlitz einem von ihm seit 26 Jahren gesuchten Verwandten.

Die Fachwelt geriet in Aufregung, als Brunet und sein Team den Fund im Wissenschaftsmagazin "Nature" in der Ausgabe vom 11. Juli 2002 vorstellten. Im Jahr zuvor hatten die Forscher die Schädelfragmente in der Djurab-Wüste im nördlichen Tschad geborgen. Sie gaben diesem Primaten den Spitznamen Toumaï – "Hoffnung auf Leben". So nennen die nomadischen Goran Kinder, die kurz vor der Trockenzeit geboren werden.

Die wissenschaftliche Bezeichnung des Fossils aus einer ständig sandsturmgepeitschten Dünenlandschaft lautet Sahelanthropus tchadensis. Mit einem Alter von fast 7 Millionen Jahren könnte der bemerkenswert vollständig erhaltene Schädel derzeit den frühesten Vertreter in der Linie zum Menschen repräsentieren. Wahrscheinlich lebte dieser Primat sozusagen hautnah an dem Zeitpunkt, als die Menschen- und die Schimpansenvorfahren auseinander gingen, vermutet Brunet.

Dass der Mensch affenähnliche Vorläufer aufweist – was Charles Darwin vor über 130 Jahren bereits aus seiner Evolutionstheorie gefolgert hatte –, glaubten Anfang des 20. Jahrhunderts immer noch die wenigsten. Darwin hatte auch vermutet, dass unsere ältesten Ahnen, die sich schon von anderen Affen getrennt hatten, in Afrika zu finden sein würden: auf dem Kontinent, wo heute Schimpansen und Gorillas als unsere nächsten Vettern leben.

Fassbar wurde diese Verwandtschaft jedoch erstmals Mitte der 1920er Jahre, als Raymond Dart von der Universität von Witwatersrand (Südafrika) den Schädel des "Kindes von Taung" beschrieb und einer ausgestorbenen Vormenschenart zuordnete, die der Paläoanthropologe Australopithecus africanus, "afrikanischer Südaffe", nannte. Dart erntete damals von seinen Kollegen vor allem Skepsis und Ablehnung. Die meisten hielten das Fossil für den Schädel eines jungen Gorillas. Breitere Anerkennung fand Darts These erst, nachdem um 1950 in Südafrika Überreste einer weiteren fossilen Hominidenart zum Vorschein gekommen waren. Diese kräftig gebaute Art erhielt später den wissenschaftlichen Namen Australopithecus robustus.

"Lucys" erweiterte Verwandtschaft

In den folgenden Jahrzehnten überzeugten vor allem zahlreiche ostafrikanische Funde die Fachwelt, dass in Afrika menschliche Vorfahren gelebt hatten, die noch stark an Menschenaffen erinnernde Züge trugen. Bis Ende der 1970er Jahre kamen im Osten des Kontinents als weitere Vormenschen-Arten Australopithecusboisei, A. aethiopicus und A. afarensis hinzu. Von A. afarensis wurde das Skelett von "Lucy" berühmt. Es bewies eindeutig, dass diese Primaten damals längst den aufrechten Gang erworben hatten. Diese Art, von der vermutlich die Gattung Homo abstammt, existierte vor 3,6 bis 2,9 Millionen Jahren.

Auch die anderen Australopithecus-Arten unterschieden sich grundlegend von den unspezialisierten, vierbeinigen Menschenaffen der vorangegangenen Epoche. Jede dieser Hominiden-Arten lebte zwar in einer eigenen ökologischen Nische, doch waren sie alle an den aufrechten Gang angepasst. Und sie besaßen kleine Eckzähne und kräftige Backenzähne, ganz anders als die Menschenaffen vor rund 15 Millionen Jahren.

Doch wie hatten Lucys Vorfahren ausgesehen? Wann hatten sie den aufrechten Gang entwickelt? Zwischen den bis dahin ältesten Hominiden und Menschenaffen, die als ihre Ahnen in Frage kamen, klaffte viele Jahre lang eine weite Fossilienlücke. Die jüngsten bis dahin aufgefundenen Überreste jener Menschenaffen waren 12 Millionen Jahre alt, die älteste Art der Gattung Australopithecus war die von Lucy.

