Mai 1988: Wie der Leopard zu seinen Flecken kommt
Säugetiere zeigen eine Fülle von Fellzeichnungen; entsprechend zahlreich sind die Versuche, den Ursprung dieser Muster zu erklären – viele der Deutungen wirken freilich nicht viel überzeugender als Rudyard Kiplings Argumentation in seinem köstlichen Essay »How the Leopard Got its Spots« (»Wie der Leopard zu seinen Flecken kam«).
Klar ist, daß letztlich Gene die Fellzeichnung bestimmen; aber wie sich die Muster im einzelnen bilden, darüber gibt es bislang nur Vermutungen. Dabei wäre es vom evolutions- wie auch vom entwicklungsbiologischen Gesichtspunkt aus interessant zu wissen, ob all den vielfältigen natürlichen Fellzeichnungen vielleicht ein gemeinsamer Mechanismus zugrundeliegt.
Dies ist, meine ich, tatsächlich der Fall. Ich werde hier in knapper Form ein einfaches mathematisches Modell vorstellen, das beschreibt, wie die verschiedenen Fellzeichnungen im Laufe der Embryonalentwicklung entstehen könnten. Dieses Modell vermag Muster zu erzeugen, die denen von zahlreichen Tieren wie Leopard, Gepard, Jaguar, Zebra und Giraffe verblüffend ähneln. Es steht außerdem mit der Beobachtung in Einklang, daß die Anordnung der Flecken bei Wildkatzen oder der Streifen bei Zebras, obwohl sie variantenreich und individuell deutlich verschieden ist, innerhalb einer jeden Art doch einem allgemeinen Schema folgt. Außerdem sagt das Modell voraus, daß die Muster nur bestimmte Formen annehmen können, was wiederum auf beschränkende Faktoren in der Embryonalentwicklung hinweist und ein Licht auf die Evolutionsgeschichte der Fellzeichnungen wirft.
Wodurch genau während der Embryonalentwicklung Muster entstehen, weiß man nicht. Theoretisch können mehrere Mechanismen die Bildung von Fellzeichnungen erklären. Mein einfaches Modell besticht dabei durch seine mathematische Vielseitigkeit und die erstaunliche Ähnlichkeit der von ihm kreierten Muster mit den tatsächlich auftretenden. Ich hoffe, daß es zu Experimenten anregt, mit denen sich der biologische Mechanismus der Musterbildung definitiv aufklären läßt.
Von Pigmenten und Vormustern
Lassen Sie mich zunächst kurz zusammenfassen, was über Fellzeichnungen bisher bekannt ist. Die Farbe der Fellhaare bestimmen besondere Pigmentzellen, Melanocyten genannt, die in der tiefsten Schicht der Haut liegen. Die Melanocyten bilden einen Farbstoff, das Melanin, den sie an das Haar abgeben. Bei Säugetieren gibt es im wesentlichen nur zwei Sorten von Melanin: Eumelanin (von griechisch eu für gut und melas für schwarz), das Haare braun bis schwarz färbt, sowie Phaeomelanin (von griechisch phaeos für staubig), das ihnen eine gelbe bis rötlich-orange Färbung verleiht.
Ob die Melanocyten Melanin bilden oder nicht hängt nach allgemeiner Ansicht von der Gegenwart chemischer Aktivatoren und Inhibitoren ab. Obwohl man diese Stoffe bisher nicht kennt, nimmt man an, daß jede sichtbare Fellzeichnung ein chemisches Vormuster in oder direkt unter der Haut widerspiegelt. Die Melanocyten lesen dieses Muster dann lediglich ab. Das Modell, das ich beschreiben werde, könnte solch ein Vormuster erzeugen.
Meine Studie basiert auf einem Vorschlag des britischen Mathematikers Alan M. Türing, dem Entdecker der Turing-Maschine (einer universellen Rechenmaschine) und Begründer der modernen Rechnertheorie. Im Jahre 1952 postulierte Turing in einer der wichtigsten Veröffentlichungen auf dem Gebiet der theoretischen Biologie einen chemischen Mechanismus für die Entstehung von Fellzeichnungen. Danach sollte jede biologische Form einem durch die Konzentration sogenannter Morphogene vorgezeichneten Muster folgen. Die Existenz dieser Morphogene ist noch immer fraglich; dennoch spricht für Türings Modell, daß es offensichtlich eine große Anzahl experimenteller Resultate durch ein oder zwei einfache Vorstellungen zu erklären vermag.
