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Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft. Ein kommentiertes Verzeichnis des sprachwissenschaftlichen Nachlasses


Im Oktober 1992 fand in Berlin, ausgerichtet vom Iberoamerikanischen Institut und der Freien Universität, eine Tagung über "Wilhelm von Humboldt und die amerikanischen Indianersprachen" statt. Damit bekam dessen breite und langjährige Beschäftigung mit diesen Sprachen erstmals seit 150 Jahren ein wissenschaftliches Forum. Es wurde deutlich, daß Humboldt (1767 bis 1835), der heute im wesentlichen als Staatsmann und Gründer der Berliner Universität, in der Wissenschaft auch als Sprachphilosoph oder Sprachtheoretiker bekannt ist, auch ein Empiriker war und außer seinen bekannten, weil schon früh veröffentlichten Studien des Baskischen, des Sanskrit und der indo-ozeanischen Sprachen ein beeindruckend breites uvre von Grammatikabrissen und Wörterbüchern zu den Sprachen der Neuen Welt hinterlassen hat.

Der Paderborner Schöningh-Verlag wagt es nun, die rezipierten wie die bisher unveröffentlichten Teile dieses Werkes erstmals vollständig und quellenkritisch angemessen bearbeitet herauszubringen. Generalherausgeber und Autor des vorliegenden einleitenden Bandes ist der Germanist Kurt Mueller-Vollmer von der Universität Stanford (Kalifornien).

Bereits dieser erste Band gibt eine orientierende Einführung und einen Überblick der allen folgenden Bänden zugrundeliegenden Materialien. Das ist vorbildlich, verglichen mit der häufig geübten Praxis, den Leser orientierungslos auf Einzelstudien zu stoßen und für den Überblick auf ein abschließendes Werk zu verweisen.

Im Gesamtverzeichnis des Nachlasses (Seiten 105 bis 397) ist genauestens beschrieben, was erhalten und wo es zugänglich ist. Freilich ist die direkte Arbeit am Nachlaß nicht einfach; denn er ist über viele Institutionen (Staatsbibliothek Berlin, Bibliothek der Humboldt-Universität Berlin, Jagellionische Bibliothek in Krakau, Privatarchiv der Familien von Heintz auf Schloß Tegel bei Berlin) verteilt, und vieles ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer verschollen. Auch hat vor allem Humboldts Mitarbeiter und Nachlaßverwalter Eduard Buschmann (1805 bis 1880), seinerseits als Begründer der Genetik nordamerikanischer Indianersprachen wissenschaftlich ausgewiesen, das Material schon um die Mitte des letzten Jahrhunderts stark verformt und überarbeitet. Man wird deshalb zweckmäßigerweise auf die Einzeleditionen warten.

Ein erster Band über die mexikanische Grammatik und mit ihr zusammenhängende Studien befindet sich im Druck. Manfred Ringmacher hat sie im Rahmen eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Iberoamerikanischen Institut vorbereitet. Die folgenden Bände – man plant etwa drei pro Jahr – sollen ebenfalls zunächst jeweils einzelnen Indianersprachen gewidmet sein: Das Nahuatl (Aztekische) wird mit einem Wörterbuch vertreten sein, desgleichen das Quechua (gesprochen in Ecuador, Peru und Bolivien), das Otomi (in Zentralmexiko), das Onondaga und das Massachusetts (beide ehemals im Osten der Vereinigten Staaten gesprochen) und andere. Später werden Humboldts Arbeiten über andere Sprachen der Welt und theoretische Schriften folgen. Insgesamt wird das Werk etwa 15 stattliche Bände umfassen.

Wer Humboldts Arbeitsweise nachvollziehen möchte, um so zu einem tieferen Verständnis der Schriften zu gelangen, wird in der klaren, weil erfreulich knappen Einleitung Mueller-Vollmers (Seiten 1 bis 89) reichlich Hinweise finden. Sie vertritt zugleich mit Nachdruck einige wesentliche neue Erkenntnisse und korrigiert vor allem das verbreitete Humboldt-Bild vom reinen Theoretiker.

Durch zwei Verzeichnisse der Humboldt verfügbaren Materialien (Bücher und Manuskripte, Seiten 401 bis 444), die aus seiner Zeit als preußischer Gesandter in Rom (1806 bis 1808) und aus seinen letzten Schaffensjahren auf Schloß Tegel (1821 bis 1827) datieren, weist Mueller-Vollmer außerdem nach, daß die amerikanischen Sprachen bereits früh das intensive Interesse Humboldts gefunden hatten, nämlich gleich im Anschluß an seine ausschlaggebenden Erfahrungen mit dem Baskischen anläßlich einer Spanienreise wenige Jahre zuvor. Daß ihn in seinen letzten Lebensjahren nicht nur, wie bisher angenommen, die malayischen, sondern vornehmlich die Indianersprachen beschäftigt haben, ist eine weitere neue Erkenntnis Mueller-Vollmers.

Humboldt mußte bei seinen amerikanistischen Sprachstudien fast ausschließlich mit Grammatiken und Textproben arbeiten, die von Missionaren stammten, und es gab zu seiner Zeit in ganz Europa noch keine öffentliche Bibliothek mit nennenswertem Sprachmaterial. Seine linguistische Privatbibliothek mit ihren wohl knapp 500 Titeln – deren Verzeichnis im vorliegenden Buch abgedruckt ist – war damals die weltweit einzige, die man als Forschungsbibliothek bezeichnen konnte. Das zeigt zugleich, daß Humboldt in seinem Bestreben, alle Sprachen der Erde aus sich heraus zu verstehen und zu beschreiben, so gut wie allein stand.

Insgesamt 285 Briefe von und an Humboldt sowie gelegentlich auch hier relevante zwischen anderen Korrespondenten werden nachgewiesen und im Hauptverzeichnis auch oft inhaltlich resümiert. Unter den Briefpartnern Humboldts finden sich so maßgebende Sprachforscher wie Buschmann, Franz Bopp (1791 bis 1867), der Begründer der Indogermanistik, der in den USA wirkende Sprachforscher John Pickering (1777 bis 1846), der Indologe Friedrich Rosen (1805 bis 1837) und Heinrich Julius Klaproth (1783 bis 1835), der insbesondere die kaukasischen Sprachen erschloß.

Im Spiegel des Briefwechsels bietet sich ein repräsentatives und direktes Bild der entstehenden europäischen und amerikanischen Sprachwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert. Hier sind die Quellen für eine wirklichkeitsnahe Geschichte der Sprachwissenschaft anstelle der idealisierten Darstellungen herkömmlicher Art, die der amerikanische Wissenschaftssoziologe und Philosoph Thomas S. Kuhn in anderem Zusammenhang als Irreführung der Wissenschaftsgeschichte scharf kritisiert hat. Und gerade über Wilhelm von Humboldt als Sprachforscher scheinen die wissenschaftlichen Biographen sehr schnell ein eigenwilliges, dringend korrekturbedürftiges Bild verbreitet zu haben.

Es lassen sich aus dem vorlegenden einleitenden Band also bereits reichlich Material und Anregungen für die Forschung entnehmen. Man muß Autor und Verlag für ihre Mühe und große Sorgfalt dankbar sein und hoffen, daß Kraft und Mittel ausreichen werden, um die geplanten weiteren Bände in ebenso angemessener Form und schneller Folge herauszugeben.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1994, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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