Erst in den 1990er Jahren begannen die Wissenschaftler in dieser Lücke fündig zu werden. Meave Leakey und ihr Team von den Nationalmuseen Kenias entdeckten damals die 4 Millionen Jahre alte Art Australopithecus anamensis. Diese Fossilien wirken ein wenig archaischer als die von Lucys Artgenossen. Nach Meinung ihrer Entdecker könnten jene Primaten durchaus die gesuchten Vorfahren gewesen sein (siehe den Artikel von M. Leakey und A. Walker in Spektrum der Wissenschaft 8/1997, S. 50).

Vor zehn Jahren entdeckten Tim White von der Universität von Kalifornien in Berkeley und seine Kollegen in Äthiopien sogar 4,4 Millionen Jahre alte Fossilien eines frühen Hominiden, der noch urtümlicher aussah und heute als Ardipithecus ramidus ramidus bezeichnet wird. Molekularbiologen spekulierten damals, dass auch noch ältere Hominiden-Fossilien zu finden sein würden. Denn nach ihren Hochrechnungen anhand von genetischen Vergleichen musste die Trennung der Schimpansen- und der Menschenlinie noch um einiges weiter zurückliegen.

In den letzten Jahren hat sich diese These durch mehrere spektakuläre Entdeckungen bestätigt. Inzwischen sind verschiedene Fossilien aufgetaucht, die tatsächlich von Arten nahe der Wurzel der Hominiden zu stammen scheinen. Nach Meinung von Michel Brunet ist auch der Schädel aus dem Tschad hier einzuordnen.

Oberschenkelhals eines Zweibeiners

Diese Funde werfen manche lang gehegten Vorstellungen dazu um, wann – und wo – die menschliche Stammlinie entstand. Auch wie der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse ausgesehen haben könnte, erscheint damit in neuem Licht.

Über die Einordnung der neuen fossilen Arten sind sich die Wissenschaftler noch keineswegs einig. Heftig diskutieren sie in jedem Einzelfall darüber, ob es sich wirklich um einen menschlichen Vorfahren oder um eine Seitenlinie handelt. Auch müssen sie neu klären, was einen Hominiden überhaupt auszeichnet.

Den Anfang der Fossilien jenseits der 4,4-Millionen-Jahre-Marke machte Orrorin tugenensis. Dessen 6 Millionen Jahre alte Überreste entdeckten Martin Pickford und Brigitte Senut vom französischen Nationalmuseum für Naturgeschichte in Paris im Jahr 2000 in den Tugen Hills in Kenia. Inzwischen konnten die Forscher von dieser Art 19 Fundstücke bergen, darunter Kieferfragmente, Zähne, Finger- und Armknochen sowie Bruchstücke von Oberschenkelknochen.

Nach Meinung der Entdecker passt dieser Primat in einigen Merkmalen deutlich zu den Hominiden. Sie sind überzeugt, dass er normalerweise auf zwei Beinen ging. "Der Oberschenkelknochen ist bemerkenswert menschenähnlich gebaut", betont Pickford. Dieser Knochen trägt einen ziemlich langen Oberschenkelhals. Beim Menschen ist das auch so. Dadurch steht der Oberschenkelknochen zum Knie hin etwas nach innen, wo er leicht abgewinkelt vom Unterschenkel ansetzt. Das bringt die Knie beim aufrechten Gehen unter den Rumpf und hilft das Körpergewicht besser auszubalancieren. Menschenaffen besitzen einen kurzen Oberschenkelhals. Wenn sie sich aufrichten, bilden die Beinknochen eine gerade Linie, sodass die Hinterbeine etwas seitlich vom Körper stehen. Der Oberschenkelhals von Orrorin weist hinten außerdem eine Ansatzstelle für einen Muskel auf, der den Knochen beim aufrechten Gehen in seiner Position hält.