Türing ging davon aus, daß die Morphogene miteinander reagieren und durch Zellen diffundieren können. Anhand eines mathematischen Modells zeigte er dann, daß die Konzentrationen zunächst gleichmäßig über eine Zellpopulation verteilter Morphogene, wenn diese nur in der richtigen Weise miteinander reagieren und diffundieren, räumliche Muster ergeben können.
Türings Modell hatte eine ganze Klasse von Nachfolgern, die heute als Reaktions-Diffusions-Modelle bezeichnet werden. Sie sind immer dann anwendbar, wenn es sich verglichen mit dem Durchmesser der einzelnen Zelle um ein großes Muster handelt. Das is beispielsweise beim Fell des Leoparden der Fall, da ein Fleck zum Zeitpunkt der Musterbildung hier eine zwei- bis dreistellige Anzahl von Zellen umfaßt.
Ein Waldbrand als Beispiel
Turings Ideen wurden von einer Reihe von Wissenschaftlern, zu denen auch ich gehöre, zu einer umfassenderen mathematischen Theorie ausgebaut. Bei einem typischen Reaktions-Diffusions- Modell beginnt man mit zwei Morphogenen, die verschiedene Reaktionen eingehen und unterschiedlich schnell diffundieren können.
Bei fehlender Diffusion – beispielsweise in einer gut durchgerührten Mischung – würden die beiden Morpho- gene überall im gleichen Ausmaß miteinander reagieren, so daß ihre Konzentration überall gleich bliebe und schließlich einen stationären Zustand erreichen würde. Daran ändert sich auch nichts, wenn die Morphogene mit gleicher Geschwindigkeit diffundieren; denn jede lokale Abweichung vom stationären Zustand würde dabei von selbst ausgeglichen.
Bei verschiedenen Diffusionsgeschwindigkeiten dagegen wirkt die Diffusion potentiell destabilisierend: Die Reaktionsgeschwindigkeiten an irgendeinem Punkt vermögen sich dann unter Umständen nicht mehr schnell genug einzuregeln, damit der Gleichgewichtszustand erreicht wird. Unter geeigneten Bedingungen kann eine kleine räumliche Störung so nicht mehr abgefangen werden und vermag damit eine Musterbildung auszulösen. Derartige Instabilitäten heißen diffusionsgetrieben.
Bei Reaktions-Diffusions-Modellen nimmt man an, daß eines der beiden Morphogene ein Aktivator ist, der die Melanocyten zur Bildung einer Melaninsorte – sagen wir der schwarzen – veranlaßt. Der andere ist nach dieser Vorstellung dagegen ein Inhibitor, der die Melanin-Produktion in den Pigmentzellen stoppt. Angenommen, durch die Reaktionen nimmt die Konzentration des Aktivators lokal zu, während zugleich auch die Inhibitor-Produktion steigt. Wenn dann der Inhibitor schneller als der Aktivator diffundiert, entsteht eine Insel hoher Aktivator- Konzentration innerhalb einer Region mit hohem Inhibitor-Gehalt.
Eine recht gute Vorstellung davon, wie solch ein Aktivator-Inhibitor-Mechanismus räumliche Muster hervorzubringen vermag, kann das folgende, teils freilich etwas unrealistische Beispiel vermitteln. Man stelle sich einen sehr trockenen Wald vor, der bei dem kleinsten Funken Feuer fängt. Um mögliche Brandschäden minimal zu halten, haben sich Feuerwehrleute mit Hubschraubern und Brandbekämpfungsgerät über den gesamten Wald verteilt. Nun bricht tatsächlich ein Feuer (der Aktivator) aus, und eine Feuerfront beginnt sich auszubreiten. Anfänglich gibt es nicht genügend Brandbekämpfer (die Inhibitoren) in unmittelbarer Nähe des Feuers, um es zu ersticken. Mit ihren Helikoptern können die von der Feuerfront erreichten Brandbekämpfer jedoch vor dieser fliehen, sich eine Strecke davor sammeln und Brandschutzmittel auf die Bäume sprühen. Sobald das Feuer die besprühten Bäume erreicht, erlischt es: Die Front ist gestoppt.
