März 2002: Wie Maden Mörder entlarven
Ein paar Fliegenmaden halfen, die Todesumstände zu ermitteln. Die Leiche des Mannes lag im offenen Wasser nahe der schwedischen Insel Öland. Der Kopf war schon bis auf die Knochen verwest. Der Körper dagegen, der in einem Rettungsring hing, war noch nicht skelettiert. Vielmehr wirkte er wie aus Wachs geformt. Solches Fettwachs bildet sich unter längerem Luftabschluss, wenn Körperfett verseift.
Die Fliegenmaden saßen auf dem Schädel. Es handelte sich um Larven einer Seetangfliege, wissenschaftlich Coelopa frigida, die im offenen Meer nicht vorkommt, sondern an den Küsten der Ostsee lebt.
Die Leiche wurde Anfang Juni 1966 gefunden. Die Ermittlungen ergaben später, dass sie viereinhalb Monate im Wasser gelegen hatte, durch den Rettungsring mit dem Kopf über der Oberfläche. Schmeißfliegen, die einen Kadaver schnell zerstören, hatten den Toten bei den winterlichen Temperaturen nicht aufgesucht. Doch am Fundort herrscht eine Meeresströmung, die vorher an einer Küste entlangfließt, an der Seetangfliegen vorkommen. Diese Strömung berührt noch früher ein Meeresgebiet, in dem im Januar desselben Jahres ein finnisches Schiff untergegangen war. Demnach war der Tote vermutlich Seemann des gesunkenen Schiffes gewesen. Im kalten Meer war er bald erfroren, und die Leiche muss nach einiger Zeit an jener Küste vorbeigetrieben sein, wo Seetangfliegen auf ihr Eier ablegten.
Wie dieser Fall zeigt, handelt es sich durchaus nicht immer um eine Straftat, wenn die Polizei an der Spurensuche bei Todesfällen Insektenkundler – Entomologen – beteiligt. Auch andere Todesumstände lassen sich durch die Zusammenarbeit aufklären. Nicht selten besteht allerdings doch der Verdacht auf eine kriminelle Handlung, bis hin zum Mord. Der Insektenbefall der Leiche kann dabei viele Fragen klären helfen. So lässt sich anhand deren Besiedlung der Todeszeitpunkt manchmal recht präzise eingrenzen, auf den Tag oder sehr selten sogar auf die Stunde genau. Die verschiedenen Insekten, die eine Leiche nacheinander besiedeln, und zwar besonders die Fliegen und hauptsächlich ihre Maden, stellen regelrecht eine lebende Uhr dar. Auch ob der Mensch am Fundort starb oder an anderer Stelle, lässt sich unter Umständen durch die Kerbtiere, ihre Spuren und Überreste ermitteln – wie im Falle des Seemanns.
Insektenbefunde helfen aber nicht nur dabei, Todesfälle aufzuklären, sodass Täter überführt oder Selbstmorde erkannt werden. Genauso gut entlasten sie manchmal Beschuldigte. So kann sich erweisen, dass scheinbare Wunden nicht zu Lebzeiten durch fremde Gewalteinwirkung entstanden, sondern nach dem Tod durch Insektenfraß. Sogar ob eine Person Gift erhielt oder Drogen nahm, können Insekten anzeigen, die auf den Überresten gelebt haben.
Die forensische Entomologie, also die gerichtsmedizinisch-kriminalistische Insektenkunde, ist zwar eigentlich keine neue Fachdisziplin, doch in Deutschland ist sie selbst bei Kriminalisten erst seit wenigen Jahren wieder bekannt. Die kriminaltechnische Methode wird überhaupt nur in wenigen Ländern praktiziert, allen voran Frankreich, die Vereinigten Staaten und Kanada. In Deutschland fasste sie nach dem Zweiten Weltkrieg erst Mitte der neunziger Jahre wieder Fuß.
