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Wieder auf eigenen Füßen stehen

Mathematische Modellierung und Computersimulation verbessern die Regelung einer Aufsteh-Neuroprothese.


Die Idee ist bestechend, aber keineswegs neu: Elektroden – auf die Haut aufgesetzt oder implantiert – lösen durch elektrische Impulse Aktionspotentiale in Nerven aus, die zu noch intakten Beinmuskeln von Querschnittgelähmten ziehen. Die Muskeln kontrahieren, der Patient vermag selbständig aufzustehen, zu stehen oder gar zu gehen – vorausgesetzt die Kontraktionen erfolgen koordiniert und ohne größere Störungen.

Einer groben Schätzung nach könnten etwa 25 Prozent der Betroffenen tatsächlich im Wortsinne wieder auf die Beine kommen. Gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe des Klinikums Großhadern entwickeln wir Regelungsstrategien für eine Aufsteh-Neuroprothese. Die Grundlage bilden mathematische Modelle der physiologischen Abläufe, Computersimulationen und biomechanische Bewegungsanalysen.

Der aufrecht stehende Patient entspricht einem umgedrehten, mehrgelenkigen Pendel, das umfallen oder einknicken würde, hielte nicht die Muskulatur an den Gelenken koordiniert dagegen. Das stimulierende Signal wird zudem von den Muskeln nicht linear in Kontraktionskraft umgesetzt, Begleiterscheinungen wie etwa Spastik und rasche Ermüdung künstlich erregter Muskeln erschweren die Bewegungskontrolle zusätzlich.

Deshalb sieht man auf der Straße eher Rollstuhlfahrer als Querschnittsgelähmte mit einer der kommerziell erhältlichen Neuroprothesen. Diese Systeme arbeiten nämlich ohne Regelung (open-loop-Systeme): Sobald der Patient einen Schalter beispielsweise an einer Krücke betätigt, läuft auf der jeweiligen Körperseite ein fest vorgegebenes, empirisch gewonnenes Reizprogramm ab. Zwar lassen sich die Amplituden durch einen Skalierungsfaktor in gewissen Grenzen individuell anpassen, dennoch sind stereotype, roboterhafte Bewegungen das Ergebnis. Unterschiedlich hohe Treppenstufen, Muskelermüdung – derlei bleibt unberücksichtigt.

Die Alternative: Bei einer geregelten Neuroprothese messen Sensoren Kräfte, Winkel, Winkelgeschwindigkeiten und -beschleunigungen, ein Regler vergleicht diese Daten mit denen einer Wunsch- oder Sollbewegung, ermittelt daraus nach bestimmten Strategien neue Reize, die ein Stimulator zu den Elektroden sendet. Ein solches closed-loop- beziehungsweise Feedback-System könnte auf Störungen wie Spastik und Muskelermüdung angemessen reagieren. Doch leider ist die Qualität der bisher realisierten Systeme noch so schlecht, daß keines davon derzeit in der Praxis eingesetzt wird.

Auf die Frage nach dem "Warum" läßt sich schnell eine Antwort finden: Die Zahl der geeigneten Sensor- und Reglertypen beziehungsweise die vielen einstellbaren Parameter ist so groß, daß es kaum möglich ist, Regelungstrategien experimentell zu bestimmen. Deshalb haben wir einem virtuellen Patienten entwickelt, also ein realistisches biomechanisches Modell eines Menschen. In der Computersimulation entwerfen, testen und optimieren wir Bewegungsabläufe, ohne den Patienten behelligen zu müssen. An ihm müssen die neuen Erkenntnisse ihre Tauglichkeit dann aber letztendlich beweisen.

Das Modell berücksichtigt die neun für das Aufstehen und Hinsetzen wichtigsten Muskelgruppen eines Beines, die ein Drehmoment in den Gelenken von Hüfte, Knie und Füßen erzeugen (siehe Graphik oben). Hautelektroden, die sozusagen virtuell an Ober- und Unterschenkel angebracht werden können, leiten Stimulationsimpulse zu den umliegenden motorischen Nerven und aktivieren so die Beinmuskulatur.