Wenn plötzlich wahllos an mehreren Stellen des Waldes Feuer ausbricht, werden sich mit der Zeit mehrere Feuerfronten (Aktivierungswellen) ausbreiten. Vor jeder Front setzen sich die Brandbekämpfer in ihren Helikoptern (Inhibitionswellen) nach außen ab und bringen die Front in einiger Entfernung vom Brandherd zum Erlöschen. Am Ende bleibt ein Wald mit einem schwarz-grünen Fleckenmuster zurück; die schwarzen Flecken zeugen vom Brand, während die grünen von den besprühten, brandgeschützten Bäumen herrühren.
Im Prinzip entspricht das Ergebnis demjenigen des obigen Modells. Welcher Mustertyp entsteht, hängt dabei von den Parametern des Modells ab und läßt sich einer mathematischen Analyse entnehmen.
Beschreibung der Reaktions-Diffusions-Modelle
Zahlreiche Reaktions-Diffusions- Modelle, denen wahrscheinliche oder tatsächliche biochemische Reaktionen zugrunde liegen, sind inzwischen aufgestellt und darauf geprüft worden, ob und welche Muster sie hervorrufen. Als Parameter enthalten sie unter anderem die Geschwindigkeitskonstanten der einzelnen Reaktionen, die Diffusionskoeffizienten der beteiligten Stoffe und – was besonders wichtig ist – die Form und Größe des Gewebes.
Eine faszinierende Eigenschaft von Reaktions-Diffusions-Modellen wird deutlich, wenn man mit einem einheitlichen stationären Zustand beginnt und sämtliche Parameter bis auf einen einzigen konstant hält. Läßt man beispielsweise nur die Größe des Gewebes zunehmen, erreicht das System schließlich einen kritischen Punkt, einen sogenannten Gabelungswert, an dem der stationäre Zustand der Morphogene instabil wird und räumliche Muster zu entstehen beginnen.
Das optisch eindrucksvollste Beispiel einer Reaktions-Diffusions-Musterbildung liefert die farbenprächtige Klasse chemischer Reaktionen, die Ende der fünfziger Jahre von den sowjetischen Wissenschaftlern B.P. Belousov und A.M. Zhabotinsky entdeckt worden ist (siehe »Oszillierende Chemische Reaktionen« von Irving R. Epstein, Kenneth Kustin, Patrick De Kepper und Miklös Orbän in Spektrum der Wissenschaft, Mai 1983). Diese Reaktionen organisieren sich optisch sichtbar räumlich und zeitlich selbst, zum Beispiel als Spiralwellen. Dabei können sie mit uhrwerkartiger Präzision oszillieren, so daß die Farbe beispielsweise genau zweimal pro Minute von Blau nach Rot und wieder nach Blau umschlägt.
Ein anderes Beispiel für natürliche Reaktions-Diffusions-Muster hat der französische Chemiker Daniel Thomas 1975 entdeckt und untersucht. Diese Muster entstehen durch Reaktionen zwischen Harnsäure und Sauerstoff auf einer dünnen Membran, innerhalb der die Stoffe diffundieren können. Obwohl die Membran ein immobilisiertes Enzym enthält, das die Reaktion beschleunigt, kommen in dem empirischen Modell, das den Mechanismus beschreibt, lediglich die beiden chemischen Substanzen vor – das Enzym ist irrelevant. Wegen der geringen Dicke der Membran kann man das System als zweidimensional betrachten.
Jeder Reaktions-Diffusions-Mechanismus, der diffusionsgetriebene räumliche Muster zu erzeugen vermag, dürfte ein plausibles Modell für Fellzeichnungen bei Tieren abgeben. Derartige Muster hängen stark von der Form und der Größe jenes Bereiches ab, in der die chemischen Reaktionen stattfinden. Folglich sollten Größe und Form des Embryos zum Zeitpunkt, zu dem die Reaktionen in Gang gesetzt werden, die entstehenden räumlichen Muster bestimmen. (Späteres Wachstum kann das ursprüngliche Muster natürlich noch verzerren.)
Die hier vorgestellten numerischen und mathematischen Ergebnisse basieren auf einem Modell, das aus der Arbeit von Thomas hervorgegangen ist. Bei typischen Werten für die verschiedenen Parameter läge die für die Musterbildung während der Embryogenese benötigte Zeit bei etwa einem Tag.
Ähnlichkeiten mit Vibrationsmustern
Interessanterweise ähnelt das mathematische Problem, die Anfangsstadien der räumlichen Musterbildung (wenn die Abweichungen vom uniformen Zustand noch gering sind) durch Reaktions-Diffusions-Mechanismen zu simulieren, demjenigen, die Vibration von dünnen Platten oder Trommelfellen zu beschreiben. Daher lassen sich Einsichten darüber, wie die Musterentstehung von Geometrie und Größe der Fläche abhängt, auch am Beispiel vibrierender Trommelfelle gewinnen.
