Bildschirmtechnik: Wettlauf zum elektronischen Papier
Flink wie ein Bildschirm, flimmerfrei wie eine bedruckte Seite: Mehrere Firmen entwickeln biegsame Folien, die wechselnde Texte und Grafiken wiedergeben. Elektronische Zeitungen und Bücher, die diese Vorzüge vereinen, stehen vor der Marktreife.
Was ist das: Es bietet exzellente Auflösung und hohen Kontrast unabhängig vom Blickwinkel, braucht keine Stromquelle, ist leicht, spottbillig und im wörtlichen und übertragenen Sinne höchst flexibel – ganz im Gegensatz zu heutigen Computerbildschirmen? Natürlich, Sie haben es erraten. Kein Wunder, dass herkömmlich bedrucktes Papier im digitalen Zeitalter keineswegs ausstirbt, sondern mehr denn je allgegenwärtig bleibt.
Dennoch hat Papier gegenüber Bildschirmen einen großen Nachteil: Es lässt sich nicht beliebig oft löschen und in Sekundenbruchteilen neu beschreiben. Gäbe es elektronisches Papier mit den Vorzügen eines Bildschirms, so müssten für das Aktualisieren von Preisschildern und Werbeplakaten nicht mehr ganze Wälder abgeholzt werden; ein elektronisches Buch könnte ganze Bibliotheken enthalten und würde doch das vertraute Gefühl herkömmlicher Lektüre vermitteln; Zeitungen und Zeitschriften könnten drahtlos auf dünne, flexible Seitendisplays übertragen und bequem gelesen werden – ob in der U-Bahn oder auf einer einsamen Insel.
Seit dreißig Jahren ist immer wieder versucht worden, elektronisches Papier herzustellen, doch erst seit kurzem geht es damit wirklich voran. Vielleicht schon vor 2010 werden Zeitschriften wie "Spektrum der Wissenschaft" routinemäßig in dem neuen elektronischen Medium erscheinen – dank der Konkurrenz zwischen zwei dynamischen neuen Firmen. Beide sind Ableger bedeutender Forschungsinstitute: des Xerox Palo Alto Research Center (Parc) und des Massachu-setts Institute of Technology Media Laboratory (MIT Media Lab); beide Firmen verwenden winzige elektrisch geladene Kügelchen, deren elektronisch gesteuerter Farbwechsel ein variables Gesamtbild erzeugt. Allerdings sind nicht nur diese zwei Wettbewerber unterwegs zur Markteinführung, sondern auch Quereinsteiger, die mit Leuchtdioden aus Kunststoff experimentieren.
Ein biegsamer Flachbildschirm
Der erste Versuch mit – wie es damals hieß – "elektrischem Papier" war eine Antwort auf die schlechten visuellen Eigenschaften der Computerbildschirme in den frühen siebziger Jahren. "Die Bildröhren waren zu dunkel", erinnert sich Nicholas K. Sheridon. "Ich wollte ein Displaymaterial finden, das möglichst viele Eigenschaften von Papier hat. Einen Ersatz für Papier zu finden war damals gar nicht meine Absicht."
Bis vor wenigen Jahren war Sheridon Forscher bei Parc, wo er "elektronisches wiederverwendbares Papier" entwickelte. Die grundlegende Idee – das Einbetten von Plastikperlen mit dem Durchmesser eines menschlichen Haares in ein transparentes, flexibles Medium – hatte er schon zwanzig Jahre früher gehabt. Jede winzige Kapsel ist zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weiß, und die Hälften sind entgegengesetzt geladen. Legt man ein passendes elektrisches Feld an das transparente Trägersubstrat an, so präsentieren die Perlen je nachdem ihre schwarze oder weiße Seite – als wären sie Tinte-Partikel, die von selbst an den richtigen Stellen auftauchen.
Sheridon nannte seine Erfindung Gyricon, nach den griechischen Wörtern für "drehen" und "Bild". Das Xerox-Management, das damals mehr an neuen Drucktechniken als an Displays interessiert war, zeigte wenig Begeisterung. Erst fünfzehn Jahre später wurde die Idee wieder hervorgeholt und Sheridons Demonstrationsmodell in dieser Zeitschrift vorgestellt (Spektrum der Wissenschaft 10/1998, S. 23).