Dabei begannen systematische Forschungen über die Besiedlungsmuster von Insekten auf Leichen und deren Spuren schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vorher wussten die Menschen zwar, dass »Würmer«;- nach heutigem Verständnis Insektenlarven, darunter Maden – die Weichteile von Toten zersetzen. Das bezeugen seit dem 15. Jahrhundert viele bildliche Darstellungen, auf denen zerfressene Leichen musizieren oder die Auferstehung erwarten. Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) erwähnte als Beispiel dafür, wie rasch sich Leichenbewohner vermehren: Drei Fliegen könnten einen Pferdekadaver ebenso schnell zerstören wie ein Löwe.
Die ersten genaueren Berichte darüber, wie Insekten und andere Gliedertiere Leichen befallen, stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zunächst waren solche Studien Einzelfälle. 1850 sammelte der französische Mediziner Bergeret von einem toten Säugling Fliegenpuppen und Mottenlarven und versuchte, anhand ihrer Entwicklungszeiten zu bestimmen, wann das Neugeborene gestorben war. In der Wohnung, in der das Kind aufgefunden worden war, hatten nacheinander mehrere Familien gelebt. Bergeret wollte herausfinden, zu welcher Familie der schon vertrocknete Leichnam gehörte. Allerdings setzte er die Entwicklungszeiten der Insektenlarven viel zu lang an.
Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts berichtete der französische Rechtsmediziner Paul Brouradel in einem ähnlichen Fall, er habe auf einer Säuglingsleiche Milben gefunden. Brouradel erkannte auch schon, dass das Alter einer normalen Leiche anhand der darauf angetroffenen Gliedertiere genauer zu ermitteln ist als das eines vertrockneten Leichnams (der sehr alt sein kann).
Umfangreichere Studien führten um 1880 der Dresdener Zoologe H. Reinhard und der Wiener Insektenkundler Brauer durch, als in Sachsen das Bestattungswesen neu geregelt wurde und man darum ganze Friedhöfe aushob. Die Forscher entdeckten etwa in Särgen Buckelfliegen. Die nur zwei Millimeter langen Insekten graben von flachen Gräbern Gänge an die Oberfläche. So können sie in einem Grab über mehrere Generationen leben. In einem verschlossenen Zinn-Sarg fanden dieselben Forscher parasitische Schlupfwespen, die sich von Fliegenmaden ernähren. Der Sarg stand in einer Gruft, nicht in einem Erdgrab.
Etwa zur selben Zeit begann der französische Mediziner Jean Pierre Mégnin seine langjährigen Aufzeichnungen über die Phasen, in denen Insekten einen toten Körper befallen.
Drei Maden und eine Ameise überführen den Ehemann als Mörder
Er unterschied schließlich acht Besiedlungswellen, die bei einem freiliegenden Kadaver gewöhnlich aufeinander folgen, gekoppelt an den Zersetzungszustand: »frischtot«; – »beginnende Fäulnis« -»Fette« -»käseartige Produkte« – »ammoniakalische Fäulnis, Schwärzung« – »beginnende Vertrocknung« – »starke Vertrocknung« – »Skelettierung«. Bei begrabenen Leichen beschrieb er nur zwei Stadien.
Ein 1894 erschienenes Buch des Mediziners über die Fauna auf Kadavern gilt als Meilenstein in diesem Forschungsgebiet. Bald wurden breitere Kreise auf das Fach aufmerksam. Ein kanadisches Forscherteam begann kurz darauf systematische Studien an menschlichen freiliegenden Leichen und auch an lange begrabenen Toten.
In Frankreich und Deutschland begünstigte der Zeitgeist solche Forschungen. Der Zoologe Alfred Brehm (1829-1884) in Deutschland und stärker noch der Insektenforscher Jean-Henri Fabre (1823-1915) in Frankreich hatten mit ihren populären tierkundlichen Werken ein allgemeines Interesse für Kleingetier wie Insekten geweckt (siehe auch »Jean-Henri Fabre« , SdW 11/94, S. 102). Der Insektenband von Brehms »Thierleben« erschien 1877.
Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die forensische Entomologie aber fast in Vergessenheit. In Europa hielten nur drei Insektenkundler die Methode wach. In Deutschland war sie der Gerichtsmedizin jahrzehntelang praktisch unbekannt. Offensichtlich bot die Spezialdisziplin Wissenschaftlern in dieser Zeit keine Existenzgrundlage.
Das änderte sich im deutschsprachigen Raum vor fünf Jahren nach dem Mord an einer Pastorenfrau im Sommer 1997. In einem aufwendigen Indizienprozess, bei dem ich als Gutachter mitwirkte, wurde schließlich der Ehemann der Ermordeten der Tat überführt.
Die Erschlagene hatte mit schweren Gesichts- und Schädelverletzungen im Wald gelegen, auf ihr ein morsches Stück Holz, das auch ihr Gesicht verdeckte. Gerichtsmediziner konnten den Todeszeitpunkt wegen fortgeschrittener Verwesung nicht mehr genau bestimmen. Aus der Größe dreier Schmeißfliegenmaden zu schließen, die die Ermittler mir extra mit einem Sonderflug nach New York schickten, konnte die Frau nicht länger als drei Tage tot sein. Die übrigen Umstände ließen die Ermittler vermuten, dass sie kurz nach der Tat in den Wald gebracht worden war. Der Ehemann hatte für die vermutete Zeit kein Alibi. Außerdem haftete an seinen Gummistiefeln, die zu Hause standen, die gleiche Erde und Laubstreu, wie sie am Fundort vorkamen, nicht aber in der Nähe seiner Wohnung. Eines der wichtigsten Indizien war jedoch eine Ameise, die an den Stiefeln klebte. Auf der Toten krabbelten viele Ameisen derselben Art, die der Myrmekologe Bernd Seifert vom Naturkundemuseum Görlitz als Glänzend Schwarze Holzameise, Lasius fuliginosus, bestimmte. Wie der Ameisenexperte belegte, stammten diese Tiere mit sehr großer Wahrscheinlichkeit von einem Ameisennest in einem Baum ganz in der Nähe. Vom selben Baum kam das morsche Holzstück. Die betreffende Ameisenart bildet sehr große Staaten; die einzelnen Nester liegen allerdings sehr weit verstreut, sodass man nur selten auf sie trifft.
Der meines Wissens älteste dokumentierte Fall, in dem Insekten einen Mörder sozusagen überführten, ereignete sich im 13. Jahrhundert in China. Ein Bauer war nahe bei einem Reisfeld erstochen worden. Der Ermittler wies ein oder zwei Tage später alle Feldarbeiter an, ihre Sicheln vor ihm auf den Boden zu legen. Eines dieser Werkzeuge schien für Fliegen auffallend attraktiv: Etliche flogen diese eine Sichel an. Als der Ermittler nun den Verdacht äußerte, das sei die Tatwaffe, denn daran klebten offenbar noch Blutreste, gestand ihr Besitzer den Mord. Der Mann hatte bei dem Getöteten Schulden.
Erst wenige Jahre sind dagegen vergangen, seit meine Arbeitsgruppe bestätigen und erklären konnte, was die ermittelnde Polizei in einem Fall im US-Bundesstaat Nebraska vermutete: dass es trotz Blutspuren einen weiteren Ermordeten nicht gab. Man entdeckte in einem verschlossenen Raum zwei erschossene Menschen. Hoch oben in einer Zimmerecke fanden sich außerdem unerklärliche Blutsprenkel. Durch die Schüsse konnte das Blut aber nicht dorthin gespritzt sein. Doch woher sonst kam es, wenn es einen dritten beiseite geschafften Getöteten oder schwer Verwundeten offenbar nicht gab? Unsere Nachforschungen erwiesen, dass Fliegen die Blutspritzer verursacht hatten. Am Boden hatten sie Blut aufgenommen und an der Zimmerecke kleine Tröpfchen wieder abgegeben.
