Wie schnell verfliegt die Zeit?
Je älter man wird, desto schneller scheint die Zeit zu verrinnen. Aber das liegt nicht am Alter – jedenfalls nicht direkt.
Die Zeit vergeht im Prinzip mit konstanter Geschwindigkeit: eine Sekunde pro Sekunde, was sonst? Die Physik, vor allem in Gestalt der Relativitätstheorie, scheint zwar an der Einfachheit der Zeitdefinition zu rütteln, stellt aber ihre Arithmetik nicht auf den Kopf. Unter gleichen Bedingungen des Beobachters dauern fünf Minuten fünfmal so lang wie eine Minute.
Unser Zeitgefühl scheint jedoch ein anderes zu sein. Frohe Stunden vergehen schnell, zwanzig Minuten Warten auf den Bus erscheinen lang und eine Minute Schmerz noch viel länger. Vor allem aber: Je älter man wird, desto schneller scheint die Zeit zu verrinnen. Fast jeder Mensch erlebt das so. Aber woran liegt das?
Die typische Erklärung führt das Phänomen auf das Altern zurück, insbesondere das Nachlassen der körperlichen und geistigen Kräfte. Demnach würde eine Person im fortgeschrittenen Alter, die geistig und körperlich genauso frisch wäre wie mit zwanzig Jahren, eine Zeitbeschleunigung nicht empfinden.
Wir bieten hier eine andere Erklärung an. Mit Hilfe eines einfachen mathematischen Modells zeigen wir, dass die subjektive Länge einer Zeitspanne nicht vom Lebensalter abhängt, sondern von einer sich aus dem Zeitverlauf ergebenden Gesetzmäßigkeit. Diese ist von hinreichend einfacher Struktur und erlaubt, trotz vieler unbekannter Faktoren, eine eindeutige Quantifizierung: Die Zeitausdünnung ist von logarithmischer Form.
Wir gehen von der Voraussetzung aus, dass unser Zeitgefühl im Wesentlichen proportional zur Anzahl neuer Ereignisse in unserem Leben ist. Vieles spricht für diese Hypothese. Eine berufliche Reise von drei Tagen bleibt meist besser in Erinnerung als drei Tage zu Hause oder am gewohnten Arbeitsplatz. Ein Urlaub in einem fremden Land wird selten vergessen. Wohl kaum stellt man sich die Frage: "Wo sind die drei ersten Tage?" Vielleicht aber: "Wo sind die drei letzten?" Es geht uns allen wahrscheinlich ähnlich. Nach drei Tagen überwiegt die Freude, dass der Löwenanteil des Urlaubs noch bevorsteht, und dann hat der Löwe auch schon bald ausgebrüllt.
In der Erinnerung dreht sich dieses Zeitgefühl um. Erfüllte Zeitstrecken erscheinen ausgedehnter als leere. Im Alter verkürzt sich die subjektive Erlebniswelt. Diese Beobachtungen zum Verständnis der subjektiven Zeitauffassung finden sich in der Literatur zur Wahrnehmungspsychologie ebenso wie im Alltagsbewusstsein, wie es etwa Thomas Mann in seinem "Zauberberg" beschrieben hat.
Vereinfachtes Modell des Lebens
Fassen wir unser Leben als eine Folge von Ereignissen auf. Solange wir leben, ist die Länge der Folge unbekannt. Es gibt Ereignisse, auf die wir keinen Einfluss haben, andere, die wir teilweise mitbestimmen, und wieder andere, für deren Eintreten wir voll und ganz Verantwortung tragen. Wir wollen den Begriff Ereignis hier allgemein halten und nicht zwischen Ereignissen verschiedener Dauer oder Bedeutung unterscheiden.
Unsere Geburt ist ein Ereignis, das allen anderen vorangeht; aber einen Schnupfen haben, eine Strecke mit dem Auto fahren, einen Brief schreiben, diesen Artikel lesen oder sich Gedanken über den Mars machen, all dies sind Ereignisse in unserem Sinne. Einige Ereignisse werden von Mitmenschen geteilt, andere wiederum sind eher individueller Natur. Viele Ereignisse wiederholen sich in ähnlicher oder genau gleicher Weise, andere sind einmalig.
