Wahrnehmung: Wie Stechmücken die Ohren spitzen
Wie die Wirbeltiere verbessern auch Stechmücken mit selbst erzeugten Vibrationen im Hörorgan die Empfindlichkeit und Feinabstimmung ihres Gehörs. Dadurch können Männchen gezielt das leise Summen arteigener Weibchen wahrnehmen.
Das menschliche Ohr ist in der Lage, durch Schall ausgelöste mechanische Schwingungen mit Amplituden von nur wenigen Nanometern (milliardstel Metern) zu registrieren und dabei noch feinste Nuancen in der Tonhöhe aufzulösen. Dies verdanken wir – ebenso wie andere Wirbeltiere – einem der wohl faszinierendsten Hör-Mechanismen: aktiver Schwingungsverstärkung.
Sie basiert auf Bewegungen der Haarzellen im Innenohr, den "auditorischen Rezeptorzellen". Diese wandeln, wie üblich, externe Reize in elektrische Nervenimpulse um. Zugleich reagieren sie aber auch mechanisch: Sobald Schall im Innenohr Schwingungen auslöst, beginnen die Haarzellen sich aktiv zu bewegen und verstärken so die extern verursachten Vibrationen – ähnlich wie das Anstoßen einer Schaukel deren Pendeln unterstützt.
So kommt es zu einer positiven Rückkopplung, welche die Resonanzen im Innenohr verschärft. Ein interessanter Nebeneffekt dieser Schwingungsverstärkung sind so genannte otoakustische Emissionen: durch Bewegungen der Haarzellen im Innenohr erzeugte Töne, die sich gelegentlich im äußeren Gehörgang nachweisen lassen. Wirbeltierohren können also Schall nicht nur registrieren, sondern auch selbst produzieren!
Hochempfindliches, fein abgestimmtes Hören ist aber nicht nur für Wirbeltiere vorteilhaft. Auch einige Insekten nutzen es. Unsere jüngsten Untersuchungen an Stechmücken belegen dies anschaulich. Zudem haben sie gezeigt, dass die Blutsauger wie Wirbeltiere einen aktiven Schwingungsverstärker entwickelt haben, der die Empfindlichkeit und Abstimmung ihrer Hörorgane verbessert. Diese Parallelen sind erstaunlich, zumal Stechmücken statt mit Haarzellen mit mehrzelligen, mechanisch reizbaren Streckrezeptoren hören. Diese scheinen gleichfalls in der Lage zu sein, aktiv Bewegungen zu erzeugen und dadurch Schall-induzierte Schwingungen zu verstärken.
Stechmücken sind nachtaktiv, wie wohl jeder Leser aus eigener leidvoller Erfahrung weiß. Um sich fortzupflanzen, müssen die Männchen daher im Dunkeln arteigene Weibchen erkennen und finden können. Dabei verlassen sie sich auf ihr Gehör; mit ihm orten sie das leise Summen, das Stechmücken durch ihren Flügelschlag produzieren. Weibchen verschiedener Arten summen mit unterschiedlicher Frequenz und stets tiefer als die Männchen. Letztere können somit potenzielle Geschlechtspartnerinnen anhand der Höhe der Flugtöne eindeutig identifizieren und aufspüren.
Stechmücken-Männchen hören mit ihren Antennen. Deren stark verlängerter externer Teil – die Geißel – ist behaart und erinnert an einen Tannenbaum. Sie wird durch akustische Signale zum Schwingen angeregt und übersetzt so Schall in mechanische Bewegungen. Dabei zeichnet sie sich durch einige bemerkenswerte Eigenschaften aus. So zeigen Untersuchungen mit einem optischen Bewegungsdetektor (Laser-Doppler-Vibrometer), dass nur Töne bestimmter Frequenzen die Geißel vibrieren lassen. Sie ist genau auf denjenigen Frequenzbereich resonant abgestimmt, in dem arteigene Weibchen summen. Damit wirkt sie wie ein Filter, der Töne interessanter Frequenzen durchlässt, andere jedoch nicht.
Antennen fühlen Schwingungen
Fein abgestimmtes Hören zeigt sich bei Stechmücken folglich bereits in der Mechanik des Schallempfängers. Entsprechendes gilt für die Empfindlichkeit. Die durch Schall induzierten Geißelschwingungen sind unerwartet groß und übertreffen die Oszillationen der Luftpartikel im Schallfeld um ein Vielfaches. Eine wichtige Rolle spielen dabei offenbar die Geißelhaare. Sie geben die Kräfte, die bei Beschallung auf sie wirken, effizient an die Geißel weiter, da sie steif an diese angekoppelt sind. Dadurch vergrößern sie die dem Schall ausgesetzte Oberfläche und erhöhen folglich die mechanische Empfindlichkeit.