Zu den ersten Aufgaben eines zu Rate gezogenen Entomologen gehört es gewöhnlich, möglichst genau zu berechnen, seit wann der Leichnam an der Fundstelle liegt. Weit über 100 Arten von Insekten – besonders Fliegen und Käfer – und anderen Gliederfüßern, etwa Milben, nutzen Kadaver als Lebensraum, Nahrungsquelle oder Brutstätte.
Insekten-Uhr zeigt Liegezeit
Weil die verschiedenen Arten einen Leichnam in unterschiedlichen Phasen der Zersetzung aufsuchen und zudem jede Art andere Entwicklungszeiten hat, können Experten aus dem Besiedlungsmuster sowie der Larvengröße die so genannte Liegezeit der Leiche an einem Ort oder insgesamt seit der Insektenbesiedlung abschätzen. Allerdings müssen sie dazu andere Begleitumstände möglichst genau kennen, etwa die Wetter- und insbesondere die Temperaturverhältnisse. Die Entwicklungszeit hängt auch von Lichteinfall und Luftfeuchtigkeit ab. Bei schwülheißer Witterung mit gelegentlichem Regen können Schmeißfliegenmaden einen kleinen Körper in zwei Wochen freiskelettieren, unter kühlen Bedingungen brauchen sie mitunter zwei Jahre.
Für begrabene Leichen gelten eigene Bedingungen, wieder andere für luftdicht verpackte Tote. Insektenkundler können manchmal nachträglich feststellen, wie viel Zeit zwischen Tod und Beerdigung verstrich und in welchem Zustand sich der Leichnam bei der Grablegung befand. Die Eier von Schmeißfliegen können beispielsweise in luftdichten Behältnissen bis zu fünf Tage überleben, nicht aber ihre Larven. Auf begrabenen Leichen wohnen oft vor allem Buckelfliegen, die bis zu einem halben Meter tief Gänge in die Erde graben. Buckelfliegen verpaaren sich im Freien, doch die Leiche dient ihnen als Wohnstätte und ihren Larven als Nahrungsquelle.
In günstigen Fällen, wenn Gliedertiere sofort Zugang zum Leichnam hatten, können Entomologen die Liegezeit ziemlich exakt bestimmen – sehr selten sogar bis auf die Stunde genau. Die präzisesten Messungen sind besonders in den ersten Tagen und Wochen nach dem Tod möglich. Die errechnete Zeit wird oft noch sicherer, wenn Larven mehrerer Insektenarten verglichen werden können. In kontrollierten Experimenten mit zwei Fliegenarten, die Wissenschaftler auf Hawaii durchführten, ließ sich der Todeszeitpunkt nach 40 bis 50 Tagen auf ein bis vier Tage genau angeben. Liegt der Tod länger zurück, kann es immer noch gelingen, nachträglich an Puppen oder toten erwachsenen Tieren den Monat oder die Jahreszeit festzustellen. Auch das kann hilfreich sein, etwa um in Vermisstenfällen die Aktensuche zeitlich einzugrenzen oder bei Alibi-Fragen.
Die Leiche muss dazu nicht mehr unbedingt am ursprünglichen Ort liegen. Denn zum Verpuppen verlassen viele Maden ihren Fressplatz. Manchmal findet der Entomologe in der Nähe später noch in Ritzen oder unter Teppichen versteckte leere Puppenhüllen oder im selben Raum oder in Nachbarräumen die daraus geschlüpften Fliegen. Umgekehrt können Milbenbisse einen Täter verraten: wenn sie von Milben stammen, die nur am Leichenfundort leben.
Die »Maden-Uhr« beginnt nicht selten gleich nach dem Tod zu ticken. Fliegenweibchen der betreffenden Arten nehmen Leichen von für ihre Larven geeignetem Verwesungsgrad oft über einige hundert Meter oder mehr wahr.
Die Ersten, die einen freiliegenden Leichnam für ihren Nachwuchs nutzen, sind meist schwangere Schmeißfliegenweibchen (unter anderem aus den Familien Calliphoridae und Sacrophagidae). Sie suchen einen Kadaver oft unmittelbar nach dem Tod auf. Dazu gehören die metallisch goldgrünen Goldfliegen, die Graue Fleischfliege und die blau schimmernde Schmeißfliege. Die millimetergroßen Larven schlüpfen in der Wärme teils schon nach einer Viertelstunde. Erst später kommen die Käsefliegen, gelegentlich auch Blumenfliegen, Dungfliegen und andere Kerbtiere.
