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Evolutionsbiologie: Where Do We Come From?

The Molecular Evidence for Human Descent
Springer, Berlin 2002. 462 Seiten, $ 49.95


Die molekularbiologische Methode zur Erforschung der menschlichen Evolution hat in den letzten 15 Jahren einen ungeheuren Aufschwung genommen, was auch in den Medien gebührend gefeiert wurde. Gemessen daran sind allgemein verständliche Bücher zum Thema recht dünn gesät; aus neuerer Zeit gibt es "Gene, Völker und Sprachen" von Luigi Luca Cavalli-Sforza (siehe Spektrum der Wissenschaft 4/2000, S. 105), "The Molecule Hunt" von Martin Jones (Arcade Publishing, 2002) und "Die sieben Töchter Evas" von Bryan Sykes (siehe Spektrum der Wissenschaft 6/2002, S. 110).

Im Gegensatz zu den genannten Büchern bettet das vorliegende Werk die Evolution des Menschen in den großen Kontext der Evolution des Lebens ein. Jan Klein vom Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen und Naoyuki Takahata von der Graduate University for Advanced Studies in Hayama (Japan) haben den Ehrgeiz, ihren Lesern statt seichter Unterhaltung echte Wissenschaft zu bieten. So erläutern sie in den ersten fünf Kapiteln die molekulare Grundlage der Vererbung, Techniken der DNA-Analyse und die Interpretation der Ergebnisse, bevor sie im Mittelteil mit dem "Baum des Lebens" zum Hauptthema kommen. Schätzungen der menschlichen Gesamtbevölkerung für prähistorische Zeiten und ein pessimistischer Blick in die Zukunft beschließen das Buch.

Immer wieder kommen die Autoren auf existenzielle Fragen zu sprechen: "Dass wir Menschen in einer zwecklosen Welt leben, ist schwer zu verdauen" (Kapitel 4). Ihre Reflexionen über die eigene Sterblichkeit und ihre Auseinandersetzung mit christlichem Gedankengut sind zwar nicht neu, machen aber vielleicht deutlich, dass auch wir Genetiker den Sinn des Lebens nicht in den Molekülen zu finden hoffen.

Die einleitenden Kapitel führen den Leser gemächlich, aber an fester Hand durch die Physiologie der Fortpflanzung und die Vererbungslehre, von Mendel und den Mitochondrien bis zur Mitose und dem "maximum parsimony"-Prinzip zur Rekonstruktion von Stammbäumen (der Abstammungsweg mit der minimalen Anzahl an Mutationen ist der wahrscheinlichste). Der Text ist größtenteils fehlerfrei; allerdings sind die Abbildungen ziemlich steril und schwarzweiß bis allenfalls zweifarbig, was zum Beispiel die Erklärung der DNA-Sequenzierung mittels Vierfarb-Fluoreszenz beeinträchtigt. Außerdem hätten die theoretischen Annahmen über Populationsgrößen besser ans Ende des Buches gepasst, wo sie wirklich gebraucht werden, statt in Kapitel 3, wo sie inmitten harter Fakten wie Fremdkörper wirken.

Die Kapitel 6 bis 10 erzählen "den Ursprung der Menschheit von der Entstehung der ersten Organismen auf der Erde an". Diese große Reise von den Wurzeln des "Baums des Lebens" bis zum heutigen Menschen ist der zentrale und geschlossenste Teil des Buches. Sie beginnt mit Carl Woeses ursprünglicher Einteilung des Lebenden in die Reiche der Bakterien, Archaea und Eukaryoten und folgt dann der Ahnenreihe des Menschen, an den Pilzen vorbei zu den Metazoa (Vielzellern), über die Primaten bis zu unseren engsten Verwandten, den Schimpansen. Da es für die nächsten Schritte keine lebenden Arten gibt, erläutern die Autoren zwischendurch das Prinzip der molekularen Uhr und setzen dann die Reise mit den fossilen Frühmenschen bis zum Homo sapiens fort.

Dieser Teil des Buches überzeugt mich am meisten; trotzdem stören zwei systematische Schwächen. Erstens bleibt der Ursprung des Lebens selbst weitgehend unerwähnt; es ist keine Rede von der Ursuppe, von der RNA-Welt, die der DNA-Welt vorausging, und von Darwins weit vorausschauender Idee, dass alles Leben aus einem einzigen Ereignis hervorging.

Zweitens legen die Autoren übermäßiges Gewicht auf die Frage, ob der moderne Mensch sich vor relativ kurzer Zeit – in den letzten 150000 Jahren – von Afrika aus über die Welt verbreitet hat oder ob wir von Homo-erectus-Populationen abstammen, die bereits vor etwa 2 Millionen Jahren in verschiedenen Kontinenten ansässig waren. Im ersten Fall wären die gegenwärtigen (phänotypischen) Rassenunterschiede in kleinen Gründerpopulationen entstanden und hätten bis jetzt zu wenig (60000 Jahre) Zeit gehabt, sich wesentlich miteinander zu vermischen; im zweiten Fall wären diese Unterschiede die bescheidenen Überreste weitaus größerer Differenzen unter alten Homo-erectus-Populationen, die sich durch interkontinentalen Genaustausch weitgehend angeglichen hätten.

Die Frage ist zwar ein – wohlfeiles – Lieblingsthema der Medien und einiger interdisziplinärer Zeitschriften, aber die Genetiker haben sich im Wesentlichen einhellig für die erste Antwort entschieden und wenden sich interessanteren Fragen zu – was Klein und Takahata auch hätten tun sollen: Stammen die Europäer von neusteinzeitlichen Bauern oder von altsteinzeitlichen Jägern und Sammlern ab? Wurde Polynesien auf einen Schlag oder allmählich besiedelt? Gab es eine voreiszeitliche Einwanderungswelle nach Amerika oder mehrere spätere? Muss man eine separate Wanderungsbewegung von Afrika nach Papua und Australien unterstellen, um die phänotypische Ähnlichkeit der dortigen Ureinwohner mit den Schwarzafrikanern zu erklären?

Im letzten wissenschaftlichen Kapitel kehren die Autoren zu ihrem ureigenen Thema zurück: der Berechnung prähistorischer Populationsgrößen. Noch steckt sie in den Kinderschuhen, wie die Autoren freimütig einräumen. So arbeitet man mit einem – mathematisch wohldefinierten – theoretischen Konstrukt namens "effektive Populationsgröße", dessen Aussagekraft noch sehr unklar ist. Für den Langzeit-Durchschnitt der effektiven Populationsgröße unserer eigenen, milliardenstarken Spezies ergibt sich mit den gegenwärtigen Modellen der abwegige Wert von 10000 Individuen. Aber wenn man realistische Parameterwerte und paläoklimatische Daten einbezieht, hat dieser Forschungszweig ohne Zweifel eine Zukunft und ist ein würdiger Abschluss für den wissenschaftlichen Teil des Werkes.

Wer sollte dieses Buch lesen? Meine Studenten auf jeden Fall. Aber entgegen den Hoffnungen der Autoren wage ich zu bezweifeln, ob es in der gegenwärtigen Form einen unentschlossenen Studienanfänger zum Jung-Evolutionsgenetiker machen kann. Nur in den zentralen Kapiteln ist die Begeisterung des Wissenschaftlers zu spüren, der mit neuen Daten und Methoden in unbekanntes Gelände vordringt.

Von dieser Einschränkung abgesehen hat das Buch zurzeit keine ernsthafte Konkurrenz.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2003, Seite 97
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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