Die Idee unseres Modells besteht darin, die Zeit zu diskretisieren. Unser Leben enthält N Ereignisse, die nach individueller Definition als verschieden und bedeutungsvoll angesehen werden. N ist unbekannt, nicht zuletzt, weil wir nicht wissen, wie lange wir leben und was uns das Leben bringen wird, aber auch, weil wir vielleicht Besseres zu tun haben, als uns über die genaue Definition von "Ereignis" den Kopf zu zerbrechen. Dies mag jeder für sich selbst entscheiden – zum Beispiel, ob das Frühstücksei von heute mitsamt dem Anruf von Frau Müller-Störmich, der den Genuss desselben beeinträchtigte, das heutige Frühstück in den Rang eines neuen Ereignisses erhebt! Diese Definitionsfreiheit macht das Modell interessant. N existiert, und ob man die Anzahl N der verschiedenen Ereignisse eines Lebens in der bescheidenen Größenordnung von einigen Hundert oder aber von Millionen sieht, ist, wie wir sehen werden, von geringer Bedeutung. Wichtig ist nur, dass jeder seiner eigenen Definition zeitlebens treu bleibt.
Denken wir uns eine große Anzahl von Kästchen, die den verschiedenen potenziellen Ereignissen unseres Lebens entsprechen. In die Kästchen werden nun Kugeln gelegt, und wir interpretieren dies als Eintreten der entsprechenden Ereignisse. Viele Kugeln werden von uns selbst gelegt, viele von Mitmenschen, andere wiederum von der Natur, vom Zufall oder von Gottes Hand, je nach philosophischer Grundauffassung. Der Ablauf des Lebens wird nun durch die Reihenfolge der Belegung beschrieben. Die Kästchen selbst brauchen nicht geordnet zu sein. Kästchen, in die mehrere Kugeln fallen, stellen wiederholte Ereignisse dar, leere Kästchen stehen für das bisher nicht Erlebte. Wir kennen N nicht, doch das N-te Kästchen, wo immer es auch stehen mag, wird am Ende genau eine Kugel erhalten. Wir wissen warum.
Wie viele Kugeln werden im Durchschnitt benötigt, bis, sagen wir, M Kästchen mindestens je eine Kugel enthalten, das heißt, M verschiedene Ereignisse stattgefunden haben? Zumindest M Kugeln, theoretisch aber unendlich viele. Die Kästchen, die für häufig wiederholte Ereignisse stehen, wie Standardessen oder Zähneputzen, werden sich rasch und mit großer Regelmäßigkeit füllen. Andere Kästchen hingegen werden lange auf ihre erste Kugel warten müssen. Da der Zufall mitspielt, wollen wir ihn modellieren.
Nehmen wir an, dass jedes Kästchen, unabhängig von der Vorgeschichte, die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, die jeweils nächste Kugel zu empfangen. (Diese Hypothese ist nicht sehr realistisch, wenn wir an Ereignisse wie Essen oder Schlafen denken. Doch mehr hierzu später.) Dann liefert ein einfaches Argument aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung, dass die erwartete Anzahl von benötigten Kugeln bis zur M-ten Neubelegung beträgt. Diese Zahl wird durch A(N,M) = N ln(N/(N–M)) gut approximiert. Die Funktion ln bezeichnet hier den Logarithmus zur Basis e=2,71828… (Man ersetzt die Summe durch das Integral über eine Funktion, die der Reihe nach die zu summierenden Werte annimmt.) Nun kennen wir N nicht, doch ist dies interessanterweise kein Problem.
Für das Zeitgefühl zur Zeit der M-ten Neubelegung spielt nämlich nur der Vergleich zur Vergangenheit eine Rolle und nicht der Vergleich zur Zukunft, die wir nicht kennen. In dem Moment, in dem wir das M-te neue Ereignis erlebt haben, blicken wir zurück auf den Zeitpunkt, als das V-te neue Ereignis uns traf (V ist also kleiner als M). Nach demselben Argument wie oben ist die erwartete Anzahl von Kugeln bis zur V-ten Neubelegung ungefähr A(N,V) = N ln(N/(N–V)). Dies ist also, bis auf zufallsbedingte Abweichungen, die Realzeit bis zum V-ten neuen Erlebnis, wenn wir jede Belegung als eine Zeiteinheit ansehen. V kann hier zwischen 1 und M–1 variieren, und M kann N nicht überschreiten.