Ein sehr kleines Trommelfell vibriert kaum nach, da die Schwingungen sofort verebben. Erst ab einer Mindestgröße kann eine nachhaltige Vibration entstehen. Angenommen, das Trommelfell, das dem Reaktions-Diffusions-Bereich entspricht, sei ein Rechteck. Je größer es nun wird, desto kompliziertere Vibrationen können sich ausbilden.
Wie die Form die möglichen Vibrationsweisen beschränkt, zeigt das Beispiel eines sehr schmalen Rechtecks, in dem praktisch nur einfache eindimensionale Vibrationen aufitreten können. Für echte zweidimensionale Muster muß das Fell breit und lang genug sein. Auch wenn das Rechteck zu einem Zylinder gebogen ist, darf dessen Radius nicht zu klein sein, da sonst gleichfalls nur quasi-eindimensionale Vibrationsarten auftreten, das heißt sich nur ringförmige Muster ausbilden. Erst ab einem bestimmten Radius kommen zweidimensionale Muster zum Vorschein. Infolgedessen kann ein Kegelstumpf einen kontinuierlichen Übergang von einem zweidimensionalen Muster zu einfachen Streifen zeigen.
Ergebnisse von Modellrechnungen
Doch kehren wir zu dem von mir untersuchten Reaktions-Diffusions-Mechanismus mit zwei Morphogenen zurück. Für meine Simulationen wählte ich einen festen Satz von Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten und Diffusionskoeffizienten, die zu einer diffusionsgetriebenen Instabilität führen konnten; die einzigen beiden Variablen waren Größe und Geometrie der Fläche. Als Ausgangsbedingungen meiner per Computer durchgeführten Berechnungen gab ich zufällige Störungen des gleichförmigen stationären Zustandesein. Die entstehenden Muster waren dort, wo die Konzentration eines der beiden Morphogene über oder unter der im ursprünglichen stationären Zustand lag, dunkel beziehungsweise hell gefärbt. Selbst unter diesen Beschränkungen bei den Parametern und Anfangsbedingungen war die Fülle möglicher Muster erstaunlich.
Wie nahe kommen die Ergebnisse des Modells typischen Fellzeichnungen und allgemeinen Färbungsmustern von Tieren? Ich begann mit Kegelstümpfen zur Simulation der Musterentstehung auf Schwanz und Beinen. Die Ergebnisse entsprechen dem, was für die Vibrationen von Platten gilt: Bei hinreichend kleinem Durchmesser gehen die Flecken schließlich in Streifen über.
Der Leopard (Panthern pardus), der Gepard (Acinonyx jubatus), der Jaguar (Panthera onca) und die Ginsterkatze (Genetta genetta) liefern anschauliche Beispiele für eine derartige Musterbildung. Der Leopard ist fast bis zur Schwanzspitze gefleckt. Der Schwanz von Gepard und Jaguar hat dagegen ein längeres gestreiftes Ende, während er bei der Ginsterkatze sogar völlig gestreift ist.
Dies steht in Einklang mit dem, was man über die embryonale Schwanzform bei den vier Tieren weiß. Vor der Geburt ist der Leopardenschwanz spitzkegelförmig und recht kurz. Daher sollten sich Flecken bis zur Schwanzspitze ausbilden können. (Der Schwanz des erwachsenen Leoparden ist lang, hat aber dieselbe Anzahl an Wirbeln.) Der Schwanz des Ginsterkatzenembryos – das andere Extrem – ist dagegen dünn und bemerkenswert gleichmäßig. Demnach sollte er gar nicht gefleckt sein.
Das Modell liefert auch den Fall einer der ganz wenigen dokumentierten Einschränkungen für Entwicklungsvorgänge. Ihm zufolge sind die möglichen Fellzeichnungen nämlich durch Größe und Form des Embryos begrenzt. Insbesondere gilt, daß ein geflecktes Tier zwar einen gestreiften, nicht aber ein gestreiftes Tier einen gefleckten Schwanz haben kann.
Auch die Fellzeichnung der Zebras habe ich simulieren können. Mit meinem Mechanismus eine Serie von Streifen zu erzeugen fällt nicht schwer. Kritischer ist der Übergang zwischen Vorderbein und Rumpf; doch auch hier ergibt das mathematische Modell das typische Muster der Schulterstreifen.
