Wie wirken Arzneimittel auf zellulärer und molekularer Ebene?
Kenntnisse über die zellulären und molekularen Wirkmechanismen von Pharmaka gestatten es heute schon, für einige Indikationen Arzneimittel nach Maß zu entwickeln. In Zukunft wird dieses sogenannte Drug Design immer größere Bedeutung erlangen.
In der Vergangenheit fand man neue pharmakologisch interessante Stoffe in der Regel dadurch, daß man Naturstoffe und synthetisierte Substanzen an ausgeklügelten pharmakologischen Testkombinationen, an isolierten Organsystemen und an Versuchstieren auf ihre Wirkungen hin prüfte. Dieses sogenannte Screening – Erkennen der Wirkung durch methodisches Sieben – ist auch heute noch der häufigste Weg zu neuen Arzneimitteln. Zunehmend werden aber Pharmaka auch schon maßgeschneidert synthetisiert.
Medikamente nach Plan zu entwickeln wurde freilich erst durch die großen Erkenntnisfortschritte in der Molekularbiologie möglich. Immer tiefere Einblicke in physiologische und pathologische (krankhafte) Prozesse erlauben es, gezielt therapeutisch einzugreifen, unter anderem mit speziell dafür synthetisierten Verbindungen. Aus der chemischen und räumlichen Struktur beteiligter Biomoleküle läßt sich teilweise sogar ablesen, wie eine wirksame Substanz aussehen könnte.
Für diese Art der Medikamentenentwicklung stehen die Begriffe rationelle Pharmaforschung und Drug Design. Herausragende Beispiele für derart entstandene Medikamente sind Beta-Blocker und Calcium-Antagonisten (Herz-Kreislauf-Mittel) sowie die Antihistaminika gegen Magen- und Darmgeschwüre.
Wissenschaftlich gesichert und heute allgemein bekannt ist, daß in verschiedenen Organsystemen und Organismen die grundsätzlichen biologischen Prozesse vielfach gleich ablaufen. So ist beispielsweise die Information zur Synthese von Proteinen in allen Zellen in der Aufeinanderfolge der Bausteine der Desoxyribonucleinsäure (der Basensequenz) verschlüsselt und wird überall auf die gleiche Weise umgesetzt. Gleichermaßen wichtig für die Funktion aller lebenden Zellen ist die Aufrechterhaltung von Ionengradienten an biologischen Membranen und die Aufnahme von chemischen Signalen über Rezeptormoleküle.
Bei diesen – und den vielen hier aus Platzgründen nicht aufgezählten – Gemeinsamkeiten stellt sich natürlich eine Frage: Lassen sich nicht auch die Wirkungen von biologisch aktiven Substanzen einschließlich Arzneimitteln auf wenige prinzipiell gleiche Mechanismen – Wirkungsangriffe – auf zellulärer und molekularer Ebene zurückführen?
Auf der Tagung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte im Oktober 1992 faßte Ernst Mutschler, Direktor des Pharmakologischen Instituts der Universität Frankfurt am Main, den Kenntnisstand über die molekularen Wirkmechanismen von Medikamenten zusammen. Danach lassen sich die meisten Arzneimitteleffekte auf vier Grundmechanismen zurückführen: Pharmaka und andere bioaktive Substanzen können mit spezifischen Bindungsstellen von Molekülen wie Rezeptoren in Wechselwirkung treten; sie vermögen Ionenkanäle in biologischen Membranen zu öffnen oder zu schließen; sie sind imstande, Enzyme – also biologische Katalysatoren – zu hemmen oder zu aktivieren; und sie können in Transportsysteme eingreifen, die Stoffe durch die Zellmembran schleusen.
Anders müssen freilich die Antibiotika und einige Chemotherapeutika wirken, die bei Infektionen zum Einsatz gelangen. Ihre Aufgabe ist es dann nicht, den Organismus des Kranken zu beeinflussen. Sie sollen vielmehr die Krankheitserreger treffen. Penicilline beispielsweise zerstören Zellwände von Bakterien. Solche Wandstrukturen gibt es bei Säugerzellen nicht.
Rezeptoren und Enzyme
Pharmakologische Rezeptoren sind Proteine in oder vor allem auf der Zelle, die körpereigene Stoffe – beispielsweise Hormone – spezifisch binden; aber auch körperfremde Substanzen können sich an sie heften. Über nachgeschaltete sogenannte Effektorsysteme werden dann biologische Reaktionen ausgelöst. Pharmaka, die einen Rezeptor besetzen, können ihn entweder stimulieren oder blockieren – man spricht jeweils von Agonisten und Antagonisten.