Bis zur Markteinführung dauerte es noch länger. Zunächst wurde ein separates Unternehmen geschaffen: Gyricon Media mit Sitz in Palo Alto (Kalifornien) und Xerox als Mehrheitseigner. Im März 2001 präsentierte die neue Firma ihr erstes Produkt auf einer Verkaufsmesse für Supermarkt-Ausrüstungen in Chicago. Sheridon, nun Forschungsdirektor von Gyricon Media, stand stolz neben einem graugrünen Schild auf einem Aluminiumfuß, wie man es häufig bei Sonderangeboten in Kaufhäusern antrifft. Die Tafel, etwa so groß wie eine Doppelseite dieses Hefts, zeigte wechselnde Werbeslogans und die Preisangabe "$ 89.99" in etwas fleckiger Schrift; mit nur drei kleinen Taschenlampenbatterien als Energiequelle sollte die Anzeige zwei Jahre lang laufen können. So wurde Sheridons elektrisches Papier fast dreißig Jahre nach seiner Erfindung endlich erhältlich – allerdings mit ein paar Einschränkungen.
Als dieser Prototyp des heute als SmartPaper angebotenen Produkts im Herbst 2001 auf 15 Schildern im Warenhaus "Macy?s" in Bridgewater (New Jersey) praktisch erprobt wurde, war seine Auflösung mit 100 dpi (dots per inch, Punkten pro Zoll) eher bescheiden im Vergleich zu den 1200 dpi dieser Zeitschrift. Außerdem wurde das an sich flexible SmartPaper-Material – ein in Öl getränkter Silikon-Gummi-Film – durch starre Elektroden aktiviert, und darum war dieses E-Papier steif wie ein Brett.
Bis Ende 2002 möchte Sheridon Schilder auf den Markt bringen, die drahtlos aktualisiert werden können. Wenn man bedenkt, dass Federated Department Stores – das Stammunternehmen von "Macy?s" – wöchentlich 250000 Dollar für das Auswechseln von Preis- und Werbetafeln in seinen Läden ausgibt, möchte man solchen variablen Signaltafeln durchaus eine Marktchance geben. Im Angebot sind demnächst auch kleinere SmartPaper-Schilder, um die Preise in Supermarktregalen automatisch auf dem neuesten Stand zu halten. Die Anschaffungskosten sollen sich durch das Einsparen kostspieliger Strafen für fehlerhafte Preisangaben amortisieren.
Sheridon sagt biegsame, wiederverwendbare E-Zeitungen schon für die nächsten Jahre voraus. Er führt sogar schon ein grobes Modell vor: Aus dem Schlitz eines Aluminiumzylinders zieht er ein Blatt SmartPapier wie von einer Papyrusrolle. In einem funktionsfähigen Prototyp würden an den Enden des Zylinders angeordnete Elektroden die aktuellsten Nachrichten, Kolumnen und Hintergrundberichte auf die gummiartige Oberfläche des Papiers "drucken", das durch Plastikbeschichtung vor Kratzern geschützt wäre. Bald sollen kleinere Gyricon-Perlen für höhere Auflösung sorgen. Sheridon besitzt außerdem ein Patent für Farbdruck; es beruht auf transparenten Perlen mit dünnen Filterscheibchen in Zyanblau, Magentarot und Gelb, die jeweils auf verschiedene Spannungen reagieren.
Der Konkurrent: E-Tinte
So dünn und flexibel elektronisches Papier auch immer werden mag – genau wie das Original wird es sich wohl nie anfühlen. Sheridon gibt zu, dass es nie so leicht wie Papier werden wird. "Papier ist etwa ein Zehntel Millimeter dick, E-Papier wird immer drei- bis oder viermal so dick bleiben. Es muss Papier aber auch nicht genau imitieren, um nützlich zu sein."
Echtes Papier mit der Fähigkeit, sich selbst zu bedrucken, war ursprünglich der Traum des Erzrivalen von Gyricon Media. Unabhängig von Sheridon suchte Joseph Jacobson im Jahre 1995 als angehender Physiker an der Stanford University nach einem lohnenden Forschungsprojekt. Er stellte sich ein Buch vor, dessen Seiten elektronisch so konfiguriert werden können, dass sie nach Belieben den Text von Shakespeares "King Lear" oder eine Einführung in Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie oder eines von hundert anderen Werken wiedergeben, welche auf Siliziumchips im Buchrücken gespeichert sind.