In anderer Hinsicht wirkt dieser Primat noch recht affenähnlich. Er besaß verhältnismäßig lange, spitze Eckzähne. Die Arm- und Fingerknochen lassen vermuten, dass er noch geschickt zu klettern verstand. Trotzdem sind Pickford und Senut davon überzeugt, dass Orrorin am Boden schon wie ein Mensch ging. Sie behaupten sogar, dieser Primat habe einen menschenähnlicheren Gang gehabt als die viel jüngere Lucy. Sie halten darum Orrorin für einen Vorläufer des Menschen und stellen Lucy in eine Seitenlinie. Von Orrorin soll die postulierte Gattung Praeanthropus abstammen, der die beiden Forscher auch einen Teil der Fossilien zuordnen, die bisher den Arten Australopithecus anamensis und Australopithecus afarensis zugewiesen werden. Ardipithecus war nach diesem Abstammungsmodell kein Hominide, sondern ein Vorfahre der Schimpansen.

Dass der Oberschenkelhals von Orrorin von einem aufrechten Gang zeuge, rief Widerspruch hervor. C. Owen Lovejoy von der Kent State University (Ohio) bewertet die computertomografischen Aufnahmen von der inneren Knochenstruktur anders als Pickford und Senut. Er hält die durch Beanspruchung entstandenen Muster nicht für menschen-, sondern für schimpansenähnlich.

Bei Australopithecus afarensis, der Art von Lucy, sehen diese Strukturen laut Lovejoy hingegen ganz wie beim Menschen aus. Er schließt daraus, dass Orrorin zwar wohl oft zweibeinig ging, sich dies aber nicht zur Gewohnheit gemacht hatte, sondern sich auch viel in Bäumen fortbewegte. Dabei könne dieser Primat sehr wohl ein Hominide gewesen sein. Denn schließlich entstand der aufrechte Gang sicherlich nicht über Nacht. Orrorin mag gewissermaßen auf halbem Wege dorthin gewesen sein: Er konnte ganz gut zweibeinig gehen, war aber daran noch nicht rundum angepasst. Somit hätte er unserer eigenen Gattung ferner gestanden, als Pickford und Senut annehmen.

Die richtige Zehenform für den aufrechten Gang

Neue Fossilien der Art Ardipithecus ramidus könnten nach Lovejoy viel eher von einem normalerweise aufrecht gehenden, sehr frühen Hominiden sein. Die Knochenfragmente und Zähne mehrerer Individuen stammen aus der Middle-Awash-Region in Äthiopien. Sie sind zwischen 5,2 und 5,8 Millionen Jahre alt und damit nur wenig jünger als die von Orrorin. Der junge Wissenschaftler Yohannes Haile-Selassie von der Universität von Kalifornien in Berkeley veröffentlichte den Fund im Jahr 2001. Dieser Primat wurde als die Unterart Ardipithecus ramidus kadabba klassifiziert. Als Lovejoy die Fossilien untersuchte, erkannte er unter anderem, dass das Gelenk eines vollständig erhaltenen Zehenknochens genauso aussieht, wie zu erwarten wäre, wenn diese Art den Fuß beim zweibeinigen Gehen abrollte.

Andere Wissenschaftler überzeugt das nicht. "Beim besten Willen sieht mir das allenfalls nach einer Schimpansenzehe aus", kommentiert David Begun von der Universität Toronto (Kanada).

Nach den Fotos, die ihm vorlägen, erscheine der Zehenknochen länger, schlanker und stärker gekrümmt als bei einem regulären Zweibeiner. Die Forscher warten nun gespannt auf die Ergebnisse noch laufender Untersuchungen von White und seinen Mitarbeitern an einem bisher noch nicht beschriebenen Teilskelett von Ardipithecus.