Von vielen dieser Arten kennen Entomologen außer dem Verwesungsstadium, das die Weibchen jeweils bevorzugen, auch die Entwicklungszeiten der Larven – genauer gesagt die Dauer der einzelnen Larvenstadien und die Zeit bis zur Verpuppung, und sie wissen, wie sich diese Zeiten mit der Temperatur oder den übrigen Umweltbedingungen verändern. Gleiches gilt für die Dauer, bis aus der Puppe das geschlechtsreife Tier schlüpft. Im Falle der Pastorenfrau herrschte zum Beispiel am Tag der Tat Nieselregen. Das wie auch die Temperatur an den anderen Tagen musste ich bei der Berechnung der Larvenalter berücksichtigen.
Entlarvende Fraßspuren
Für solche Berechnungen können wir inzwischen teilweise Computermodelle verwenden. Allerdings darf man sich auf die Ergebnisse dann nicht blind verlassen. Es erfordert viel Erfahrung, um die Randbedingungen und den Fehlerspielraum zu ermessen.
Zu welcher Art die Larven gehören, lässt sich vielfach nur an feinen Details der winzigen so genannten Mundwerkzeuge und der Atemöffnungen am Körperende bestimmen, die dazu herauspräpariert werden müssen. Beides ist sehr schwierig und liefert bei jungen Larven auch kaum auswertbare Ergebnisse. Wenn möglich, lässt man darum einige Maden unter kontrollierten Bedingungen im Labor heranwachsen, denn erwachsene Fliegen sind leichter unterscheidbar. Falls genügend Zeit ist, kann man die Art auch mittels einer Erbgutanalyse bestimmen.
Ausgetrocknete Leichen werden oft massenhaft von Speck- und Teppichkäfern besiedelt, die das nun harte Gewebe fressen. Käferbesatz lässt sich nachträglich oft gut rekonstruieren, da Käfer bei ihren Häutungen die festen, darum beständigeren Chitinpanzer hinterlassen – anders als Fliegenmaden mit ihren dünnen, weichen Larvalhäuten. Viele Käfer, die man auf Leichen antrifft, ernähren sich nicht von dem Kadaver direkt, sondern von auf ihm lebenden Maden und Pilzgeflechten. Einige parasitische Erzwespen legen ihre Eier in Fliegenmaden oder -puppen ab, in denen ihre Nachkommen dann heranwachsen.
Nicht immer entstehen Insektenfraßspuren erst nach dem Tod. Von Ameisen oder Schaben verursachte Wunden oder Madenbefall können auch ein Zeichen von Vernachlässigung sein, was bei Bettlägrigen, Säuglingen und anderen pflegebedürftigen Personen immer wieder vorkommt. Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass Fliegen ihre Eier auch in Wunden von sehr schwachen Menschen ablegen und die Maden unter Umständen schon nach einer Viertelstunde schlüpfen, und dass Kakerlaken unbemerkt in nur einer Nacht eine kleine Hautblase zu einer flächigen Abschürfung ausfressen können. (Ärzte – so in Feldlazaretten im Ersten Weltkrieg und auch noch heute in Krankenhäusern – nutzen Madenfraß an Wundgewebe sogar gezielt aus, weil die Fliegenlarven nur totes Gewebe aufnehmen und infizierte Wunden darum besonders gut säubern.)
