Januar 2007: Wie Genies denken
Ein Mann geht an einer Reihe von Schachtischen entlang, die kreisförmig um ihn aufgestellt sind. An jedem lässt er zwei bis drei Sekunden lang seinen Blick über eine Partie schweifen und zieht eine Figur. Auf der Außenseite des Kreises sitzen Dutzende von Amateuren, die über den nächsten Zug nachdenken, bis ihr Gegner nach vollendeter Runde wieder bei ihnen angelangt ist. Wir schreiben das Jahr 1909. Der Mann ist José Raúl Capablanca aus Kuba und sein Triumph ist total: Er gewinnt alle 28 Partien. Das Simultan-Turnier absolvierte er im Rahmen einer Tour, auf der er 168 Siege in Folge errang.
Wie schaffte es der Kubaner, in diesem Tempo so gut zu spielen? Und wie tief konnte er in der kurzen Zeit die Partie analysieren? »Ich sehe nur einen Zug im Voraus«, soll Capablanca gesagt haben, »aber der ist immer der richtige.«
Mit diesem Bonmot brachte er auf den Punkt, was psychologische Untersuchungen in den hundert Jahren seither ergaben: Die Überlegenheit eines Schachmeisters gegenüber Anfängern zeigt sich vor allem in den ersten Denksekunden.
Auch Experten auf anderen Gebieten brillieren mit solch einem schnellen fachbezogenen Auffassungsvermögen, für das Leibniz einst den Begriff Apperzeption prägte. Ebenso wie sich ein Schachmeister alle Züge einer Partie, die er gerade gespielt hat, merken kann, vermag ein versierter Musiker die Partitur einer nur einmal gehörten Sonate niederzuschreiben. Und wie der Schachmeister den besten Zug im Handumdrehen findet, kann ein erfahrener Arzt in einer nur wenige Augenblicke dauernden Untersuchung eine akkurate Diagnose stellen.
Wie erlangen Experten dieser ganz unterschiedlichen Disziplinen ihre frappierenden Fähigkeiten? Wie viel ihres Könnens beruht auf angeborener Begabung und was geht auf das Konto intensiven Trainings? Psychologen haben bei Schachmeistern nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Was sie im Lauf eines Jahrhunderts an Erkenntnissen zusammentrugen, liefert neue Einsichten in die Art und Weise, wie das Gehirn Informationen aufbereitet, speichert und wieder abruft. Zugleich könnte es große Bedeutung für Lehrer haben. Vielleicht helfen dieselben Techniken, mit denen Schachmeister ihre Sinne schärfen, bei der Unterweisung von Schülern in Lesen, Schreiben und Rechnen.
Die Drosophila der Kognitionswissenschaft
Die Geschichte menschlichen Expertentums beginnt mit der Jagd. Sie meisterlich zu beherrschen war für unsere frühen Vorfahren überlebenswichtig. Der erfahrene Jäger weiß nicht nur, wo der Löwe gewesen ist, er kann auch schließen, wo er hingehen wird. Die Fähigkeit zum Spurenlesen verbessert sich, wie mehrere Studien zeigen, »von der Kindheit an linear bis zu einem Alter um Mitte dreißig, wo sie ihren Höhepunkt erreicht«, sagt John Bock, Anthropologe an der California State University in Fullerton. Einen Hirnchirurgen auszubilden geht schneller.
Wahre Experten müssen ihre haushohe Überlegenheit gegenüber Anfängern unter Beweis stellen können, sonst sind sie nur Stümper mit Diplom. Leider gilt das für allzu viele angebliche Spezialisten. So haben strenge Tests in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt, dass professionelle Anleger nicht erfolgreicher investieren als Amateure, renommierte Weinkenner bei der Beurteilung eines guten Tropfens nicht viel besser abschneiden als Banausen und hoch angesehene Psychiater ihren Patienten kaum wirksamer helfen als weniger berühmte Kollegen. Und selbst wo zweifelsfrei eine hohe Kompetenz vorhanden ist – wie etwa bei guten Lehrern oder erfolgreichen Geschäftsführern –, lässt sie sich oft nur schwer messen, geschweige denn erklären.
Für meisterliche Fähigkeiten im Schach gilt das nicht. Sie lassen sich in ihre Komponenten zerlegen, in Laborexperimenten überprüfen und in ihrer natürlichen Umgebung, bei Schachturnieren, leicht beobachten. Aus diesen Gründen dient das königliche Spiel als wichtigster Prüfstein für Theorien über das Denken – gewissermaßen als die Drosophila der Kognitionswissenschaft.
Fähigkeiten im Schach wurden gründlicher gemessen als bei allen anderen Spielen, Sportarten oder was immer für Tätigkeiten, die mit Wettbewerb einhergehen. Statistische Formeln erlauben es, die jüngsten Leistungen von Schachspielern mit früheren zu vergleichen und Erfolge anhand der Stärke des Gegners zu bewerten. Daraus ergibt sich eine Einstufung (ein Rating) in Form einer nach ihrem Erfinder Arpad E. Elo benannten Maßzahl, mit der sich der Ausgang weiterer Partien erstaunlich genau vorhersagen lässt. Wenn Spielerin A eine Elo-Zahl hat, die 200 Punkte über der von Spieler B liegt, wird sie im Schnitt 75 Prozent der Begegnungen mit B gewinnen.
Das gilt für Topspieler wie Anfänger. Der russische Exweltmeister Garry Kasparow mit einer Elo-Zahl von 2830 gewinnt im Schnitt drei von vier Partien gegen den an hundertster Stelle gelisteten Großmeister Jan Timman aus den Niederlanden, der es nur auf 2616 Punkte bringt. Ebenso wird ein durchschnittlicher Hobbyspieler mit einer Elo-Zahl um 1200 drei Viertel der Partien gegen einen gehobenen Anfänger mit nur 1000 Punkten für sich entscheiden.
Auf diese Weise können Psychologen die Fähigkeiten eines Schachmeisters anhand seiner Leistungen quantitativ bewerten, statt sie aus seinem fragwürdigen Renommee abzuleiten. Außerdem lassen sich Veränderungen der Spielstärke im Lauf einer Karriere verfolgen.
Ein letzter Grund, warum Kognitionswissenschaftler Schach als Modell gewählt haben und nicht etwa Billard oder Skat, ist sein Ruf als »Probierstein des Gehirns«, wie es Goethe im »Götz von Berlichingen« ausdrückt. Die Großtaten der Schachmeister gelten schon seit Langem als Ausdruck ihrer fast übermenschlichen Geisteskräfte.
Diese mentalen Fähigkeiten zeigen sich am klarsten in so genannten Blindpartien, in denen beide Spieler das Schachbrett nicht sehen dürfen. Im Jahr 1894 ließ sich der französische Psychologe Alfred Binet – Miterfinder des ersten Intelligenztests – von einigen Schachmeistern beschreiben, was dabei vor ihrem geistigen Auge abläuft. Er vermutete zunächst, dass die Blindspieler eine Art fotografisches Bild des Bretts im Kopf haben, wurde aber bald eines Besseren belehrt: Die »Visualisierung« läuft sehr viel abstrakter ab. Die Großmeister sahen mit ihrem inneren Auge keineswegs ein Foto der Stellung mit allen realistischen Details wie der Krone des Königs oder der Maserung des Holzes, sondern merkten sich nur allgemeine Dinge wie die Position einer Figur relativ zu den anderen. Die gleiche Art von implizitem Wissen hat etwa ein Pendler von den Haltestellen seiner U-Bahn-Linie.
Geflecht aus strukturiertem Wissen
Ein blind spielender Großmeister nutzt dabei auch Erinnerungen an Schlüsselpositionen aus früheren Partien. Nehmen wir einmal an, ihm ist die genaue Position eines Bauern entfallen. Er kann sie sich aber wieder ins Gedächtnis rufen, indem er zum Beispiel Standarderöffnungen im Kopf durchspielt, die sehr gut analysiert sind und nur wenige Optionen offen lassen. Oder er erinnert sich vielleicht an den Verlauf der Partie und überlegt: »Ich konnte den Turm zwei Züge zuvor nicht schlagen. Der Bauer muss daher im Weg gestanden haben ...« Es ist nicht nötig, dass ein Spieler alle Details ständig abrufbar im Kopf hat, da er jede Einzelheit bei Bedarf rekonstruieren kann, indem er auf ein wohlorganisiertes System von Querbezügen zurückgreift.
Mit einem solchen komplexen Gewebe aus strukturiertem Wissen lässt sich also erklären, wieso Schachmeister in Blindpartien erfolgreich sind. Würden auch ihre anderen Fähigkeiten – etwa das Vorausberechnen von Zügen oder das Ersinnen raffinierter Strategien – auf diesem mentalen Informationsnetz beruhen, hinge überragendes Können im Schach weniger von angeborenen Fähigkeiten als von gezieltem Training ab.
Der Psychologe Adriaan de Groot, selbst Schachmeister, fand dies schon 1938 bei einem großen internationalen Turnier in den Niederlanden bestätigt. Er verglich dabei durchschnittliche und starke Spieler mit den damals führenden Schachgroßmeistern. Dazu fragte er sie unter anderem nach ihren Überlegungen beim Auswerten einer Position aus einem der Turnierspiele.
Wie de Groot damals feststellte, untersuchten starke Spieler deutlich mehr Zugvarianten als schwache. Bei den Schachmeistern und -großmeistern stieg die Zahl der analysierten Züge dagegen nicht viel weiter an. Statt mehr Möglichkeiten zu durchdenken, beschränkten sich die besseren Spieler auf die aussichtsreicheren Varianten – wie schon Capablanca behauptet hatte – und verfolgten sie gründlicher.
Jüngste Forschungsergebnisse zeigen allerdings, dass de Groots Ergebnisse nur für die Art der von ihm gewählten Stellungen gelten. Wenn es auf intensive, präzise Überlegungen ankommt, können Großmeister ihre Erfahrung ausspielen und den sich verzweigenden Baum erlaubter Zugfolgen tiefer absuchen als irgendein Amateur. Analog überblicken erfahrene Physiker zuweilen mehr Möglichkeiten als Physikstudenten.
In beiden Fällen jedoch stützt sich der Experte weniger auf ein größeres angeborenes Talent zum analytischen Denken als auf seinen Datenspeicher aus strukturiertem Wissen. Mit einer komplizierten Stellung konfrontiert, mag ein schwächerer Spieler eine halbe Stunde über dem Brett brüten und viele Züge vorausberechnen, auf den richtigen aber trotzdem nicht kommen. Ein Großmeister hingegen sieht diesen Zug sofort, ohne überhaupt bewusst irgendetwas zu analysieren.
De Groot hatte seinerzeit noch einen anderen Versuch gemacht. Dabei ließ er seine Testpersonen eine Stellung für kurze Zeit betrachten und bat sie dann, diese aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Anfänger konnten nur wenige Figuren richtig anordnen, auch wenn sie dreißig Sekunden Zeit gehabt hatten, sich die Positionen einzuprägen. Großmeister dagegen hatten eine Stellung nach nur we nigen Sekunden im Kopf und reproduzierten sie fehlerlos. Das konnte nicht an ihrer besonderen Merkfähigkeit liegen; denn bei gewöhnlichen Erinnerungstests schnitten sie nicht besser ab als andere. Der Unterschied bezog sich nur auf Schach. Demnach musste er das Resultat von Erfahrung und Training sein.
Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Forscher auch auf anderen Gebieten. So können sich Bridgespieler besonders gut an üblicherweise gespielte Karten erinnern, Programmierer riesige Mengen von Computer-Code rekonstruieren und Musiker lange Notenfolgen im Gedächtnis behalten. Solch ein spezifisches Erinnerungsvermögen im jeweiligen Fach ist ein Standardkriterium für Expertentum.
Dass Schachmeister sich mehr auf strukturiertes Wissen als auf analytische Fähigkeiten stützen, geht auch aus einer seltenen Fallstudie hervor, die der Psychologe Neil Charness von der Florida State University in Tallahassee vor einiger Zeit vorlegte. Sie dreht sich um einen anfangs schwachen Spieler, der nach neun Jahren Training 1987 zu einem der führenden kanadischen Schachmeister aufstieg. Wie Charness nachwies, analysierte dieser Spieler, in der Veröffentlichung nur mit den Initialen D.H. bezeichnet, trotz des Anstiegs seiner Spielstärke Schachstellungen nicht ausgiebiger als zuvor. Stattdessen baute er auf seine stark verbesserten Kenntnisse solcher Stellungen und damit verbundener Strategien.
In den 1960er Jahren verfolgten Herbert A. Simon und William Chase, beide an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (Pennsylvania), eine andere Strategie: Sie wollten das Expertengedächtnis besser verstehen lernen, indem sie seine Grenzen erforschten. In gewissem Sinn machten sie da weiter, wo de Groot aufgehört hatte. Sie baten Spieler unterschiedlicher Stärke, sich Stellungen zu merken, die nicht aus Meisterpartien stammten, sondern künstlich konstruiert waren, sodass die Figuren an zufälligen Positionen auf dem Brett standen. Unter diesen Umständen fiel die Korrelation zwischen Spielstärke und Erinnerungsvermögen sehr viel geringer aus. Das Schachgedächtnis erwies sich somit als noch spezifischer als zuvor gedacht; statt auf das Spiel allgemein schien es sogar nur auf typische Stellungen zugeschnitten. Das bestätigte ältere Befunde, wonach Fähigkeiten in einem Gebiet nicht auf andere Bereiche übertragbar sind. Als Erster hatte dies der sychologe Edward Thorndike schon vor einem Jahrhundert herausgefunden. Er wies damals zum Beispiel nach, dass ein Lateinstudium nicht zu besseren Sprachkenntnissen in Englisch verhilft und dass das Üben geometrischer Beweise keineswegs die Fähigkeit zum logischen Denken im Alltag fördert.
Dicke Gedächtnisbrocken
Simon erklärte den unterschiedlichen Erfolg der Schachmeister beim Rekonstruieren von echten und künstlichen Stellungen mit einem Gedächtnismodell, das auf bedeutungshaltigen Mustern basiert. Für diese Einheiten prägte er den Ausdruck »Chunks«, der sich mit Brocken, Happen oder auch Bündeln übersetzen lässt. Nur mit ihrer Hilfe könnten, so Simon, Schachmeister riesige Mengen an gespeicherter Information handhaben – eine Aufgabe, die das Arbeitsgedächtnis scheinbar überfordert. Der Psychologe George Miller von der Universität Princeton (New Jersey) hatte 1956 nämlich die begrenzte Kapazität dieses Notizblocks im Gehirn nachgewiesen. In seiner wegweisenden Veröffentlichung »Die magische Zahl Sieben plus/minus Zwei« zeigte er, dass Menschen nur fünf bis neun Dinge gleichzeitig im Kopf behalten können.
Nach Ansicht von Herbert Simon umgehen Schachmeister diese Limitierung, indem sie Informationen zusammenfassen und als hierarchisch strukturierte Bündel abspeichern. Auf diese Weise können sie sich mit fünf bis neun solchen Brocken statt mit der gleichen Zahl simplerer Informationen auf einmal beschäftigen.
Nehmen wir den Satz »Mary had a little lamb«. Die Zahl der darin enthaltenen Informationsbrocken hängt davon ab, ob jemand das Gedicht kennt und wie gut er die englische Sprache beherrscht. Für die meisten englischen Muttersprachler gehört dieser Satz zu einem viel größeren Bündel – dem bekannten Gedicht. Für jemanden, der Englisch spricht, aber das Gedicht nicht kennt, ist er dagegen ein einzelner, in sich abgeschlossener Informationshappen. Wer die Wörter gelernt hat, aber ihre Bedeutung nicht versteht, hat es mit fünf Brocken zu tun. Und für Personen, die den Satz nur buchstabieren können, sind es 18 Einheiten.
Im Schach lassen sich auf analoge Weise Unterschiede zwischen Amateuren und Großmeistern feststellen. Für einen Anfänger hat ein Brett mit zwanzig Figuren mindestens zwanzig Informationshappen, da er sich für jede Figur die Position einprägen muss. Ein Großmeister hingegen erkennt einen Teil der Stellung etwa als »Rochade mit Fianchetto auf dem Damenflügel« und einen anderen als »blockierte königs-indische Bauernkette«. So muss er die ganze Position vielleicht in nur fünf bis sechs Brocken unterteilen. Simon hat die Zeit gemessen, die nötig ist, um einen neuen Happen im Gedächtnis zu speichern, und zugleich ermittelt, wie lange ein Spieler Schachstudien betreiben muss, bis er Großmeisterstärke erreicht. Daraus ergab sich durch simple Division, dass ein typischer Großmeister Zugriff auf ungefähr 50 000 bis 100 000 Schachinformationsbündel hat. Jedes vermag er aus dem Gedächtnisabzurufen, wenn er auf eine entsprechende Stellung blickt – so wie ein englischer Muttersprachler das komplette Gedicht »Mary had a little lamb« aufsagen kann, wenn er die ersten paar Wörter hört.
So überzeugend die Chunk-Theorie klingt, erwies sie sich in gewisser Hinsicht jedoch als unzulänglich. Zum Beispiel kann sie einige Aspekte des Gedächtnisses nicht erklären. Dazu gehört etwa die Fähigkeit von Experten, ihre Höchstleistungen selbst dann noch zu erbringen, wenn sie abgelenkt werden – eine beliebte Taktik bei Gedächtnisstudien. Deshalb glauben K. Anders Ericsson von der Florida State University und Charness, dass es einen Mechanismus geben muss, durch den Experten ihr Langzeitgedächtnis wie einen Arbeitsspeicher nutzen können.
»Dass hochklassige Spieler mit fast normaler Stärke Blindpartien spielen können, ist mit der Chunk-Theorie kaum erklärbar«, sagt Ericsson. »Denn man muss die Stellung kennen und sie dann im Gedächtnis erkunden.« Das aber erfordert eine Abwandlung der gespeicherten Informationsbrocken – als gelte es, »Mary had a little lamb« rückwärts aufzusagen. Es ist machbar, aber keineswegs einfach – und man würde sich dabei öfter verhaspeln. Dennoch spielen Großmeister auch unter Zeitdruck Blindpartien auf erstaunlich hohem Niveau.
Denken in Schablonen
Ericsson verweist zudem auf Untersuchungen an Ärzten, wonach diese für manche Diagnosen mehr als fünf bis neun Informationsbrocken aus ihrem Langzeitgedächtnis kombinieren. Als einfachsten Beleg für die Unzulänglichkeit der Chunk-Theorie nennt er Lesetests. Bei einer Untersuchung, die er 1995 zusammen mit Walter Kintsch von der Universität von Colorado durchführte, schafften sehr geübte Leser nach Unterbrechungen fast ohne Verzögerung den Wiedereinstieg in den Text; am Ende hatten sie meist nur wenige Sekunden verloren.
Die Forscher erklären das mit einer Struktur, die sie Langzeit-Arbeitsgedächtnis nennen – eine scheinbar widersprüchliche Bezeichnung, da sie dem Langzeitgedächtnis etwas zuschreibt, was bislang stets als inkompatibel mit ihm definiert wurde: die Denkfähigkeit. Hirnbild-Studien an der Universität Konstanz aus dem Jahr 2001 stützen diese Annahme indes. Demnach aktivieren Schachspieler auf Expertenniveau ihr Langzeitgedächtnis viel stärker als Anfänger.
Fernand Gobet von der Londoner Brunel-Universität vertritt dagegen eine andere Theorie, die er gemeinsam mit Simon Ende der 1990er Jahre aufgestellt hat. Sie erweitert die Idee der Informationshappen, indem sie sehr große, hochgradig typisierte Anordnungen aus vielleicht einem Dutzend Schachfiguren einbezieht. Eine solche Schablone (template) - so der Ausdruck dafür – hätte eine Reihe von variablen Positionen, an denen sich Figuren austauschen lassen.
Ein Beispiel wäre etwa die »isolierte Damenbauern-Stellung aus der nimzoindischen Verteidigung«. Ein Schachmeister könnte darin eine Position abwandeln und die Stellung als dieselbe »abzüglich der Läufer auf den schwarzen Feldern« klassifizieren. Bezogen auf unser Gedichtbeispiel, wäre das so ähnlich, wie sich ein Variante zu merken, in der einzelne Wörter durch andere, sich darauf reimende ersetzt werden – wie »Mary« durch »Larry« oder »school« durch »pool«. Wer das Original kennt, sollte in der Lage sein, die Variante im Nu im Gedächtnis zu behalten.
In einem Punkt stimmen alle Theoretiker überein: Es erfordert einen enormen Aufwand, all die Informationsstrukturen im Gehirn zu verankern. Simon formulierte eine Regel, wonach es ungefähr zehn Jahre harter Arbeit kostet, auf irgendeinem Gebiet ein Meister zu werden. Selbst so genannte Wunderkinder wie Gauß in der Mathematik, Mozart in der Musik oder Bobby Fischer im Schach müssen solch ein intensives Training durchlaufen haben – wahrscheinlich fingen sie nur früher damit an und mühten sich mehr als andere.
Vor diesem Hintergrund erscheint die sprunghafte Vermehrung von Schach-Wunderkindern in den letzten Jahren lediglich als Folge der rasanten Fortschritte in der Computertechnik und -programmierung. Dadurch haben Kinder heute Zugriff auf elektronische Datenbanken, mit denen sie weitaus mehr Großmeisterpartien nachspielen und studieren können als je zuvor. Zudem verfügen sie mit modernen Schachprogrammen über Gegner höchster Spielstärke, die für frühere Generationen unerreichbar waren. Fischer machte 1958 Schlagzeilen, als er im Alter von nur fünfzehn Jahren Großmeister wurde. Der heutige Rekordhalter, Sergej Karjakin aus der Ukraine, schaffte es mit zwölf Jahren und sieben Monaten.
Laut Ericsson kommt es nicht auf das Praktizieren an sich an, sondern auf das, was er »angestrengtes Üben« nennt. Das bedeutet, sich stets Herausforderungen zu stellen, denen man gerade eben noch nicht gewachsen ist. Aus diesem Grund kann jemand Zehntausende von Stunden Schach, Golf oder ein Musikinstrument spielen, ohne jemals über das Amateurniveau hinauszukommen, während ein anderer, richtig unterrichteter Schüler ihn relativ schnell überflügelt. Die mit Schachspielen verbrachte Zeit – auch bei Turnieren – trägt offensichtlich nur wenig zum Fortschritt eines Spielers bei. Der größte Wert normaler Partien ist, Schwächen aufzudecken, die es dann durch gezieltes Training zu beseitigen gilt.
