Wie entstand das Hochland von Tibet?
Jüngste seismische Sondierungen lieferten überraschende Befunde über den Untergrund Tibets, die genaueren Aufschluß über den Ursprung dieses weltweit größten Hochplateaus geben.
Die gewaltigen Dimensionen des tibetanischen Hochlands lassen sich erst richtig ermessen, wenn man es in Gedanken nach Europa versetzt. Hier wäre es ein Plateau auf dem Niveau der höchsten Alpengipfel, das vom Atlantik bis nach Weißrußland und von Norditalien bis nach Dänemark reichte.
Die Entstehung eines derart gigantischen Massivs ist um so erstaunlicher, als derselbe Vorgang, der es schuf, zur gleichen Zeit auch in Europa ablief: die Kollision zweier Festlandmassen als Folge der Kontinentaldrift. Diese Drift beruht letztlich auf dem großen Temperaturunterschied zwischen dem etwa 4000 Grad Celsius heißen flüssigen Erdkern in 2900 Kilometern Tiefe und der Erdoberfläche. Er erzeugt Wärmeausgleichsströmungen im Erdmantel, durch die in geologischen Zeiträumen an einzelnen Stellen heißes zähflüssiges Gestein aufsteigt, während anderswo abgekühltes Material absinkt. Auf dem sich langsam umwälzenden Erdmantel schwimmen die sehr alten, erkalteten, starren Kontinentalplatten, die in ihrem oberen Teil aus der Erdkruste bestehen, darunter aber auch Material des Erdmantels enthalten. Von der Strömung in der Tiefe mitgezogen, gleiten sie über die Erdoberfläche, teilen sich und öffnen dabei Meeresbecken oder stoßen zusammen und bilden in der Knautschzone Gebirge.
So bohrte sich vor rund 50 Millionen Jahren die Indische Platte in den asiatischen Kontinent, faltete den Himalaja auf, hob Tibet empor und erzeugte auch weiter nördlich noch großräumige topographische Veränderungen. In unserer Region rückte etwa zur selben Zeit Italien gegen den europäischen Kontinent vor und türmte die Alpen auf. Es entstand jedoch kein Pendant zu Tibet, nicht einmal im Miniaturformat.
Dieser krasse Unterschied beruht nur zum Teil darauf, daß Italien viel kleiner ist als der indische Subkontinent. Die – im doppelten Wortsinne – tiefere Ursache deckte erst kürzlich eine amerikanisch-deutsch-chinesische Expedition auf, die 1994 ins südliche Tibet aufbrach. Ihr Ziel war, genauer zu ermitteln, wie der Zusammenstoß zwischen Indien und Asien ablief. Die deutschen Teilnehmer kamen vom GeoForschungsZentrum in Potsdam (GFZ) und stellten die seismischen Meßstationen (Bild 1).
Traditionell sind seismische Methoden das Mittel der Wahl, um einen direkten Einblick ins Erdinnere zu gewinnen. Dabei verfolgt man die Ausbreitung elastischer Wellen, die von eigens ausgelösten Sprengungen erzeugt wurden oder von natürlichen Erdbeben stammen. Computer werten die anfallenden großen Datenmengen aus und setzen sie in Tiefenprofile um, die sprunghafte Änderungen der Gesteinsparameter im Erdinneren aufzeigen.
Explosionsseismische Methoden liefern aus der Analyse des reflektierten Wellenfeldes hochaufgelöste Bilder bis in etwa 50 Kilometer Tiefe. Erdbebenwellen ermöglichen dagegen einen – allerdings etwas weniger scharfen – Blick bis mehrere 100 Kilometer hinab. Dabei nutzt man aus, daß die von unten einfallenden Kompressionswellen weit entfernter Erdbeben an Unstetigkeiten im Erdinneren sekundäre Scherwellen erzeugen, deren Analyse gleichfalls Aufschluß über den Aufbau des Untergrundes gibt (Bild 2). In Tibet hat sich dieses in den letzten Jahren entwickelte Verfahren bestens bewährt. Die Explosionsseismik war dort nur begrenzt anwendbar, weil die Erdkruste die ungewöhnliche Dicke von 80 Kilometern hat und künstlich erzeugte Wellen nicht energiereich genug sind, so tief hinabzudringen.