Die Erfahrung eines darauf geschulten Insektenkundlers kann auch dabei helfen zu beurteilen, ob ein betreuungsbedürftiger Mensch tatsächlich vernachlässigt wurde oder nicht. Bei Verstorbenen kann daher bei Verdacht auf Vernachlässigung oder Misshandlung ein forensisch erfahrener Entomologe hinzugezogen werden. Denn mancher Tatverdacht erweist sich im Nachhinein als falsch. Hautwunden, die wie eine Verletzung durch eine Waffe aussehen, rühren manchmal von Insektenfraß her. Zu den berühmten Fällen aus den Anfangszeiten der forensischen Entomologie zählt der eines toten Säuglings mit Mundverletzungen, die so aussahen, als hätte jemand dem Kind Schwefelsäure zu trinken gegeben, um es umzubringen. Doch dann stellte sich heraus, dass es sich um Kakerlakenfraßstellen handelte, die erst nach dem Tod entstanden waren. Ein anderes Beispiel: Eine entkleidete Frauenleiche bedeutet nicht zwangsläufig ein Sexualdelikt. Madenteppiche können die Kleidungsstücke total verrutschen lassen, so als ob diese von einem Täter weggezerrt wurden.
Wie genau die Angaben sein können, die Entomologen in ungeklärten Todesfällen beisteuern, zeigt ein Fall aus Kanada, der sich Mitte der neunziger Jahre ereignete. Ein Versicherungsangestellter wurde misstrauisch, als ein Mann bei der Lebensversicherung seiner Frau die Todesfallprämie einforderte. Denn die Frau war erst drei Tage vorher vermisst gemeldet worden. Der Angestellte erklärte dem Ehemann, der Tod der Frau sei unbewiesen, solange die Leiche oder ein eindeutig identifizierbares Leichenteil fehle. Acht Tage später meldete der Mann sich wieder, diesmal bei der Polizei: In einem Graben vor seinem Haus habe er den Kopf seiner Frau gefunden.
Wie Rechtsmediziner feststellten, war der Kopf erst einige Zeit nach dem Tod der Frau abgetrennt worden. An der Schnittfläche fand meine kanadische Kollegin Gail Anderson Maden von Schmeißfliegen. Auffälligerweise saßen keine Maden an Augen, Nase und Ohren, wo Fliegenweibchen ihre Eier bei einem unversehrten Leichnam bevorzugt absetzen. Der Kopf – oder der Leichnam – musste demnach anfangs an einem Ort gelegen haben, wo Fliegen ihn nicht erreichen konnten. Später, als der Kopf im Freien lag, war für die Fliegen die offenbar frische Schnittfläche attraktiver – das heißt für die Maden leichter anzufressen – als die schon trockeneren Partien an Augen und Ohren. Die Entomologin errechnete aus der Madengröße und den Außentemperaturen, dass der Kopf am selben Tag ins Freie gekommen war, an dem der Ehemann sich an die Versicherung gewandt hatte. Das Gericht verurteilte den Mann zu lebenslanger Haft.
Am häufigsten werden Entomologen bei schon stärker zersetzten Leichen zu Rate gezogen, bei denen manche rechtsmedizinischen Aussagen nicht mehr möglich sind. In diesem Stadium können die Insekten auch Hinweise auf Gifte liefern, die zum Tod geführt haben könnten, am Toten selbst jedoch nicht mehr nachweisbar sind. Denn wenn der Mensch durch eine Rauschdroge, ein Schlafmittel oder ein anderes Gift starb, etwa Arsen oder Quecksilber, dann nehmen manche Larven diese Stoffe auf und können sie speichern. Aber nicht nur die Larven weisen das Gift dann auf, sondern auch in den längst verlassenen Hüllen der Puppen bleibt es manchmal erhalten. Das gilt ebenfalls für Rauschdrogen wie Heroin und Kokain. Sogar die erwachsenen Insekten, die selbst wenig Nahrung aufnehmen, enthalten mitunter noch solche Gifte, wie seit den 1970er Jahren erwiesen wurde. Nach neuen Erkenntnissen könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, auf die Giftmenge rückzuschließen, die der Tote im Körper hatte.
Dieses Gebiet wird in der forensischen Entomologie zurzeit stark beforscht, unter anderem weil sich zeigte, dass sich die Entwicklungsgeschwindigkeit einiger Insekten verändert, wenn sie solche Gifte aufnehmen. Unter Kokaineinfluss etwa wachsen manche Maden schneller. Diese Wirkungen muss man kennen, um Fehlschlüsse zu vermeiden.