Da wir die unbekannte Zahl N aus der Berechnung eliminieren wollen, führen wir die neuen Variablen a=V/N und b=M/N ein. Man könnte sie "relative Lebenserfahrungen" nennen: b=0,8 bedeutet, dass ich 80 Prozent dessen, was das Leben für mich bereit hält, schon erlebt habe. Die reale Zeit bis zum V-ten neuen Ereignis verhält sich zu der entsprechenden Zeit bis zum M-ten neuen Ereignis wie A(N,V) zu A(N,M). In den neuen Variablen schreibt sich dieses Verhältnis
Diese Funktion hängt nur von a und b ab, das heißt von dem Verhältnis von V und M zu N, nicht aber von N selbst. Wir bezeichnen sie mit f(a,b).
Die objektiv verstrichene Zeit ist – wieder in grober Näherung – proportional der Anzahl der gefallenen Kugeln; aber die subjektive Zeit ist proportional der Anzahl neu belegter Kästchen. Das genannte Verhältnis der beiden Zeiten ist also in der Realität gleich f(a,b), in unserem Empfinden jedoch gleich a/b. Für kleine a und b, wenn wir also den größten Teil unserer Neuigkeiten noch vor uns haben, kommt unser Empfinden der Realität sehr nahe (für kleine x wird ln(1–x) sehr gut durch –x approximiert). Aber für fest gewähltes b wächst diese Funktion mit wachsendem a an, und zwar stärker als proportional zu a, was der Realität entspräche: Gemessen an der subjektiven Zeit, läuft die objektive immer schneller ab. Umgekehrt kann der Kehrwert 1/f(a,b), wiederum für jedes feste b, als Ausdünnungsfunktion des Zeitgefühls angesehen werden.
Wenn b sehr nahe bei 1 liegt, ist das Modell nicht mehr überzeugend. Stellen wir uns vor, von allen N Kästchen sei nur noch eines leer. Das würde heißen: Die einzige Neuigkeit, die uns das Leben noch bringen kann, ist der Tod; auf den müssen wir lange warten, denn jede Kugel fällt nur mit Wahrscheinlichkeit 1/N in das allerletzte Kästchen, und vorher passiert nichts mehr, was wir nicht schon kennen.
Doch sollten wir noch keine Schlüsse ziehen, sondern zuerst unsere Hypothesen unter die Lupe nehmen.
Welchen Einfluss hat die wenig realistische Hypothese, alle N Ereignisse seien gleich wahrscheinlich? Die Mathematik gibt hierauf eine allgemein gültige und damit interessante Antwort. Für jede Teilmenge von neuen Ereignissen (noch leere Kästchen) ist die erwartete Anzahl von benötigten Kugeln zur kompletten Belegung dieser Teilmenge genau dann minimal, wenn die Ereignisse dieser Teilmenge gleich wahrscheinlich sind. Genau in diesem Fall ist also die subjektive Beschleunigung der Zeit, sprich die Abweichung von der Realität, am geringsten! Wir haben also bisher noch den günstigsten Fall betrachtet. Die Ausdünnung des Zeitgefühls könnte in Wirklichkeit viel schlimmer sein.
Bremshilfe kommt jedoch aus anderen Rädern. Wichtige Ereignisse ziehen oft viele andere neue Ereignisse nach sich. Wenn jemand gerade zum ersten Mal Vater oder Mutter geworden ist, so wird dies mit einigem Neuen verbunden sein, das heißt, das Leben wird automatisch eine Vielfalt neuer Kästchen aufstellen. Und wenn jemand eine neue Stelle angetreten hat, vielleicht sogar im Ausland, so ist der Zuwachs noch größer.
Was hält das Leben für uns bereit?