Im Rahmen der Expedition wurden Signale von Sprengungen und Erdbeben längs eines 300 Kilometer langen Nord-Süd-Profils registriert, das die an der Erdoberfläche erkennbare Grenze zwischen Indien und Asien überspannte. Diese Trennlinie folgt dem Flußbett des Zangbo (der in Indien zum Brahmaputra wird) und verläuft etwa 100 Kilometer nördlich des Himalaja-Hauptkamms in Ost-West-Richtung. Mit dem umfangreichen Meßprogramm hofften wir, die wesentlichen Strukturen im Untergrund abbilden und daraus die Geschichte der Kollision zwischen Indien und Asien genauer rekonstruieren zu können.
Das Ergebnis war ebenso überraschend wie aufschlußreich (Bild 3 oben). Danach endet der zur Indischen Platte gehörende Mantel nämlich nicht an der Grenze zum asiatischen Kontinentalblock, sondern setzt sich in 80 Kilometern Tiefe horizontal noch wenigstens 200 Kilometer über den Zangbo hinaus nach Norden fort – mindestens so weit, wie das seismische Profil reichte, entlang dem der Untergrund sondiert wurde. Das kann nur bedeuten, daß die asiatische Erdkruste über den indischen Mantel vorgedrungen ist und dabei den Nordteil der indischen Kruste nach Süden gedrückt hat, so daß er über die dortige Kruste geschoben wurde. Diese Krustenverdopplung hat den Himalaja aufgetürmt und ist auch teilweise für die Anhebung von Tibet verantwortlich.
Für die Kollision zwischen der Europäischen und der Adriatischen Platte ergaben seismische Untersuchungen dagegen ein völlig anderes Bild (Bild 3 unten). Hier befindet sich die Grenze der beiden Platten für Kruste und oberen Mantel etwa an der gleichen Stelle, so daß die Kruste nicht verdoppelt wurde; vielmehr taucht der europäische Mantel direkt unter den Alpen ab.
Die Tibet-Expedition deckte noch eine zweite erstaunliche Besonderheit des dortigen Untergrundes auf, die vermutlich zur Schaffung des Hochplateaus beitrug und in Europa ebenfalls keine Entsprechung hat: In 20 bis 30 Kilometern Tiefe befindet sich unter dem südlichen Tibet eine Zone mit teilweise geschmolzenem Gestein. Wahrscheinlich ist durch die Überschiebung Nordindiens Krustenmaterial in so große Tiefen geraten, daß es bei den dort herrschenden hohen Temperaturen aufzuschmelzen beginnt und aufsteigt. Diese Schmelze könnte mit ihrem Auftrieb einerseits zur Anhebung Tibets beigetragen und durch ihre Plastizität andererseits bewirkt haben, daß das Plateau trotz seiner hohen Lage nur ein relativ geringes topographisches Relief aufweist – in krassem Gegensatz zum Himalaja.
In diesem und den nächsten beiden Jahren sind weitere Expeditionen geplant, um jene Fragen zu klären, welche die jüngste seismische Erkundung aufgeworfen hat, wegen der Lage der Profillinie aber nicht beantworten konnte: Wo stoßen indischer und asiatischer Man-tel aufeinander, und wie verläuft diese Grenze? Wie weit nach Norden erstreckt sich die Zone des partiellen Aufschmelzens in der Kruste unter Tibet? Die Antworten dürften weitere hochinteressante Einblicke in jenen kontinentalen Frontalzusammenstoß geben, dem die heutige Erde die höchsten Gipfel und das ausgedehnteste Hochplateau verdankt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 29
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben