Editorial: Wider die Intuition
Als ich in den 1990er Jahren Physik studierte, galt die Angelegenheit als ausgemacht. Unisono prognostizierten unsere Professoren, dass alle vier bekannten Fundamentalkräfte der Natur – die elektromagnetische, die starke und die schwache Kernkraft sowie die Gravitation – in einer übergreifenden Theorie zusammengefasst werden könnten. Bereits in der Einführungsvorlesung wurden uns zwei Gründe für diese Annahme kredenzt: Zum einen verlange dies schlicht die »physikalische Intuition«. Und zum anderen habe man auf dem Weg der Vereinigung ja schon fast alles erreicht; allein die Schwerkraft ziere sich noch.
Tatsächlich ist die Physik des 20. Jahrhunderts eine Erfolgsgeschichte der Vereinheitlichung. Nachdem James Clerk Maxwell bereits zuvor Magnetismus und Elektrizität als zwei Phänomene gemeinsamen Ursprungs verstanden hatte, entwickelten Sheldon Lee Glashow, Steven Weinberg und Abdus Salam Ende der 1960er Jahre ein Modell, das die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung elegant zur »elektroschwachen Kraft« zusammenschließt. Diese wiederum konnte in den nachfolgenden Jahrzehnten mit der starken Kernkraft zum umjubelten und experimentell sehr gut erhärteten Standardmodell der Elementarteilchen erweitert werden. Allein die vierte der grundlegenden Wechselwirkungen, die Gravitation – für sich genommen durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie beschrieben –, war noch außen vor. Eine ganze Physikergeneration später ist das weiterhin der Fall. Alle Versuche, eine ultimative »Weltformel« aufzustellen, scheiterten trotz immensen Aufwands krachend. Ist die Schwerkraft womöglich gar nicht auf Spur zu bringen? Entpuppt sich die »physikalische Intuition« am Ende als Wunschdenken?
Noch muss niemand ein solches Urteil fällen. Vielleicht haben die Theoretiker, von den Erfolgen der Vergangenheit beflügelt, schlicht den falschen Weg eingeschlagen, als sie versuchten, auch die Gravitation zu quantisieren, nachdem dies bei sämtlichen anderen Grundkräften geglückt war. Unser Autor Antoine Tilloy verfolgt daher einen anderen Ansatz. Der Forscher vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching bei München stellt ab S. 12 eine neue Theorie vor, die Relativitätstheorie und Quantenphysik so miteinander verbindet, dass die Schwerkraft ihren klassischen Charakter behält.
Eine inspirierende Lektüre wünscht
Ihr
Carsten Könneker
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