Catecholamine wie Adrenalin und Noradrenalin werden bei einer Reizung des sympathischen Nervensystems lokal im Gewebe oder auch aus dem Nebennierenmark in die Blutbahn freigesetzt (beide fungieren als Hormone wie auch als Neurotransmitter). Rezeptoren für sie kommen auf den Membranen unterschiedlichster Zellen vor – wie Nervenzellen, die von sympathischen Neuronen Signale erhalten, glatte Muskelzellen der Blutgefäßwand, Herzmuskel- und Leberzellen.
Je nach Rezeptor- und Zelltyp hat die Anheftung der Catecholamine unterschiedliche Folgen: Die Herzkranzgefäße werden über ihre glatten Muskelzellen weitgestellt, die Herzmuskelzellen kontrahieren sich kräftiger, und die Leberzellen geben vermehrt Glucose in die Blutbahn ab.
Synthetische Verbindungen mit kleinen Abweichungen von der Struktur der natürlichen Catecholamine können entsprechende Rezeptoren besetzen, ohne unmittelbar eine Wirkung in der Zelle auszulösen. Sie blockieren die Rezeptoren aber in der Regel nicht völlig, sondern machen den körpereigenen Stoffen nur den Platz darauf streitig.
Beispiele sind die sogenannten Beta-Blocker, die zur Behandlung von Bluthochdruck und Durchblutungsstörungen des Herzmuskels eingesetzt werden. Sie versperren den körpereigenen Catecholaminen den Zugang zu ihren Beta-Rezeptoren (einem der beiden Haupttypen adrenerger Rezeptoren). Folglich kontrahieren die Herzmuskelzellen nicht mehr so stark und nicht mehr so oft. Gleichzeitig wird auch der Herzmuskel besser mit Sauerstoff versorgt, weil er bei ruhigerer Arbeit zwangsläufig weniger davon verbraucht.
Kontraktionsfördernd wirken hingegen die bei Herzmuskelschwäche verabreichten Glykoside – spezifische Zuckerverbindungen – von Digitalis purpurea und von D. lanata, dem Roten und dem Gelben Fingerhut. Sie heften sich an die Natrium-Kalium-ATPase (Bild 1). Das membranständige Enzym spaltet die energiereiche Verbindung Adenosintriphosphat (ATP) und pumpt mit der daraus gewonnenen Energie Natrium-Ionen aus der Zelle und Kalium-Ionen nach innen. Auf diese Weise hält es einen Ionengradienten zwischen Zellinnerem und Zelläußerem aufrecht.
Die Anheftung von Digitalis-Glykosiden hemmt die ATPase. Eindringende Natrium-Ionen reichern sich daher in der Zelle an. Der erhöhte Natrium-Gehalt im Inneren bewirkt über einen anderen Mechanismus, daß letztlich dort die Calcium-Konzentration steigt. Herzmuskelzellen beispielsweise, bei denen der innere Calcium-Spiegel die Kontraktion steuert, können so zur stärkeren Tätigkeit angeregt werden.
Da die Natrium-Kalium-ATPase speziell die Herzglykoside bindet, darf man sie auch als pharmakologischen Glykosid-Rezeptor bezeichnen. Gleichzeitig ist die beschriebene Pharmakonwirkung ein Beispiel für den molekularen Angriff einer biologisch aktiven Substanz an einem Enzym.
Weitere Möglichkeiten, wie sich über eine Enzymhemmung ein therapeutischer Effekt erzielen läßt, sind in den Beiträgen auf Seite 96 für Bluthochdruck und auf Seite 102 für die Alzheimer Krankheit beschrieben.
Öffnen oder Schließen von Ionenkanälen
Die verschiedenen Ionengradienten zwischen dem Inneren und Äußeren von Zellen, die unter Energieverbrauch (gegen das Konzentrationsgefälle) aufrecht erhalten werden, sind für ein geregeltes Funktionieren der Zellen unerläßlich. Eine kontrollierte Passage von Ionen in Richtung ihres Konzentrationsgefälles erlauben spezielle Kanalproteine, die über Konformationsänderungen – also Änderungen ihrer Molekülgestalt – geöffnet oder geschlossen werden. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Geometrie und Ladungsverteilung lassen sie jeweils nur bestimmte Ionen hindurchtreten. So gibt es spezifische Kanäle für Natrium-, Kalium-, Calcium- und Chlorid-Ionen.
Stoffe, welche die Gestalt solcher Ionenkanäle und damit ihre Durchlässigkeit verändern können, beeinflussen die Ionengradienten und sind über deren Verschiebung biologisch aktiv. Pharmakologische Bedeutung haben in den letzten Jahren sogenannte Calcium-Antagonisten gewonnen (Bild 2).
Dazu zählt das Nifedipin, ein synthetischer Wirkstoff aus der Stoffklasse der Dihydropyridine, von denen inzwischen mehrere tausend synthetisiert und einige hundert auf ihre pharmakologische Wirkung hin untersucht worden sind. Nifedipin bremst den Calcium-Einstrom in die Zellen der glatten Gefäßmuskulatur und wirkt dadurch gefäßerweiternd. Damit sinkt der Blutdruck, und die Durchblutung verbessert sich, beispielsweise auch die des Gehirns.
