Titelthema: Wahrnehmung: Wie unser Gefühl für die Zeit entsteht
Der Deckel des Floating-Tanks schließt sich über mir, schwerelos liege ich im körperwarmen Salzwasser. Es ist stockdunkel, und kein Laut dringt von außen zu mir. Die Sinne, die normalerweise zur Orientierung in der Umwelt dienen, empfangen keine Signale. Meine Körpergrenzen verschwimmen; ich bin ganz bei mir und meinen Gedanken. Nur ein Sinn ist jetzt noch präsent, der Körpersinn. Ich spüre mich unmittelbar mit meiner Körperlichkeit – das Atmen, die Muskeln meiner Gliedmaßen, die entspannt im Wasser schweben. Und noch etwas rückt in den Vordergrund: Ich nehme deutlich wahr, wie die Zeit langsam vergeht, Sekunde um Sekunde.
Der US-amerikanische Mediziner John C. Lilly entwickelte in den 1950er Jahren am National Institute of Mental Health einen Isolationstank, um das Bewusstsein unter länger dauerndem Reizentzug zu erforschen. Heute wird der Floating-Tank in kürzer dauernden Behandlungen zur Tiefenentspannung eingesetzt. Was man in der Meditation über Jahre lernen muss, nämlich sich nicht von äußeren Sinnesreizen ablenken zu lassen, kann man hier unmittelbar erfahren. Freilich bleiben noch die Gedanken, die es zu beruhigen gilt.
Forscher erkannten bald, dass sich die Reizdeprivation auch zum Erfassen der Zeitwahrnehmung eignet. Sie unterscheiden dabei zwei wesentliche Perspektiven: zum einen das momentane Erleben der Zeit, zum anderen ihren Verlauf in der Rückschau. Wenn wir im Alltag auf die Zeit achten, dann scheint sie mal wie im Flug zu vergehen (etwa im angeregten Gespräch), mal langsam dahinzuschleichen (während langweiliger Wartezeit).
Aber auch über zurückliegende Zeiträume geben wir Urteile ab, wenn wir beispielsweise feststellen, dass das vergangene Jahr wieder einmal viel zu schnell vorüberging. Dies ist leicht zu erklären: Im Nachhinein prägt die Menge an unterschiedlichen Erfahrungen, die aus dem Gedächtnis für den betreffenden Zeitraum abgerufen werden, die subjektiv empfundene Dauer. Je mehr man erlebt und sich daran auch erinnern kann, desto länger kommt einem eine Zeitspanne später vor. Ein abwechslungs- und ereignisreicher Urlaub erscheint daher länger als der gleiche Zeitraum in der Monotonie des Alltags. So vergeht das Leben für uns subjektiv wohl auch deshalb immer schneller, weil wir – verglichen mit Kindheit, Jugend und dem frühen Erwachsenenalter – im Lauf des Älterwerdens immer weniger wirklich neuartige Erlebnisse haben können und die Routine des immer Gleichen zunimmt.
Während sich das retrospektive Zeiterleben also gut erklären lässt, stellt die momentane Zeitwahrnehmung die Wissenschaftler noch vor ein Rätsel. Wie entsteht das Gefühl für die Dauer, wenn wir dafür keinen eigenen Sinn besitzen? ...
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