Als bildgebendes Verfahren wählte Jacobson die Elektrophorese: die durch ein elektrisches Feld erzeugte Bewegung geladener Schwebeteilchen in einer Flüssigkeit. Anstelle von Pigment-Perlen benutzt er durchsichtige Mikrokapseln aus Kunststoff, die blaue Tinte und weiße Partikel enthalten. Schweben die positiv geladenen Teilchen aus weißem Titandioxid auf der sichtbaren Seite sämtlicher Mikrokapseln, so erzeugen sie ein makellos weißes Blatt. Wenn eine negativ geladene Elektrode unter einer Kapsel die weißen Partikel zu sich zieht, entsteht an dieser Stelle ein tintenblauer Punkt – bis ein positiver elektrischer Puls den weißen Farbstoff wieder zurückschickt. Kehrt man den gesamten Vorgang um, so erhält man weiße Buchstaben auf blauem Grund. Die in Wasser suspendierten Mikrokapseln können wie Tintenfarbstoff dauerhaft auf Papier oder auf Elektroden tragenden Materialien fixiert werden. Darum taufte Jacobson sie elektrophoretische Tinte oder kurz E-Tinte.
Er setzte seine Arbeit als Assistenzprofessor am MIT Media Lab mit zwei Studenten fort. Im Jahre 1997 gründeten sie zusammen mit einem Absolventen der Harvard Business School die E-Ink Corporation in Cambridge (Massachusetts). Die neue Firma zog bald Risikokapital und Beteiligungen von großen Konzernen wie Motorola und Hearst Corporation an sowie Forschungsmittel von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), der Forschungsagentur des Militärs.
1999 bot E-Ink die ersten starren Plakate unter dem Handelsnamen Immedia an; sie maßen 180 mal 120 Zentimeter und zeigten große weiße Kursiv-Buchstaben auf blauem Grund mit einer Auflösung von 2 dpi. Getestet wurden sie in einigen "Penney"-Warenhäusern, bei der Tageszeitung "Arizona Republic" als Schlagzeilen-Displays und sogar als mobile Sandwich-Plakate zur Straßenwerbung für die Internet-Firma Yahoo. Zwar steigerten die Schilder in Warenhäusern Kundenverkehr und Umsatz, doch der Mangel an Schrifttypen, Farben und Grafiken wurde als störend empfunden. Bis zur Entwicklung besserer Schilder hat E-Ink sich vom Markt zurückgezogen.
Biegsame Flachbildschirme
Jacobson gehört dem Vorstand von E-Ink an, befasst sich allerdings kaum mit dem Tagesgeschäft; hauptsächlich ist er als Direktor des Forschungslabors für molekulare Maschinen am Media Lab tätig. Derzeit ist Michael D. McCreary Vizepräsident für Forschung und Entwicklung bei E-Ink. Im Firmensitz am Rande von Cambridge erläutert er, dass Ladenschilder immer nur als erster Schritt galten. "Als Nächstes kommt die Entwicklung hochauflösender Displays für tragbare Geräte", sagt McCreary. Er führt einen starren, handgroßen Bildschirm mit gutem Kontrast und einer Auflösung von 80 dpi vor, der bei schräger Aufsicht bessere Lesbarkeit bietet als herkömmliche Flüssigkristalldisplays.
Im Februar 2001 erwarb der Philips-Konzern für eine Beteiligung in Höhe von 7,5 Millionen Dollar die Exklusivrechte an der E-Ink-Technik, um Displays für so genannte Personal Digital Assistants und elektronische Bücher zu vermarkten. Da diese Version des elektronischen Papiers mit einem Hundertstel des Stroms für herkömmliche Flachbildschirme auskommt, setzt Philips auf einen Marktvorsprung bei der Batterielebensdauer für seine handgroßen Geräte, die innerhalb der nächsten Jahre erhältlich sein sollen. Ein weiterer Geschäftspartner, Lucent Technologies, vergab an E-Ink die Lizenz zur Nutzung seiner bei den Bell Laboratories entwickelten Plastik-Transistoren. Im November 2000 stellten diese Partner das erste flexible E-Ink-Display vor; es war 15 mal 15 Zentimeter groß, so dick und biegsam wie ein Mousepad. Die 256 daumennagelgroßen Pixel zeigten abwechselnd ein Schachbrettmuster, die Firmennamen und das E-Ink-Logo. Damit wurde im Prinzip bewiesen, dass die gedruckten Schaltkreise für eine Aktivmatrix aus E-Ink-Mikrokapseln durch Aufprägen von Kunststoffen auf eine fle-xible Kunststoffschicht hergestellt werden können.