Die Kraft, die in einer Muskelgruppe erzeugt wird, ergibt sich primär aus dem Stimulationsmuster: Dauer und Stärke der Impulse bestimmen wie beim natürlichen Vorbild die Anzahl der aktivierten Muskelfasern, ihre Wiederholrate beeinflußt den zeitlichen Verlauf der Kontraktion in den einzelnen Fasern. Da der Gesamtbetrag der Muskelkraft demnach sozusagen räumlich und zeitlich veränderbar ist, spricht man auch von räumlicher beziehungsweise zeitlicher Summation.

Des weiteren beeinflußt die jeweilige Länge eines Muskels und die Geschwindigkeit, mit der er sich gerade dehnt oder verkürzt, die Kraftentwicklung. Deshalb muß man die aktuelle Körperposition und -bewegung in die Modellierung einbeziehen. Auch die bei der künstlichen Stimulation verstärkt auftretende Muskelermüdung ist zu berücksichtigen.

All diese Effekte erfaßt ein dynamisches Grundmodell, das die elektrochemischen Vorgänge im Muskel, zum Beispiel die Dynamik der wichtigen Calcium-Ionen, der Physiologie gemäß beschreibt. Jede Muskelgruppe wird auf diese Weise repräsentiert.

Sozusagen als Gegenpart benötigt man Gelenkmodelle für die geometrischen Verhältnisse in Hüfte, Knie und Sprunggelenk. Sie geben nicht nur den möglichen Bewegungsbereich vor, sondern ermitteln zugleich die Hebelarme, die zur Berechnung der Gelenkdrehmomente benötigt werden. Der Hebelarm, den ein Muskel oder eine Sehne gegenüber einem Gelenk bildet, ist nämlich keine konstante Größe, sondern kann sehr stark mit der jeweiligen Gelenkstellung variieren.

Die so berechneten Hüft-, Knie- und Fußmomente gehen auf der nächsthöheren Ebene der Simulation in ein Gliedmaßenmodell ein und liefern so die resultierende Körperbewegung. Dabei wird der Körper des Patienten – wie erwähnt – als umgedrehtes, mehrgelenkiges Pendel modelliert, das aus Unterschenkel, Oberschenkel und Oberkörper besteht. Bewegungsgleichungen beschreiben schließlich die Dynamik des gesamten Körpers. Als weitere Komponenten enthält das Gesamtmodell Feder-Dämpfer-Paare, um das Sitzen auf einem Stuhl nachzubilden, und ein Armmodell, das über Schulterkräfte und Momente an das Patientenmodell angekoppelt ist und den Armeinsatzes beim Aufstehen und Hinsetzen nachbildet.

So aufwendig dieser gesamte mathematische Apparat auch ist, um zu funktionieren bedarf er individueller Kennwerte und Kennlinien, personenspezifischer Muskelparameter, Anatomiedaten und anthropometrischer Werte. Jeder Patient muß sich daher zunächst verschiedenen Voruntersuchungen unterziehen, bevor ein virtuelles Ebenbild ihn vertreten kann.

Danach kann man die virtuellen Muskeln durch diverse Stimulationsmuster ansteuern. Eine graphische Animation sorgt für die anschauliche Darstellung, so daß der Arzt die resultierende Bewegung rasch zu beurteilen vermag. Auch körperinterne Größen, die für eine Bewegungsoptimierung von Bedeutung sind wie Gelenk- und Sehnenbelastungen können dabei beobachtet werden. Mit Hilfe des virtuellen Patienten läßt sich so eine Regelstrategie entwickeln, die eine koordinierte und natürliche Bewegung ermöglicht.

In der Robotik versucht man meist, die Abweichung einer tatsächlichen von einer erwünschten Bewegung möglichst gering zu halten. Auf die Neuroprothese zum Aufstehen und Hinsetzen übertragen, bedeutet das:
‰ Sensoren messen den Winkel am Fuß-, Knie- und Hüftgelenk (im einfachsten Fall sind das aufgeklebte Potentiometer, deren elektrischer Widerstand sich mit dem Winkel verändert);
‰ diese Daten werden mit gespeicherten einer Sollbewegung, verglichen, wie sie beispielsweise in Experimenten mit Gesunden ermittelt wurden;
‰ je nachdem, ob die tatsächliche Bewegung der gewünschten momentan vorauseilt oder hinterherhinkt, wird die Reizstärke des Stimulators entsprechend vermindert oder erhöht.