Wie auch immer – falls zumindest einer dieser beiden neuen Primaten ein echter Zweibeiner war, müsste man die Anfänge des aufrechten Gangs um fast 1,5 Millionen Jahre zurückdatieren. Dann würde allerdings das in Wissenschaftlerkreisen kursierende Szenario von den Umständen dieser Evolution nicht mehr stimmen. Nach verbreiteter Vorstellung förderte oder erzwang die neue afrikanische Savannenlandschaft eine aufrechte Fortbewegungsweise. Als Vorteile des aufrechten Gangs gelten, dass unsere Vorfahren der sengenden Sonne nun weniger Körperoberfläche boten, dass sie in der Buschvegetation höher hängende Früchte abernten konnten oder dass sie im hohen Gras den Überblick behielten. Nach Analysen der Fundorte waren jedoch sowohl Orrorin wie Ardipithecus Waldbewohner. In ihrem Umkreis lebten viele typische Waldtiere, zum Beispiel auch baumlebende Affen. Ein Team um Giday Wolde-Gabriel vom Los Alamos Nationallaboratorium, das am Fundort von Ardipithecus ramidus kadabba die Bodenzusammensetzung und die damalige Tierwelt untersuchte, schloss aus den Ergebnissen sogar, dass es noch keine 4,4 Millionen Jahre her sein dürfte, dass sich Hominiden aus den relativ feuchten Waldhabitaten auf die Savanne hinauswagten.

Menschenähnliches Gebiss

Demnach hätte der damalige große Klimawandel für die Evolution des aufrechten Gangs längst nicht die Bedeutung gehabt wie bisher angenommen. Schon früher hielt Lovejoy manche der diesbezüglichen Erklärungsansätze für schlecht durchdacht. Scherzhaft meint er: "Säßen die Augen auf den Zehen und man würde den ganzen Tag Handstand machen, um im hohen Gras mehr zu sehen, würden darum aus diesen Geschöpfen doch niemals Hand-Gänger entstehen." Mit anderen Worten: Aufrechte Körperhaltung und aufrechter Gang sind zweierlei. Eine Selektion auf eine aufrechte Haltung hin bedeutet nicht zwangsläufig eine Selektion auf einen aufrechten Gang. Dessen Entstehung verlangte zusätzliche Anreize. Für den plausibelsten Vorteil hält Lovejoy, dass dadurch die Hände für anderes frei wurden. Die Männer vermochten nun Extranahrung heranzuschaffen und sich damit bei den Frauen einzuschmeicheln. Die Frauen ihrerseits konnten mehr Energie für ihre Kinder erübrigen, wenn sie einen guten Versorger ergattert hatten. In Lovejoys Modell, das er in den 1980er Jahren entwickelte, stellte demnach die Maximierung des Fortpflanzungserfolgs die treibende Kraft dar.

Mitten in die Diskussionen um Orrorin und Ardipithecus ramidus kadabba kam die Entdeckung des noch älteren Sahelanthropus aus dem Tschad. Zwar trägt dieses Fossil hinsichtlich der Fortbewegungsweise der ersten Hominiden nichts bei, da bisher nur der Schädel vorhanden ist, aber keine Skelettteile. Doch das vorhandene Material ist nach Brunet aussagekräftig genug, um diesen Primaten den Hominiden zuzuordnen. Eine Anzahl von Merkmalen mache die Beziehung zu allen späteren Hominiden deutlich. Aufschlussreich ist besonders das Gebiss. Laut Brunet sprechen die starken Überaugenwülste für ein männliches Tier. Ein Menschenaffe müsste in dem Fall sehr große Eckzähne besitzen. Doch bei Sahelanthropus haben sie sich laut Brunet bereits in menschliche Richtung verändert.