Um den Einfluß der Größe bei einer komplizierteren Geometrie zu untersuchen, berechnete ich die Muster für eine typische abstrakte Tierform, bestehend aus einem Rumpf, einem Kopf, vier Gliedmaßen und einem Schwanz. Ich begann mit einer sehr kleinen Form und vergrößerte sie schrittweise unter Beibehaltung der Proportionen. Dabei erhielt ich eine Reihe interessanter Ergebnisse.
Auch hier entsteht bei zu kleiner Fläche überhaupt keine Musterung. Mit zunehmender Größe kommt es dann zu einer Serie von »Gabelungen«: Aufspaltungen des Fells in eine wachsende Zahl verschiedenfarbiger Bereiche. Die dabei gebildeten Muster tauchen ebenso urplötzlich auf, wie sie wieder verschwinden.
Insgesamt ergibt sich eine immer stärkere Strukturierung, und es treten mehr und mehr Flecken auf. Schlanke Gliedmaßen behalten jedoch ihr Streifenmuster, selbst bei recht großen Flächen. Für sehr große Flächen wird die Struktur des Musters schließlich so fein, daß wieder eine fast einheitliche Färbung resultiert.
Die Bedeutung des Aktivierungszeitpunktes
Der Einfluß der Größe auf das Muster läßt vermuten, daß der Zeitpunkt, zu dem der Musterbildungsprozeß während der Embryogenese aktiviert wird, von höchster Bedeutung ist. Zumindest gilt das, wenn – wie hier stillschweigend vorausgesetzt – die Geschwindigkeitskonstanten und die Diffusionskoeffizienten bei verschiedenen Tieren annähernd übereinstimmen.
Wird der Mechanismus in der Frühphase der Entwicklung durch eine Art genetischen Schalter aktiviert, sollten kleine Tiere, die ja kurze Tragzeiten haben, einheitlich gefärbt sein. Das ist auch im allgemeinen der Fall. Bei etwas größeren Oberflächen zum Zeitpunkt der Aktivierung können die Tiere dann halb schwarz und halb weiß werden. Der Honigdachs (Mellivora capensis) und die Walliser Ziege (eine besondere Rasse der Hausziege Capra aegagrus hircus) sind zwei Beispiele. Je größer die Fellfläche zum Zeitpunkt der Musteraktivierung, desto stärker sollten die Tiere gemustert sein. Tatsächlich nimmt die Komplexität der Fellzeichnung von der Walliser Ziege über bestimmte Ameisenbären und das Zebra zum Leopard und Gepard hin stetig zu. Am oberen Ende der Größenskala stehen die Giraffen mit den nahe beieinanderliegenden Flecken ihres Fellkleides. Noch größere Tiere schließlich sollten wieder einheitlich gefärbt sein, was bei Elefant, Nashorn und Nilpferd in der Tat der Fall ist.
Ich gehe davon aus, daß der Aktivierungszeitpunkt für die Musterbildung genetisch fixiert ist. Zumindest für jene Tiere, deren Fell- oder Hautzeichnung überlebenswichtig ist, wird der Mechanismus offenbar dann »angeschaltet«, wenn der Embryo gerade die richtige Größe erreicht hat.
Natürlich sind die Bedingungen auf der Haut des Embryos zum Zeitpunkt der Aktivierung von Tier zu Tier etwas verschieden. Da das gebildete Muster unter anderem von diesen Bedingungen abhängt, liefert der Reaktions-Diffusions-Mechanismus auch bei gleicher Größe und Form nie identische Muster. Dennoch sind sich die Ergebnisse in qualitativer Hinsicht ähnlich. Bei einem Fleckenmuster zum Beispiel variiert lediglich die Verteilung der Flecken. Dies steht in Einklang mit der Tatsache, daß trotz gleichartiger Musterung innerhalb einer Tierart jedes einzelne Tier seine individuelle Fellzeichnung hat, die es erlaubt, Verwandte und Gruppenmit-glieder zu erkennen.
Nach meiner Vorstellung entsprechen die durch den Modellmechanismus erzeugten Muster dem räumlichen Verteilungsmuster der Morphogen-Konzentrationen. Liegt die Aktivator-Konzentration über einem bestimmten Schwellenwert, bilden die Melanocyten die Melanin-Pigmente. Der Einfachheit halber habe ich diesen Schwellenwert im allgemeinen gleich der Konzentration im homogenen stationären Zustand gesetzt.
