Neuronale Karten: Die Geburt des Homunkulus
Mit dem Skalpell in der Hand steht Wilder Penfield vor seiner Patientin, bereit, ihren Schädel zu öffnen. Der Mediziner, 37 Jahre alt und US-Amerikaner, operiert erst seit Kurzem in Kanada an der McGill University in Montreal. In Fachkreisen gilt er bereits als einer der brillantesten Neurologen seiner Generation. Gleich nach seinem Abschluss in Princeton unter dem berühmten Neurochirurgen Harvey Cushing hatte ihm die Rockefeller-Stiftung angeboten, in New York ein Epilepsiezentrum zu gründen. Allerdings scheiterte das Vorhaben an Interessenkämpfen der dortigen Neurologenzunft. Daraufhin hatte Penfield beschlossen, nach Kanada auszuwandern. Doch in diesem Augenblick im Jahr 1928 rückt für ihn all das in den Hintergrund. Denn die junge Frau, die er gleich am Gehirn operieren wird, ist seine Schwester.
Der Fall scheint nahezu aussichtslos. Ruth Penfield hat gerade eine Reihe von Krampfanfällen hinter sich. Zwar hatte sie schon acht Jahre zuvor eine erste epileptische Episode gehabt, aber damals erkannte niemand die Ursache. Inzwischen ist die Diagnose klar: Sie leidet an einem Gliom, einem besonders aggressiven Hirntumor, ausgehend von den Gliazellen, welche eine Art Stützgerüst für die Nervenzellen bilden. Der Tumor muss entfernt werden, sonst wird Ruth sterben.
Seine Fachkollegen sind der Meinung, dass Penfield der qualifizierteste Arzt ist, der diese Operation durchführen könnte. Es handelt sich um einen hochriskanten Eingriff, bei dem jederzeit eine massive Blutung eintreten kann. Der gesamte vordere Teil des rechten Frontallappens ist vom Tumor betroffen und muss entfernt werden. Nach der Injektion eines lokalen Betäubungsmittels wird ...
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