Bei allen fossilen und heutigen Menschenaffen rieb beziehunsgweise reibt sich der auffallend große, spitze obere Eckzahn am ersten unteren Vorbackenzahn, der darum ebenfalls markant aussieht. Durch das Schleifen erhält der Eckzahn seine scharfe Schneidekante und stellt eine vorzügliche Waffe dar. Das Merkmal ist besonders bei den Affenmännern ausgeprägt, die ihre imposanten Eckzähne im Wettstreit um das andere Geschlecht einsetzen. Auch der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse dürfte noch ein solches wehrhaftes Gebiss besessen haben. In der menschlichen Evolution ging das Merkmal verloren und damit auch die großen Zahnlücken im gegenüberstehenden Kiefer. Bei uns berühren sich beim Zubeißen die Oberkanten der viel kleineren Eckzähne, die eher wie Schneidezähne aussehen. Dadurch entstehen völlig andere Abnutzungsspuren.

Zweibeiner: keine Anpassung an die Savanne?

Zugleich wirkt vieles an den Sahelanthropus-Fossilien noch affenähnlich. Das Gehirn war nicht größer als bei Menschenaffen und die Augenhöhlen lagen verhältnismäßig weit auseinander. Nach Brunet bedeutet dieses Mosaik ursprünglicher und neuer Merkmale, dass jener Primat dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und modernen Menschenaffen nahe stand. Seiner Ansicht nach könnte dieser Primat der erste Angehörige der menschlichen Stammlinie sein und damit der Urahn aller späteren Hominiden. Auch Orrorin und Ardipithecus würden dann von ihm abstammen.

Falls diese These stimmt, wären die Hominiden über eine Million Jahre früher entstanden, als einige Berechnungen anhand molekularer Vergleiche ergaben. Noch revolutionärer wäre, dass die Evolution der Hominiden nicht in Ostafrika begonnen hätte, wie bisher viele Anthropologen vermuten. Der französische Forscher Yves Coppens entwarf dazu in den 1980er Jahren ein Modell, dem zufolge sich die Stammart von Mensch und den ihm nächsten Menschenaffen in zwei Populationen spaltete, als der große afrikanische Grabenbruch entstand. Die Population auf der Westseite lebte weiterhin im Regenwald, die im Osten passte sich an die Savannenlandschaft an (siehe seinen Artikel in Spektrum der Wissenschaft, 12/1994, S. 64).

Seit einiger Zeit äußern manche Anthropologen an dieser Auffassung Zweifel. Sie schieben den Irrtum auf die karge Fundsituation von Fossilien aus der Frühzeit der Menschwerdung. Der Fundort im Tschad liegt 2500 Kilometer westlich vom afrikanischen Grabenbruch. Sollte dieser Primat wirklich ein früher Hominide gewesen sein, müssten die Forscher ein völlig neues Modell von deren Evolution entwerfen.

Die größte Überraschung bereitet das Aussehen von Sahelanthropus. Wenn dies unser Urahn war, hätte der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse ein völlig anderes Gesicht gehabt, als es sich Anthropologen vorstellen. Nach bisheriger Auffassung besaß dieser Primat, ähnlich wie Schimpansen, eine stark vorspringende Schnauze, große Eckzähne und Backenzähne mit dünnem Zahnschmelz. Aber obwohl das neue Fossil durchaus Menschenaffenzüge aufweist, ist die Schnauze nur schwach ausgeprägt, die Eckzähne sind recht klein und die Backenzähne tragen dicken Schmelz. Dazu sind die Überaugenwülste dicker als bei heutigen Menschenaffen. "Wenn Sahelanthropus uns irgendetwas lehrt, dann, dass der letzte gemeinsame Vorfahr kein Schimpanse war", bemerkt Tim White. "Aber war denn etwas anderes zu erwarten?" Schließlich hatten Schimpansen ebenso viel Zeit für ihre Evolution wie der Mensch. Erst während dieser Jahrmillionen entwickelten sie sich zu hoch spezialisierten, Früchte fressenden Menschenaffen.

Verschiedene von Brunets Kollegen bezweifeln, dass die Eckzähne des Fossils aus dem Tschad so viel Hominidenähnlichkeit haben. "Warum Sahelanthropus unbedingt ein Hominide sein soll, leuchtet nicht ganz ein", meint etwa Carol V. Ward von der Universität von Missouri in Columbia.