Problematisch ist nur, daß der Regler unfähig ist, sich flexibel auf die Situation einzustellen. Er strebt unter allen Umständen die Sollbahn an, auch wenn der Patient dabei beispielsweise aus dem Gleichgewicht gerät. Diese Strategie arbeitet deshalb nur dann zufriedenstellend, wenn die Sollbewegung sehr langsam und die künstlich erzeugte Muskelkraft genügend groß ist, wie wir in Simulationsläufen mit dem virtuellen Patienten feststellen konnten. Außerdem muß die Sollbewegung individuell abgestimmt sein, diese zu bestimmen ist aber recht aufwendig.

Wie läßt sich jedoch solchen Menschen helfen, deren Beinmuskeln zu schwach sind, um den Körper aufzurichten? Schon wenige Wochen nach Eintritt der Lähmung atrophieren die Muskeln – sie verlieren an Volumen und Leistungsvermögen. Ein Stimulationstraining vermag sie in beschränktem Maße wieder aufzubauen, ihr ursprüngliches Leistungsvermögen gewinnen sie jedoch nicht mehr zurück.

Des weiteren beeinträchtigen Störungen wie etwa spontan eintretende Spasmen oder Muskelermüdung die Aufgabe. Deshalb ist der Patient meist auf Gehhilfen, beispielsweise Vierpunktstöcke angewiesen. Die intakte Motorik von Armen und Oberkörper unterstützt dann die zu geringen Beinkräfte und sorgt dafür, daß das Gleichgewicht gewahrt bleibt.

Diese Komplementarität von künstlichem und natürlichem Regler, von Neuroprothese und Willkürmotorik, sollte in den Reglerentwurf unbedingt eingehen, andernfalls könnten sich beide gegenseitig behindern. Der Patient müßte dann erheblich mehr Armkraft aufbringen, könnte unter Umständen sogar stürzen.

Dazu läßt sich beispielsweise das Stimulationsmuster an die gemessene Oberkörperaktion anpassen, die Stimulation der gelähmten Gliedmaßen also durch die Willkürmotorik mitbestimmen. Dem Patienten wird der Bewegungsablauf dann nicht aufgezwungen, wie bei den meisten geregelten Strategien bislang, sondern er übernimmt selbst einen Teil der Regelaufgabe. Gemessene Gelenkwinkel und Winkelgeschwindigkeiten werden dazu in ein vereinfachtes Patientenmodell gespeist und sozusagen rückwärts die für eine solche Bewegung erforderlichen elektrischen Reize berechnet. Simulationen am virtuellen Patienten bestätigten: Zu Beginn des Aufstehens tragen die Beine mehr als die Hälfte des Körpergewichts, in der Endphase und im Stand fast alles; der Patient kann seine Arme entlasten.

Herkömmliche Strategien hingegen behandeln Bewegungen des Oberkörpers als zu kompensierende Störung. Der Patient profitiert auch davon, daß ihm die Regelung der Bewegung unterliegt, so daß er sehr gut lernen und sich an verändernde Umstände anpassen kann. Eine fest vorgegebene Sollbewegung ist überflüssig, vielmehr läßt sich aus der natürlichen Fähigkeit des Nervensystems zu lernen und sich anzupassen Nutzen ziehen.

Zur Zeit werden die verschiedenen Regelungsstrategien experimentell untersucht und auf dieser Grundlage auch solche zur Regelung einer Neuroprothese beim Gehen und Treppensteigen entwickelt. Der heutige Stand dieser Geräte ist etwa der ersten Generation von Herzschrittmachern vergleichbar. Diese frühen Neuroprothesen waren noch voluminöse Röhrengeräte auf Transportwagen. Langfristiges muß auch die Hilfe für den Querschnittsgelähmten ein implantierbares System sein: Dem Patienten würde dann ein Siliconchip – ein Stimulator aus Siliciumchips, die in Silicon eingebettet sind – unter die Haut gepflanzt, der die Beinmuskeln stimuliert. Ein künstlicher Antrieb also, der nicht einmal von außen sichtbar sein würde


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1999, Seite 88
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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