In jüngerer Zeit fanden die ersten Giftbestimmungen mittels Insekten Ende der 1970er Jahre in den Vereinigten Staaten statt. Ein Frauenskelett wurde gefunden, das Schmeißfliegenmaden bis auf einige Hautreste abgefressen hatten, und eine vermisste Frau hatte an dem Tag, an dem sie zuletzt gesehen wurde, ein Schlafmittel gekauft. Toxikologen wiesen in den Maden größere Mengen eben dieses Medikaments nach. Der nach dem Zustand des Skeletts errechnete Todeszeitpunkt passte dazu. Nach allem Anschein war die aufgefundene Frau nicht einem Mord zum Opfer gefallen, sondern hatte Selbstmord begangen.
Ähnlich wie bei den Giftbestimmungen können Kerbtiere Hinweise auf eine tödliche bakterielle Infektion liefern. Wenn die Erreger in der verwesten Leiche nicht mehr nachweisbar sind, enthalten doch die Insekten gelegentlich noch solche Keime.
Mein Arbeitsgebiet, die biologische Forensik, erfordert zu gleichen Teilen Kenntnisse in Zoologie, Rechtsmedizin und kriminalistischen Ermittlungsgrundsätzen. Auch ist häufig eine enge Zusammenarbeit von Experten verschiedenster Richtungen und fachlicher Disziplinen erforderlich. Weltweit sind Fachleute dabei, die Gliedertierfauna verschiedener Gegenden zu katalogisieren. Vertieft werden sollten auch die Erkenntnisse über aus Leichen aufgenommene Giftstoffe in Insekten. Die Möglichkeiten dieses Gebietes sind noch nicht ausgeschöpft. Die Analyse von Erbsubstanz zur Identifizierung ist in anderen Zweigen der Kriminalistik inzwischen etabliert. Auch Insekten kann man auf genetische Sequenzen hin untersuchen. Dabei steht nicht so sehr die menschliche Erbsubstanz im Verdauungstrakt der Insekten im Mittelpunkt, sondern die Bestimmung der Insektenart.
Im deutschsprachigen Raum werden Insektenkundler bisher von der Kriminalistik fast nur zu besonders schwierigen Fällen hinzugezogen. Wünschenswert wären Verhältnisse wie in Frankreich, Kanada und den Vereinigten Staaten, wo diese Methoden teilweise routinemäßig eingesetzt werden. Die französische Staatspolizei besitzt sogar ein eigenes entomologisches Labor. In Nordamerika können Kriminalisten und Juristen während ihrer Ausbildung an Spezialkursen in diesem Fach teilnehmen. Doch hier zu Lande existieren bisher nur zwei noch recht junge Arbeitsgruppen von forensischen Entomologen, die eine in Frankfurt am Institut für Rechtsmedizin und meine eigene in Köln, von wo aus ich mit vielen Partnern in aller Welt zusammenarbeite.
Doch die Bedeutung der forensischen Entomologie wächst. Erstmals trafen sich auf dem Weltkongress für Insektenkunde in Iguazu Falls in Brasilien vor eineinhalb Jahren Entomologen aller Kontinente, die an Insekten auf Leichen arbeiten, und tauschten Erfahrungen sowie neueste Forschungsergebnisse aus. Das Fach wartet auf die nächste Forschergeneration, die sich nicht scheut, eine Sache anzupacken, vor der heute noch viele zurückschrecken – sei es, weil das Gebiet in der Alltagsroutine noch wenig Nachfrage erfährt und darum wenig berufliche Sicherheit bietet, sei es, weil sich die meisten Menschen davor gruseln. Wer sich vor dem Kreislauf des Lebens nicht fürchtet, sondern die tiefe Schönheit des Vergehens und Werdens achtet und wissenschaftlich-kriminalistische Detektivarbeit schätzt, ist eingeladen, auf diesem Feld mitzuwirken.
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