An anderen Ionenkanälen greifen biologisch aktive Stoffe ebenfalls an. Ohne daß hier näher auf Einzelheiten eingegangen werden kann, seien noch einige wenige Beispiele genannt. So sorgen bestimmte Arzneimittel gegen die Zuckerkrankheit – beispielsweise das Harnstoffpräparat Glibenclamid – über die Blockade der Kaliumkanäle der Bauchspeicheldrüsen-Zellen für eine erhöhte Ausscheidung von Insulin.
Einige Psychopharmaka, die Benzodiazepin-Abkömmlinge (bekanntestes ist das Valium), steigern die Fähigkeit von Chloridkanälen, Gamma-Aminobuttersäure (GABA) zu binden (diese Kanäle sind also zugleich Rezeptoren). Dieser Neurotransmitter verlängert die Öffnungsdauer der Kanäle und erhöht dadurch das Membranpotential bestimmter Zellen des Zentralnervensystems; diese Neuronen feuern dann weniger leicht.
Lokalanästhetika schließlich, welche die Natriumkanäle in der Zellmembran peripherer Nerven blockieren, hemmen damit die Weiterleitung von Schmerzreizen zum Gehirn.
Interaktion mit Transportsystemen
Von der Zelle benötigte Stoffe wie Glucose und Aminosäuren werden über Transportsysteme eingeschleust; Glucose ist ein wichtiger Energieträger, und Aminosäuren dienen unter anderem zum Aufbau von Proteinen. In der anderen Richtung gelangen eine Reihe von Stoffwechselprodukten ebenfalls über Transportsysteme aus der Zelle heraus.
Läuft dieser Lastenverkehr unter Energieverbrauch ab, sprechen wir von einem aktiven Stofftransport. Schleusen hingegen Schleppermoleküle – sogenannte Carrier – einen Stoff ohne Energieaufwand durch die Membran, nennen wir das einen passiven Transport oder eine erleichterte Diffusion.
Biologisch aktive Stoffe können nun direkt an Elementen dieser verschiedenen Transportsysteme angreifen, ähnlich wie die Digitalis-Glykoside dies an der ATPase-Einheit der Natrium-Kalium-Pumpe der Herzmuskelzellen tun.
Ein Beispiel sind gewisse harntreibende Mittel. In der sogenannten Henleschen Schleife der Niere wird das Harnfiltrat erstmals konzentriert. Dabei werden unter anderem Natrium-Ionen und mit ihnen osmotisch gebundenes Wasser in das Blut zurücktransportiert. Man kann sich das analog der Vorgänge in einem Gegenstromaustauscher vorstellen. Werden nun die dabei in Aktion tretenden Transportsysteme durch eine bestimmte Klasse harntreibender Mittel, die sogenannten Schleifen-Diuretika, gehemmt, unterbleibt dieser Rücktransport. Das Ergebnis ist eine Diurese – eine vermehrte Harnausscheidung.
Bioaktive Stoffe können aber auch, in die Zellmembran eingelagert, die von einer intakten Membranstruktur abhängigen Transportsysteme beeinträchtigen. So besagt eine um die Jahrhundertwende aufgestellte und heute weitgehend bestätigte Narkosetheorie, daß Narkotika wie etwa Alkohole und Äther in die Membranen von Nervenzellen eingelagert werden und infolge dieser Umstrukturierung den Stofftransport zum Erliegen bringen. Das Resultat ist ein reversibler Funktionsverlust der betroffenen Zellen und mithin eine Narkose.
Drug Design über Leitstrukturen
Die heute häufigste Form des Drug Design ist die gezielte Synthese von Stoffen, die auf einer als wirksam erkannten Leitstruktur beruhen. Dies sind stabile chemische Gerüste, die in Stoffen einer bestimmten Klasse immer wieder auftreten. Während die Grundstruktur, die die eigentliche pharmakologische Wirkung bestimmt, unverändert bleibt, werden nun Seitenketten und funktionelle Gruppen gezielt variiert und auf diese Weise beispielsweise die Wasserlöslichkeit verändert, welche die Verteilung des Wirkstoffs im Organismus oder seine Durchgangsfähigkeit durch die Blut-Hirn-Schranke beeinflußt. Viele Calcium-Antagonisten wurden auf diesem Wege entwickelt.
Ein zweiter Ansatz ist heute noch weitgehend Zukunftsmusik. Dabei geht man, wenn bekannt, von der räumlichen Struktur des Bindungsortes – beispielsweise an einem Rezeptor, einem Enzym oder Carrier – aus und prüft Moleküle auf ihre Paßfähigkeit und damit auf eine mögliche biologische Wirkung.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1993, Seite 108
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