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Wiederaufbau im Ausnahmezustand

Mit internationaler Unterstützung werden in Bosnien-Herzegowina Erziehungs- und Bildungswesen neu gestaltet sowie Schulen und Universitäten restauriert.


er im April 1992 begonnene blutige Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina zerstörte nicht nur die Hauptstadt Sarajevo weitgehend, sondern hatte auch die Auflösung der staatlichen Ordnung zur Folge. Neunzig Prozent der Kraftwerke und Stromleitungen wurden zerstört, ebenso ein Drittel aller Schulen und Krankenhäuser; die Wirtschaftsleistung sank zeitweise auf etwa 15 Prozent ihres Vorkriegswertes. Erst im November 1995 begann sich mit dem in Dayton (USA) geschlossenen Friedensvertrag ein Ende des Leidensweges der Bevölkerung abzuzeichnen. Seit 1996 laufen nun in dem immer noch von den Vereinten Nationen kontrollierten Vielvölkerstaat zahlreiche Wiederaufbauprogramme, die gemeinsam finanziert werden von UN-Organisationen, der Europäischen Union und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen; ein Teil von ihnen fördert auch die nationale Neugestaltung des Erziehungswesens und den Wiederaufbau von Bildungseinrichtungen.

Vor dem Krieg waren an den fünf größten Hochschulzentren des Landes – Sarajevo, Banja Luka, Mostar, Tuzla und Zenica – 56000 Studenten eingeschrieben, 36000 davon allein in Sarajevo. Offiziell wurde der Lehr- und Forschungsbetrieb auch während des Krieges weitergeführt. "Doch das hing im wesentlichen von der Intensität der Bombardierungen ab", schränkt der Vize-Rektor der Universität Sarajevo, Muharem Avdispahi´c, ein. Die Zahl der Studierenden dort – vor dem Dayton-Abkommen auf 7000 gesunken – steigt wieder; die heimkehrenden Flüchtlinge werden diesen Trend weiter verstärken. "Und das stellt für uns ein großes Problem dar", so Avdispahi´c, "denn mit den jetzt 20000 Studierenden ist die Universität bereits an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen."

Kummer bereitet ihm insbesondere das Ungleichgewicht zwischen den einzelnen Fachbereichen. Während die Ingenieurwissenschaften kaum Zulauf haben, gibt es in Medizin einen Numerus Clausus – im vergangenen Jahr standen 900 Bewerbern 100 Studienplätze gegenüber. Ähnlich ist die Lage im Bereich der Fremdsprachen: "Kaum jemand will noch slawische Sprachen studieren, doch alles drängt in die Anglistik", konstatiert Avdispahi´c. Das habe mit der großen Bewunderung für alles Amerikanische zu tun. Denn die Menschen in Sarajevo glaubten, daß der Frieden vor allem dem konsequenten Einschreiten der USA – die zudem als beispielhafter Vielvölkerstaat gelten – zu verdanken sei. "Und schließlich kann man mit Englisch in den vielen internationalen Organisationen eine sehr gut dotierte Stelle bekommen. Dort verdienen die jungen Leute oft dreimal soviel wie an den Schulen oder an den Universitäten", erläutert Demko Ruzdi´c, Experte für Hochschulfragen im bosnischen Ministerium für Erziehung, Wissenschaft, Kultur und Sport. Doch dadurch ginge eine ganze Generation von Hochschullehrern verloren.

Dem Vorhaben, künftig auch Magistern eine Lehrbefugnis zu erteilen, um mehr junge Absolventen in den Lehrbetrieb integrieren zu können, steht Ruzdi´c allerdings skeptisch gegenüber, denn "es ist schwer zu sagen, ob jemand, der während des Krieges hier sein Diplom gemacht hat, auch wirklich über die erforderliche Qualifikation verfügt. Die Kriterien sind schwammig, da experimentelles Arbeiten zu dieser Zeit gar nicht möglich gewesen ist." Die Mehrheit der Studenten hätte sich mit Fernstudienmaterialien auf die Prüfungen vorbereiten müssen.

Der Wiederaufbau der Universitätsgebäude, Laboratorien, Rechenzentren und Bibliotheken ist langwierig und zäh (Bild). Die Europäische Kommission stellte im Rahmen ihrer Programme PHARE und OBNOVA allein in den letzten beiden Jahren 4,8 Millionen ECU zur Verfügung. Auch die zahlreichen Spenden von Partneruniversitäten und privaten Organisationen sind hilfreich. Doch bisher konnten nur wenige Laboratorien mit dem Nötigsten ausgestattet werden – allein an der Universität Sarajevo wird der Gesamtschaden auf mehr als 200 Millionen Mark geschätzt.