Neue Maßstäbe für die Hominidenevolution

Der Paläoanthropologe Milford H. Wolpoff von der Universität von Michigan hat seine Gegenargumente gemeinsam mit Pickford und Senut, die Orrorin entdeckten, im Oktober 2002 in der Zeitschrift "Nature" veröffentlicht. Diese Forscher halten Sahelanthropus für einen Menschenaffen. Verschiedene Schädelmerkmale würden auf einen Vierbeiner hinweisen, der sich von zäher Pflanzenkost ernährte. Die relativ kleinen Eckzähne könnten auf ein weibliches Tier hindeuten. Nach Pickford und Senut könnte es sich um eine Vorfahrin des Gorillas handeln.

Brunet reagierte bissig: Ähnlich hätte man Dart 1925 angegriffen, als er den ersten Australopithecus beschrieb. Überdies sei nicht verwunderlich, dass Sahelanthropus zu seiner Zeit auch noch deutlich menschenaffenähnliche Merkmale aufwies. Um nach einer eventuellen Verwandtschaft mit dem Menschen zu suchen, seien das die falschen Kriterien.

Dieser Streit rührt an einen wunden Punkt. Wodurch lassen sich Hominiden von den Menschenaffen abgrenzen? Nach den Erkenntnissen der Systematiker erkennt man die Angehörigen einer systematischen Gruppe daran, dass sie zumindest ein Merkmal gemeinsam haben, welches an der Basis dieses Taxons neu entstand und somit anderen Gruppen fehlt. Auch der älteste Vertreter der Gruppe muss es folglich zumindest in Ansätzen schon aufweisen. Für die Hominiden galt früher der aufrechte Gang als das entscheidende, sie charakterisierende Merkmal, in dem sich auch alle Vormenschen von den Menschenaffen abheben. Möglich erscheint nun aber, dass die Hominiden als wichtigste Charakteristika weniger augenfällige, vielleicht noch ältere Neuerungen teilen. Das könnten durchaus anders geformte Eckzähne und die damit einhergehenden anderen Gebissstrukturen sein.

Paläoanthropologen können für die systematische Zuordnung der Fossilien nur Skelett- oder Schädelmerkmale hinzuziehen. Doch gerade von den mutmaßlichen frühesten Vormenschen – Orrorin, A. r. kadabba und Sahelanthropus gibt es bisher wenig vergleichbare Knochenstücke, denn die Fragmente stammen meistens von jeweils verschiedenen Körperteilen. Deswegen ist bisher kaum zu ermitteln, welches oder welche neuen anatomischen Merkmale diese Arten gemeinsam aufwiesen – welche neuen Eigenschaften also unser Urahn besaß, als sich dessen Linie von den Menschenaffen abzweigte. Aus diesem Grund ist bisher ungewiss, ob zuerst die Eckzähne kleiner wurden oder ob zuerst der aufrechte Gang entstand. Erwogen wird inzwischen sogar, dass der aufrechte Gang gar kein exklusives Merkmal der Hominiden darstellte, sondern auch bei manchen früheren Menschenaffen vorkam.

Seit einiger Zeit führen die Paläoanthropologen hitzige Debatten darüber, wie stark der Hominidenstammbaum verzweigt war. Die drei neuen mutmaßlichen Vormenschen aus der Frühzeit stacheln diese Diskussionen noch mehr an. Dass vor 3 bis 1,5 Millionen Jahren zumindest zeitweise mehrere Vormenschenarten nebeneinander lebten, ist inzwischen unstrittig – wenn auch die Meinungen weit auseinander gehen, wie viele Arten es waren (siehe Spektrum der Wissenschaft 3/2000, S. 46). Nun verlautet von einigen Seiten, schon die Anfänge der Hominidenevolution gestalteten sich vielleicht bunter als gedacht. David Begun erforscht die Evolution der Menschenaffen, aus denen die Ahnen der modernen afrikanischen Vertreter und die Vorfahren der Hominiden hervorgingen. Seines Erachtens entwickelten sich diese Vorfahren vor rund 15 bis 10 Millionen Jahren, im mittleren Miozän, in Europa und Westasien. Erst später gelangten sie wieder nach Afrika, woher sie ursprünglich stammten.