Wird die Antennengeißel in Vibration versetzt, schwingt sie wie ein steifer Stab um ihre Basis hin und her. Dort befindet sich der eigentliche Sitz des Gehörs, das "Johnston’sche Organ". Es umfasst zahlreiche Streckrezeptoreinheiten, die ringförmig um die Antennenbasis angeordnet sind, Geißelbewegungen registrieren und diese schließlich in elektrische Impulse umwandeln. Verblüffend sind sowohl die Komplexität als auch die Empfindlichkeit dieses Organs. Mit ungefähr 15000 Rezeptorzellen ist es das komplexeste mechanosensitive Sinnessystem bei Insekten überhaupt. Es kann in seiner Komplexität sogar mit der menschlichen Cochlea (Hörschnecke) konkurrieren, welche über rund 16000 Rezeptorzellen verfügt.
Die Streckrezeptoren des Johnston’-schen Organs sind zudem extrem empfindlich. Sie reagieren bereits, wenn die Geißel so leisen Tönen ausgesetzt wird, dass sich ihre Spitze um lediglich sieben Nanometer hin- und herbewegt. Das entspricht einer Winkelauslenkung um ein zehntausendstel Grad oder – auf den Eiffelturm umgerechnet – einem Pendeln der Spitze um nur 0,7 Millimeter.
Als wir das Schwingungsverhalten der Antennengeißel genauer untersuchten, stießen wir auf ein interessantes Phänomen. Bei einigen Mücken war die bereits erwähnte Resonanzschwingung von einer zusätzlichen, scharfen Schwingung überlagert, die sich nicht auf die akustischen Reize oder mögliche Hintergrund-geräusche zurückführen ließ. Ihre genaue Position variierte von Tier zu Tier und hing von der individuellen Resonanzfrequenz der Antennengeißel ab. Demnach führt die Geißel selbstständig mechanische Schwingungen aus.
Das konnten wir auch direkt beobachten, als wir Stechmücken mit kurzen Tonpulsen beschallten. Diese versetzten die Geißeln, wie erwartet, in Schwingungen. Die Vibrationen klangen nach Puls-ende schnell wieder ab. Bei einigen Geißeln war das jedoch nicht der Fall: Sie bewegten sich noch für Minuten hin und her. Die Hörorgane von Stechmücken können folglich wie die Ohren von Wirbeltieren Schwingungen erzeugen.
Diese selbstgenerierten Vibrationen traten nicht oft genug auf, um sie im Detail zu untersuchen. Dies änderte sich, als wir auf die Idee kamen, den Tieren das Betäubungsmittel Dimethylsulfoxid zu injizieren. Wie man schon lange weiß, beeinflusst es die Funktion der Rezeptorzellen in Insekten. Wir beobachteten jedoch einen weiteren, sehr überraschenden Effekt. Direkt nach der Injektion begannen die Antennengeißeln aller behandelten Tiere von selbst zu schwingen. Oft bewegten sie sich länger als eine Stunde mit hohen Amplituden hin und her.
Good vibrations für die Partnersuche
Auf diese Weise lassen sich selbstgenerierte Schwingungen von Stechmücken-Hörorganen also gezielt auslösen und analysieren. Solchen Analysen zufolge zeigen Stechmücken-Hörorgane in der Tat alle wesentlichen Kennzeichen aktiver Schwingungsverstärkung. Die Rezeptoreinheiten des Johnston’schen Organs können Bewegungen erzeugen und dadurch schallinduzierte Schwingungen verstärken. Diese Verstärkung findet genau bei den Frequenzen statt, bei denen arteigene Weibchen summen. Die Partnersuche ist sicher ein guter Grund, seine Ohren zu spitzen – auch und besonders bei Stechmücken.
Insekten und Wirbeltiere sind nur entfernt verwandt, und ihre Hörorgane haben sich unabhängig voneinander entwickelt. Dennoch häufen sich in jüngster Zeit die Hinweise auf Parallelen in den Mechanismen der akustischen Wahrnehmung beider Tiergruppen. Die Übereinstimmungen reichen von gemeinsamen Entwicklungs-Genen über analoge Antwort-Eigenschaften der Rezeptorzellen bis zum beiderseitigen Einsatz aktiver Schwingungsverstärkung. Auf Grund dieser umfassenden Parallelen verspricht die vergleichende Hörforschung bei Insekten und Wirbeltieren wesentliche neue Einblicke in die grundlegende Funktionsweise von Hörorganen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2002, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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