Die meisten Anfänger praktizieren Ericssons angestrengtes Üben. Aus diesem Grund machen sie – etwa beim Golfspielen oder Autofahren – zunächst oft so schnelle Fortschritte. Haben sie jedoch ein akzeptables Leistungsniveau erreicht – wenn sie also mit ihren Golf-Freunden mithalten können oder den Führerschein besitzen –, lehnen sich viele Menschen entspannt zurück. Sie geben sich mit ihrem Können zufrieden und erbringen ihre Leistungen fortan »automatisch«, ohne sich mehr zu bemühen als nötig. Dadurch verbessern sie sich kaum noch.
Im Gegensatz dazu lassen angestrengt Übende nicht nach und steigern ihre Ansprüche immerzu: Sie analysieren ihre Leistung selbstkritisch, ziehen Lehren daraus und setzen sich höhere Ziele. So füllen sie ihr Langzeitgedächtnis mit immer weiteren Informationshappen und Schablonen, bis sie das Niveau der Besten auf ihrem Gebiet erreicht haben oder es sogar übertreffen.
Tatsächlich wird die Messlatte für wahres Könnertum heute auf fast allen Gebieten ständig angehoben. Das gilt nicht nur für den Sport, wo das Leistungsniveau insbesondere an den Schulen stetig steigt. Auch Musikstudenten an Konservatorien etwa spielen inzwischen Stücke, an die sich früher nur Virtuosen wagten. Im Schach haben die Ansprüche im Lauf der Zeit am deutlichsten zugenommen.
Der britische Schachgroßmeister John Nunn, der zugleich Mathematiker ist, verglich kürzlich mit Hilfe eines Computers die Fehler, die in zwei internationalen Turnieren – eins aus dem Jahr 1911, das andere von 1993 – begangen wurden. Bei dem neueren patzten die Spieler, wie sich zeigte, sehr viel weniger.
Außerdem analysierte Nunn alle Partien eines Teilnehmers aus dem 1911er Turnier, der seinerzeit einen Mittelplatz belegt hatte, und ermittelte daraus sein heutiges Rating. Es läge nur bei 2100 Punkten – hundert unter Großmeisterniveau. Die damaligen Schachgrößen waren zwar deutlich stärker, könnten sich mit den momentanen Topspielern aber nicht messen.
Capablanca und seine Zeitgenossen hatten eben weder Computer noch Datenbanken zur Verfügung. Sie waren bei ihrem Ringen um Meisterschaft ganz auf sich selbst gestellt – wie Bach, Mozart und Beethoven. Spieltechnisch könnten sie mit den heutigen Weltbesten deshalb nicht mithalten. Doch dafür glänzten sie in puncto Kreativität. Ähnliches dürfte für Newton im Vergleich mit typischen frischgebackenen Physikdoktoranden aus unserer Zeit gelten.
An dieser Stelle verlieren Skeptiker meist die Geduld. Mit Sicherheit, sagen sie, braucht es mehr als ausdauerndes Training, zum unsterblichen Genie zu werden. Für diesen Glauben an die Bedeutung angeborenen Talents, der in der Öffentlichkeit weit verbreitet ist, gibt es indes keinerlei harte Belege. Wissenschaftliche Studien zeigen eher das Gegenteil. So fand Gobet im Jahr 2002 bei einer Untersuchung an britischen Schachspielern von Amateuren bis zu Großmeistern keinerlei Zusammenhang zwischen Spielstärke und räumlich-visuellen Fähigkeiten, die er mit Form-Erinnerungstests ermittelte.
Obwohl es bislang noch niemandem gelungen ist vorherzusagen, wer ein Genie auf einem Gebiet werden wird, demonstriert ein bemerkenswerter Versuch die prinzipielle Möglichkeit, gezielt überragende Könner heranzuziehen. Der ungarische Lehrer László Polgar trainierte seine drei Töchter bis zu sechs Stunden täglich in Schach und machte sie so zu den am stärksten spielenden Geschwistern aller Zeiten. Zwei erreichten – als erste Frauen überhaupt – Großmeisterniveau, und die dritte schaffte es immerhin zur internationalen Meisterin. Die jüngste, die dreißigjährige Judit, steht nun auf Platz 14 der Weltrangliste.