Neues Szenario Artenexplosion

Laut Begun ist ein Merkmalsmosaik wie bei Sahelanthropus zu erwarten, wenn sich Tiere in einem neuen Lebensraum ausbreiten und dabei rasch etliche neuen Arten ausbilden. "Ich wäre nicht überrascht, wenn für diese Zeit 10 oder 15 Affengattungen auftauchen, die dem Menschen näher stehen als den Schimpansen", meint er denn auch. Bernard Wood von der George-Washington-Universität (Washington DC) ging in seinem Begleitkommentar zu Brunets Artikel in der Zeitschrift "Nature" noch weiter. Er erwägt einen Vergleich mit der Explosion der Tierwelt im Kambrium, aus der fast alle großen heutigen Tierstämme hervorgingen. Entsprangen die vielen frühen Arten, die als Hominiden gelten, verschiedenen Linien? Sah dieser Stammbaum an der Basis eher aus wie ein dichtes Gebüsch statt wie ein Baum? Dann wäre zu vermuten, dass die meisten, wenn nicht alle bisherigen Funde aus dieser Zeit zu Zweigen gehören, die sich später nicht weiter fortsetzten.

Andere Forscher, darunter Tim White, halten eine solche Deutung für vorschnell. Wie White und Brunet betonen, kennt man für den Abschnitt vor 7 bis 4 Millionen Jahren von den einzelnen Zeitpunkten jeweils nur eine Hominidenart. Selbst vor 2 Millionen Jahren, in der Phase größter Hominidenvielfalt, hätten nicht mehr als drei Arten gleichzeitig existiert. Nach Whites Ansicht könnten die neuen Funde durchaus in dieselbe Abstammungslinie gehören. Dann wären Sahelanthropus und Orrorin in Wahrheit frühe Arten der Gattung Ardipithecus.

Um Klarheit zu erhalten, wären vor allem mehr Fossilien erforderlich. Die Forscher wissen aber auch, dass es umso schwieriger ist, einen Fund als Hominidenfossil einzustufen, je näher die Art dem letzten mit den Menschenaffen gemeinsamen Vorfahren steht. Manche der Anthropologen glauben, dass die Suche jetzt erst richtig beginnen wird – gerade weil sie dem ersten Hominiden noch nie so nah waren.

Literaturhinweise


Vom Affen zum Menschen. Teil II: Evolution des Menschen. Von Louis de Bonis. Spektrum der Wissenschaft, Compact 1, 2002.

A New Hominid from the Upper Miocene of Chad, Central Africa. Von Michael Brunet et al. in: Nature, Bd. 418, S. 145, 11. Juli 2002.

Bipedalism in Orrorin tugenensis Revealed by its Femora. Von Martin Pickford et al. in: Comptes Rendus: Palevol, Bd. 1, S. 1, 2002.

Late Miocene Hominids from the Middle Awash, Ethiopia. Von Yohannes Haile-Selassie in: Nature, Bd. 412, S. 178, 12. Juli 2001.


In Kürze


- Nach bisheriger Lehrmeinung entstanden die ersten Vormenschen in Ostafrika vor ungefähr 5 oder 6 Millionen Jahren, und sie entwickelten den aufrechten Gang in der Savanne. Jedoch gab es bis vor wenigen Jahren keine Fossilien von Hominiden, die älter als 4,4 Millionen Jahre waren.

- Neue, zwischen 5,5 und fast 7 Millionen Jahre alte Fossilien aus dem Tschad, aus Kenia und Äthiopien könnten von noch früheren Hominiden herrühren.

- Der aufrechte Gang wäre dann nicht in der Savanne entstanden. Allerdings ist noch strittig, ob und welche der Funde von menschlichen Vorfahren oder überhaupt von Hominiden stammen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2003, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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