Nach der Restauration der Gebäude sollen die Fakultäten zunächst mit einer technischen Grundausstattung versehen werden; danach soll eine Modernisierung des Inventars erfolgen. Doch vor jeder Maßnahme müssen pro Investitionsprojekt – so sieht es der Aufbauplan der internationalen Organisationen vor – nacheinander drei Expertengruppen aus der Europäischen Union oder aus anderen westlichen Ländern anreisen und ihre Zustimmung geben. Zwischenzeitlich suchen die Wissenschaftler die Mängel der eigenen Laboratorien zu umgehen und von Partneruniversitäten oder westlichen Forschungszentren Studienmaterialien zu bekommen. Einrichtungen wie der Deutsche Akademische Austauschdienst ermöglichen Forschern einen kurzzeitigen Gastaufenthalt an anderen Universitäten in Westeuropa, um wichtige Experimente durchführen zu können.

Seit 1996 ist Bosnien zwar Mitglied im PHARE- und damit auch im TEMPUS-Programm der EU, doch wurde noch kein entsprechendes Büro in Sarajevo eröffnet. "Schuld daran ist natürlich die komplizierte politische Situation im Land", erklärt Avdispahi´c. Und mit den 0,75 Prozent des PHARE-Budgets, die für den Wiederaufbau in Bosnien zur Verfügung stünden, könne man nur wenig bewerkstelligen. Oft würden sogar bereits laufende oder beantragte Projekte wieder eingestellt. Hoffnungsvoll stimmt ihn hingegen der akademische Austausch: Mit Universitäten in 45 Ländern gebe es Kooperationsabkommen. "Unsere Beziehungen zu deutschen Universitäten jedoch sind – bis auf Erlangen – seit dem Krieg unterbrochen", bedauert er.

Auch der strukturelle Neuaufbau von Forschung und Lehre ist mühsam. Vor allem die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten und Instituten im Land habe gelitten, erläutert Ruzdi´c. Die Universität Banja-Luka liegt nun in der selbstproklamierten Republik Srpska. Zu ihr gehört die Serbische Universität Sarajevo, die unter anderem auch in Pale eine Zweigstelle unterhält. Die ehemalige Dzemal-Bidedi´c-Universität in Mostar wurde aufgespalten in eine westliche Kroatische Universität und in eine öst-liche, die sich als legitimer Nachfolger versteht und den alten Namen beibehalten hat.

Die geänderte Verwaltungspolitik in Forschung und Bildung tut ein übriges. Zwar sind die bosnischen Universitäten seit zwanzig Jahren autonom, doch das Dayton-Abkommen übertrug die Verantwortung für die Bildungspolitik den Kantonen. Dem Ministerium für Erziehung, Wissenschaft, Kultur und Sport bleibt lediglich eine koordinierende Funktion. Es wird künftig darüber wachen, daß die Diskrepanzen in Fragen der Forschung und Bildung zwischen den einzelnen Kantonen nicht zu groß werden.

Auch die finanzielle Zuständigkeit liegt nun im Verantwortungsbereich der Kantone. Zuvor festgelegte Jahresbudgets gibt es dabei nicht mehr. Ein Grundprinzip soll derweil erhalten bleiben: 70 Prozent der Bildungs- und Forschungsförderung sollen aus öffentlichen Mitteln stammen, 30 Prozent von den Universitäten erwirtschaftet werden. Eine Beteiligung der Industrie ist aber wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation des Landes vorläufig nicht zu erwarten, so daß Studiengebühren wohl unausweichlich sind.

Auch die Situation der Bosnischen Akademie der Kunst und Wissenschaft ist nicht rosig. "Vor dem Krieg hatten wir etwa zwanzig Forschungsprojekte laufen, jetzt sind es nur noch fünf", meint der Akademiepräsident, der Mediziner Seid Hukovi´c. Das kantonal zugewiesene Budget für 1998 betrage nur 100000 Mark, hinzu kämen Zuwendungen von Stiftungen und ausländischen Institutionen. Die augenblicklich laufenden Arbeiten der Akademie, die aus den sechs Abteilungen Dichtung, Bildende Kunst, Medizin, Soziologie, Naturwissenschaften sowie Technik besteht, liefen eher sporadisch und konzentrierten sich mehr auf theoretische Problemstellungen.

Doch trotz materieller Schwierigkeiten und der noch immer prekären politischen Situation des Landes scheinen Optimismus und Arbeitskraft in Bosnien ungebrochen. "Der Aufbau geht weiter", bestätigt Ruzdi´c, "und wir haben sogar das Projekt einer amerikanischen Universität in Sarajevo entwickelt." Vierzig Professoren, unter anderem aus Harvard und Berkeley, hätten bereits ihr Interesse daran bekundet. Jetzt gelte es, die juristischen und finanziellen Probleme hierfür zu lösen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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