In diesen Beispielen sprechen wir plötzlich von neuen Kästchen, und das ist der springende Punkt. Das zukünftige N sollte somit nicht als konstant angesehen werden, sondern selbst als eine Funktion, die von vielen Umständen abhängen mag, insbesondere von der Veränderung von Lebenszielen und von der aktiven Ergreifung des Geschehens. Ein starkes Wachstum der Größe N führt wieder zu einer Verdichtung des Lebensgefühls. Jeder von uns persönlich aber ist es, der, mehr als jeder Andere und mehr als alles Andere, N beeinflussen kann. Dies ist eine qualitative Aussage. Die Tatsache, dass wir N kaum quantifizieren können, ist damit zweitrangig.
Nun zu der zweiten (impliziten) Hypothese. Wir haben in unserem Vergleich jede Belegung ohne weitere Erklärung mit einer Zeiteinheit gezählt, doch dauern verschiedene Ereignisse im Allgemeinen verschieden lang. Wenn wir jedoch annehmen, dass die Durchschnittsdauer eines Ereignisses gegen einen Grenzwert strebt (Gesetz der großen Zahlen), dann können wir diesen Grenzwert als eine Zeiteinheit ansehen. Die Zahlen N, M und V sind alle groß. Da es bei der Berechnung des Beschleunigungsfaktors nur auf die Verhältnisse M/N und V/N ankommt, bleibt unsere Quantifizierung im Wesentlichen richtig.
Nach unserem Modell wird also unser Zeitgefühl im Durchschnitt mindestens logarithmisch ausgedünnt. Interessant ist die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes. Man müsste schon ein übernervöses Leben führen, um dem Phänomen auszuweichen.
Das entdeckte Gesetz ist fast analog zu dem in der allgemeinen Wahrnehmungspsychologie fundamentalen Weber-Fechnerschen Gesetz für Sinneswahrnehmungen. Dieses besagt, dass die durch Sinnesreize ausgelöste Erregung proportional zum Logarithmus der Größe des Reizes ist. Es wurde von dem Physiologen Ernst Weber experimentell entdeckt und dann von dem Physiker Gustav Fechner aus der Annahme hergeleitet, dass die notwendige Änderung des Reizes, die zu einer gerade noch wahrnehmbaren Differenz in der Erregung führt, proportional zur Größe des anfänglichen Reizes ist. Im Vergleich zu dieser Vorstellung ist unser Modell für das Zeitempfinden abstrakter, und die Modelle sind nicht direkt vergleichbar. Die resultierende Analogie ist jedoch erstaunlich.
Wenn Sie also heute das Gefühl haben, dass die letzten fünf oder zehn Jahre doppelt so schnell verflogen sind wie derselbe Zeitraum vor zwanzig Jahren, so sollte Sie das nicht beängstigen. Das kann Ihnen schon im Alter von 25 Jahren passieren, wenn auch noch mit geringer Wahrscheinlichkeit. Aber, ob jünger oder älter, nichts impliziert, dass dies in den nächsten fünf oder zehn Jahren wieder so sein wird. Das Gefühl der Zeitbeschleunigung ist zuerst ein Symptom des Alltagstrotts, das Alter selbst spielt nur eine sekundäre Rolle. Wie schon festgestellt, ist das Zeitgefühl in jeder Lebensphase aktiv beeinflussbar durch Veränderung des Horizonts, durch Erweiterung oder aber auch Abschneidung von Erlebnismöglichkeiten; in unserem einfachen Modell durch die Veränderung von N.
Zum Schluss eine ganz andere Frage. Ist das Gefühl der Zeitbeschleunigung, das hier im Prinzip als unvermeidbar bestätigt wird, wirklich immer bedauernswert? Da sind wir nicht so sicher. Die folgende Definition, die vor einigen Jahren im Brüsseler "Le Soir" zu lesen war, könnte uns allen zu denken geben:
"Das Paradies ist ein Ort, an dem alle Bewohner in aller Behaglichkeit und in alle Ewigkeit alle schönen Erinnerungen ihres Lebens austauschen. Die Hölle ist identisch, nur dass alle Bewohner leider auch ihre Dias und Videos dabeihaben."
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2001, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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