Diese Annahme ist jedoch in gewisser Hinsicht willkürlich. Wahrscheinlich schwankt die Schwellenkonzentration selbst innerhalb einer Art etwas. Den Einfluß dieser Schwankungen untersuchte ich an verschiedenen Unterarten von Giraffen. Dazu änderte ich für einen bestimmten Mustertyp die Morphogen-Schwellenkonzentration für die Melanocytenaktivität. Auf diese Weise konnte ich Muster erzeugen, die denen von zwei Giraffen-Unterarten sehr ähnlich sind.
Vor kurzem haben Charles M. Vest und Youren Xu von der Universität von Michigan in Ann Arbor Ergebnisse meines Modells in eindrucksvoller Weise bestätigt. Sie erzeugten Muster aus stehenden Wellen auf einer vibrierenden Platte und untersuchten, wie sich die Art der Muster mit der Vibrationsfrequenz änderte. Mit Hilfe eines holographischen Verfahrens, bei dem die Platte in Laserlicht getaucht war, machten sie die Muster mit Hilfe eines Referenzstrahls als Interferenzmuster sichtbar.
Vest und Youren stellten fest, daß niedrige Vibrationsfrequenzen einfache, hohe dagegen komplizierte Muster entstehen lassen. Interessant war zudem die folgende Beobachtung: Das bei einer bestimmten Frequenz auf einer Platte gebildete Muster stimmte mit demjenigen überein, das auf einer größeren Platte bei einer entsprechend niedrigeren Frequenz entstand. Damit stützen Vest und Yourens Daten meine Schlußfolgerung, daß sich um so kompliziertere Muster bilden sollten, je größer die Fläche des Reaktions-Diffusions-Bereiches ist. Die Ähnlichkeit zwischen meinen Mustern und den erst später von den Wissenschaftlern in Ann Arbor produzierten ist jedenfalls frappierend.
Musteranomalien und Evolutionssprünge
Mein Modell liefert außerdem eine Erklärung für Musteranomalien, die bei einigen Tieren Vorkommen. Unter gewissen Bedingungen kann nämlich eine leichte Verschiebung bei einem Parameter eine deutliche Veränderung des Musters zur Folge haben. Die Stärke des Effekts hängt davon ab, wie nahe der Wert des Parameters bei einem Gabelungswert liegt, bei dem ein neuer Mustertyp auftritt.
Wird einer der Parameter, beispielsweise eine Geschwindigkeitskonstante, kontinuierlich verändert, kann es passieren, daß der Mechanismus von einem Zustand, bei dem sich keine räumlichen Muster bilden können, zu einem Zustand mit Musterbildung übergeht und schließlich wieder in den Bereich ohne Musterbildung zurückfällt. Solche abrupten Übergänge bei geringfügiger kontinuierlicher Verschiebung eines Parameters stehen in Einklang mit einer neueren Variante der Evolutionstheorie, die man als Punktualismus oder Theorie des zwischenzeitlich gestörten Gleichgewichtes bezeichnet. Danach sollen lange Perioden mit geringem evolutivem Wandel von kurzen Phasen schlagartiger Veränderungen unterbrochen werden.
Selbstverständlich beeinflussen zahlreiche Faktoren die Färbung von Tieren. Dazu gehören Temperatur, Feuchtigkeit und Nahrung ebenso wie Hormone und die Stoffwechselrate. Zwar könnte der Einfluß solcher Faktoren sicherlich durch Manipulation verschiedener Parameter simuliert werden; doch liegt darin wenig Sinn, solange man nicht mehr über die tatsächliche Entstehung der aus den Melanin-Pigmenten gebildeten Muster weiß.
Vorerst kann man nur konstatieren, daß die Mustervielfalt, die ein Reaktions-Diffusions-Modell allein durch Variation von Größe und Form hervorzubringen vermag, höchst erstaunlich ist. Dabei gibt die teils bis ins einzelne gehende Übereinstimmung mit spezifischen Mustermerkmalen von Tieren Anlaß zu Optimismus. Ich bin der festen Überzeugung, daß die meisten der in der Natur vorkommenden Fellzeichnungen über einen Reaktions-Diffusions-Mechanismus erzeugt werden können. Doch beweist die Übereinstimmung zwischen Simulation und Realität noch lange nicht die Richtigkeit meines Modells. Allein Experimente können es bestätigen oder widerlegen.
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