Hirnforschung: Wie arbeitet das Gehirn eines Rechenkünstlers?
Mit erstaunlichen Kopfrechenkünsten sorgte der 29-jährige Rüdiger Gamm in Fernsehshows wie "Wetten dass ..?" für Aufsehen. Jetzt haben Hirnforscher sein Geheimnis gelüftet.
Eine kleine Kopfrechenaufgabe gefällig, zum Beispiel 2 + 2 ? Das ist Ihnen zu einfach? Wie wäre es mit 76 x 68 ? Schon schwieriger, aber mit dem großen Einmaleins und einigen Rechenregeln aus der Grundschule bewältigen Sie auch dies ohne Papier und Bleistift. Möchten Sie es zum Schluss einmal mit 539 probieren? Lieber doch nicht? Für den 29-jährigen Rüdiger Gamm ist diese Kopfrechenaufgabe kein Problem. Nach wenigen Sekunden präsentiert er das exakte Ergebnis. Mit diesen und anderen Rechenkünsten hat er bereits das Millionenpublikum von "Wetten dass ..?" verblüfft. Warum ist seine Leistung für uns so erstaunlich, und was befähigt ihn dazu?
Schon die mittelschwere Multiplikation 76 x 68 fordert unsere ganze Konzentration. Nicht weniger als sieben Rechenschritte müssen ausgeführt sowie sechs Zwischenergebnisse gespeichert und wieder vergessen werden. Unser Gehirn legt die Zwischenresultate im so genannten Arbeitsgedächtnis ab. Das ist ein Kurzzeitspeicher, in dem wir Informationen einige Minuten bewahren können, wenn wir sie aktiv wiederholen. So merken wir uns eine Telefonnummer, während wir sie in die Tastatur des Handys tippen. Aber schon hier stoßen wir an die Kapazitätsgrenzen des Kurzzeitspeichers: Maximal sieben Informationseinheiten passen da hinein, zum Beispiel eine zufällige Folge von sieben Ziffern oder Buch-staben.
Gamms Arbeitsgedächtnis kann immerhin elf Elemente fassen. Und oft entlastet er es, indem er, statt zu rechnen, die Ergebnisse einfach abruft. Deshalb das kommt Resultat von 76 x 76 bei ihm wie aus der Pistole geschossen. Gamm entnimmt es einer Rechentafel mit Quadratzahlen, die er – genauso wie Tabellen mit Quadrat- und Kubikwurzeln – mit bewundernswertem Fleiß auswendig gelernt hat. Anders bei 76 x 68 – da rechnet er und braucht für die sieben Schritte und sechs Zwischenergebnisse immerhin vier Sekunden. Dabei wird sein Arbeitsgedächtnis zwar beansprucht, aber nicht überfordert. Dagegen müsste es bei 53E9 eigentlich passen, denn schon 53E7 hat mehr als elf Ziffern. Aber Gamm kümmert dies wenig. Er schweigt ein paar Sekunden länger – dann verkündet er das Ergebnis.
Jetzt haben belgische und französische Forscher um den Neuropsychologen Mauro Pesenti von der Katholischen Universität von Louvain den Versuch unternommen, Gamms fabelhafte Leistungen zu enträtseln. Dazu verglichen sie seine Hirnaktivität beim Kopfrechnen mit derjenigen von sechs Personen mit durchschnittlichem Rechentalent (NatureNeu-roscience, Bd. 4, S. 103). Für den Test bereiteten die Forscher Aufgaben vor, die auf beide Leistungsniveaus Rücksicht nahmen. Dann baten sie die Kandidaten zum Kopfrechnen im Akkord: Ein Bildschirm präsentierte die erste Aufgabe; sobald der Proband das Ergebnis richtig aufsagte, erschien die nächste Frage, und so fort. Währenddessen machten die Forscher mit der Positronenemissionstomografie, einer Schwester der Computertomografie, die räumlichen Muster der Hirnaktivität sichtbar.
Zunächst fanden sie ihre Vermutung über das Arbeitsgedächtnis bestätigt: Bei allen Probanden leistete es Schwerstarbeit. Das galt besonders für jenen Bereich, der sich mit der Zwischenspeicherung räumlich-visueller Informationen beschäftigt; Hirnforscher nennen ihn den "räumlich-visuellen Notizblock". Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als Zahlen an sich keine räumlich-visuelle Qualität haben. Eine Neuronengruppe, die gewöhnlich immer dann aktiv wird, wenn wir unsere Finger bewegen, lief ebenfalls heiß. Offensichtlich hinterlässt die frühkindliche Art des Zählens und Rechnens Spuren im Gehirn: Die gleichen Neuronen, die damals beansprucht wurden, beteiligen sich auch an den Rechenleistungen des Erwachsenen.
Doch aufschlussreicher als die Gemeinsamkeiten waren die Unterschiede, die in den Gehirnen der Probanden zum Vorschein kamen: Bei Gamm zeigten fünf weitere Hirnareale, die bei den durchschnittlichen Rechentalenten untätig waren, einen kräftig erhöhten Aktivitätspegel. Sie zählten vorwiegend zum Langzeitgedächtnis, und zwar zu jenem Teil, der Episoden speichert, zum Beispiel eine Szene in einem Restaurant. Wenn wir uns an das köstliche Menü erinnern, dann kommt uns auch rasch wieder in den Sinn, was sich sonst noch während des Essens, aber auch davor und danach ereignete. Das episodische Gedächtnis bettet Vergangenes immer in einen raum-zeitlichen Zusammenhang ein.
Nun beruhen Gamms Fähigkeiten nicht zuletzt auf hartem Training. Seit er sich vor einigen Jahren erstmals für eine Fernsehshow bewarb, hat er täglich stundenlang Zahlenwissen und Rechenregeln gepaukt. Dabei hat er sein Langzeitgedächtnis offenbar zu einer gut bestückten und wohl sortierten Spezialbibliothek ausgebaut. Nach eigenem Bekunden strukturiert er den Dschungel der Zahlenwelt mit Hilfe visueller Vorstellungen. Auf diese Weise gelingt es ihm, das raum-zeitliche Ordnungsprinzip des episodischen Gedächtnisses zu nutzen. Damit kann er bei Bedarf schnell auf einzelne Fakten zugreifen.
Und es gibt noch eine weitere Erklärung für den hohen Aktivitätspegel in Gamms episodischem Gedächtnis. Sie liegt in der Natur der Rechenaufgaben selbst: Mit ihren Schritten und Zwischenresultaten bieten sie sich für eine Übersetzung in ein raum-zeitliches Muster geradezu an. Zwar ist für Kopfrechnen normalerweise das Arbeitsgedächtnis zuständig. Doch Gamms Training hat wohl das teilweise Outsourcing dieser mühsamen Tätigkeit ins episodische Langzeitgedächtnis bewirkt.
Dessen schier unerschöpfliche Möglichkeiten nutzten übrigens, ohne es zu ahnen, bereits die Rhetoriker der Antike. Cicero empfahl Rednern, sich ein Gebäude mit Zimmern und Gegenständen vorzustellen und die Stichpunkte der Rede diesen Orten zuzuweisen. Beim Vortrag sollten sie dann im Geiste durch das Gebäude gehen und die Stichpunkte nacheinander abrufen. Über 2000 Jahre nach Ciceros Rat offenbart die moderne Hirnforschung am Beispiel eines Rechenkünstlers, welches Potenzial im Langzeitgedächtnis steckt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2001, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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