Die Rolle der Motivation
Schachgroßmeister lassen sich also produzieren. Es ist sicher kein Zufall, dass die Zahl der Schachwunderkinder nach dem Erscheinen von Polgars Buch über seine Trainingsmethoden emporschnellte. In ähnlicher Weise schossen vor zwei Jahrhunderten musikalische Wunderkinder aus dem Boden, nachdem Mozarts Vater gezeigt hatte, wie man sie züchtet.
Auf dem Weg zur Genialität scheint Motivation ein wichtigerer Faktor zu sein als angeborene Fähigkeiten. Nicht ohne Grund wird besonders auf Gebieten wie Musik, Schach und Sport, in denen statt akademischer Titel das gute Abschneiden in Wettbewerben als Ausweis von Könnertum gilt, ein hohes Niveau in immer jüngeren Jahren erreicht – unter Anleitung entsprechend ehrgeiziger Eltern und Verwandter.
Dabei begünstigt ein Erfolg den nächsten, indem er die Motivation steigert. Eine 1999 durchgeführte Untersuchung an Profifußballern aus mehreren Ländern ergab, dass ihr Geburtstag überdurchschnittlich häufig in das Quartal nach dem alljährlichen Saisonbeginn fiel. Dadurch kamen die späteren Berufskicker vom Beginn ihrer Karriere an immer in etwas höherem Alter in die jeweilige Jugendspielklasse als die übrigen Kinder, sodass sie meist größer und kräftiger waren als ihre Mitspieler. Das machte sie tendenziell erfolgreicher und motivierte sie so zu verstärkten Anstrengungen.
Dennoch glauben Lehrer in Sport, Musik und anderen Disziplinen weiterhin, dass es primär auf das Talent ankäme, und halten sich für fähig, diese innere Befähigung zu erkennen. Dabei dürften sie jedoch Begabung mit Frühreife verwechseln. Bei einer Vorspielprobe lässt sich nicht unterscheiden, ob ein junger Violinist seine Qualitäten seinem vermeintlichen Talent oder etwa jahrelanger Musikerziehung nach der Suzuki-Methode verdankt.
Capablanca, der bis heute als einer der größten »geborenen« Schachspieler gilt, brüstete sich damit, nie gezielt trainiert zu haben. Dem widerspricht jedoch, dass zu den Gründen, warum er von der Columbia-Universität flog, übermäßiges Schachspielen gehörte. Demnach war seine berühmte Gabe, eine Stellung mit einem Blick zu erfassen, in Wahrheit wohl doch das Ergebnis fortwährenden Übens auf Grund seiner Schachbesessenheit – und keineswegs naturgegeben.
Die erdrückende Mehrheit psychologischer Untersuchungen belegt: Genies werden »gemacht« und nicht als solche geboren. Wenn nun aber alles darauf hindeutet, dass sich im Grunde jedes Kind bei entsprechender Förderung schnell zu einem Könner – im Schach, in der Musik und auf vielen anderen Gebieten – heranziehen lässt, sind Lehrer und Erzieher gefordert. Dieselben Methoden, die künftige Genies zu angestrengtem Üben bringen, sollten allen Schülern helfen, etwa ihre Leseund Rechenfähigkeiten zu verbessern. Roland G. Fryer jr., Ökonom an der HarvardUniversität in Cambridge (Massachusetts), hat in leistungsschwachen Schulen in New York und Dallas versuchsweise mit finanziellen Anreizen gearbeitet. So führen in einem noch laufenden Projekt in New York die Lehrer alle drei Wochen Tests durch; wer gut abschneidet, erhält zur Belohnung kleine Summen zwischen zehn und zwanzig Dollar.
Die bisherigen Ergebnisse sind viel versprechend. Statt ewig über die Frage »Warum kann Johnny nicht lesen?« nachzugrübeln, sollten sich Lehrer also lieber fragen: »Warum sollte es irgendetwas auf der Welt geben, das er nicht lernen kann?«
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