Im April 2001 präsentierten E-Ink und ein weiterer Geschäftspartner, IBM Research, ein Aktivmatrix-Display mit höherer Auflösung; dieser 12-Zoll-Bildschirm mit 83 dpi kam bereits an die Bildqualität eines üblichen Laptop-Displays heran. Die Mikrokapseln konnten zehnmal schneller die Farbe wechseln als bisher. Um den Kontrast zu erhöhen, enthielten die Kapseln statt blauer Tinte tiefschwarze Flüssigkeit.
Einen Monat später stellten E-Ink und die japanische Firma Toppan den Prototyp eines Farbdisplays vor. Mit Hilfe der in Flüssigkristallschirmen heute weit verbreiteten Farbfiltermatrizen von Toppan konnte das Modell acht Farben wiedergeben. E-Ink hofft, mit dieser Technik bald 4096 Farben darstellen zu können – ausreichend für handgroße Schirme und Computerspiele.
Mit den neuen Prototypen kommt E-Ink seinem Endziel näher: "Wir nennen es Radiopapier", erläutert McCreary. Er denkt an ein flexibles digitales Papier, das über ein drahtloses Datennetz Bilder mit hoher Farbauflösung wiederzugeben vermag. Radiopapier soll 2005 auf den Markt kommen – vermutlich gleichzeitig mit ähnlichen Technologien von Gyricon und anderen Firmen.
E-Ink wird dann außerdem mit Leucht-dioden aus organischem Material im Wettbewerb stehen. Ähnliche Kohlenstoffverbindungen wie die Plastikmaterialien in den fle-xiblen Displays von E-Ink und Lucent können zu Licht emittierenden Halbleitern verarbeitet werden, die ebenfalls biegsam sind und wenig Strom verbrauchen. Diese Alternative zu elektronischem Papier wird gegenwärtig von Eastman Kodak, IBM sowie anderen finanzstarken Unternehmen entwickelt.
Das ultimative Buch
Jacobson träumt seit jeher vom "letzten Buch". Es besteht aus mehreren hundert Seiten selbstdruckenden Papiers; auf jeder Seite ist ein eigener Prozessor eingeprägt, und der Buchrücken enthält genügend Speicherchips, um sämtliche in der amerikanischen Library of Congress katalogisierten Werke zu fassen. Doch wenn schon eine einzige Seite fähig ist, beliebige Texte, Bilder oder gar Videosequenzen wiederzugeben, wozu dann ein ganzes Buch? Als einen Grund nennt Jacobson die Anregung des räumlichen Gedächtnisses: Das Blättern in einem Buch macht es dem Leser leichter, eine bestimmte Passage oder Abbildung wiederzufinden.
Irgendwo zwischen Jacobsons E-Buch und Sheridons E-Schriftrolle liegt ein weiteres Format für E-Papier: die digitale Version des Druckbogens, der 8, 16 oder 32 einzelne Seiten auf einem Blatt vereint. Robert Steinbugler, Chefentwickler bei IBM, stellte 1999 die Ideenskizze einer E-Zeitung vor. Bei dieser biegsamen Mappe mit acht beidseitig bedruckbaren Blättern ist das digitale Papier allerdings vorerst nur durch herkömmlich bedruckte Plastikfolien angedeutet. Aus Interviews mit Zeitungsredakteuren und Lesern schloss Steinbugler, dass man lieber in einem mehrseitigen Heft zwischen den Artikeln hin- und herblättern möchte, ohne den Text jedes Mal neu aufrufen zu müssen; auch ist Zeitungslesern die simultane Anordnung unterschiedlicher Meldungen auf einer gedruckten Seite lieber als das Ablesen einzelner Online-Nachrichten vom Bildschirm.
Fast scheint es, als würden die Teilnehmer des Wettlaufs nun zum Endspurt ansetzen. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis der Spektrum-Leser sein Monatsheft nach Wunsch als E-Mappe, E-Buch oder E-Schriftrolle erstehen kann.
Literaturhinweis
The Last Book. Von Joseph Jacobson in: IBM Systems Journal, Bd. 36, Heft 3 (1997).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2002, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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