Wissenschaft im Internet: Verdammt lang her
Das World Wide Web erkundet seine eigene Geschichte.
Wer wird unseren Kindern die rasante Geschichte des Internets erzählen? Ihnen berichten von den Tagen, als in immer schnellerer Abfolge neue Seiten entstanden und sich das Gesicht des Netzes täglich wandelte? Wer kennt noch die ungezählten Seiten, die gerade einmal ein paar Tage oder Wochen alt wurden, um sogleich von »Updates« und »Relaunches« begraben zu werden? Nur noch einige tote Links künden von Vergangenem: Die virtuelle Welt verwischt ihre eigenen Spuren. Dem drohenden Gedächtnisverlust der digitalen Epoche stemmt sich das »Internet Archive« (www.archive.org) in San Francisco entgegen: Die rührige Non-Profit-Organisation, die auf Stiftungsgelder und Datenschenkungen angewiesen ist, baut eine digitale Bibliothek für historische Internetseiten und andere digitalisierbare Kulturgüter wie Filme, Bücher und Konzertmitschnitte auf. Das »Archive« versteht sich als Retter dessen, was jenseits und auch innerhalb des kulturellen Mainstreams dem Vergessen anheim fallen könnte.
Das Internet in seiner ganzen Vielfalt und Vergänglichkeit wird so zum Kulturerbe. Wer unter www.archive.org/web/web.php eine Web-Adresse in die »Wayback«-Maschine eintippt und anschließend ein Datum auswählt, bekommt die dazugehörige Seite auf den Schirm, so wie sie vor Jahren aussah. Web-Historiker können das Netz jetzt in der Rückschau erforschen: Wie textlastig präsentierte sich der Internet-Dinosaurier Yahoo noch Mitte der 1990er Jahre, und welche Bücher waren damals die Renner bei Amazon.de?
Auch anspruchsvollere Fragen beantwortet das »Archive«: Aus sicherem Abstand lässt sich verfolgen, wie angesichts des Jahrtausendwechsels die weltweite »Y2K«-Panik um sich griff. Manchem Thema widmet das Archiv eigene Sammlungen: Die Reaktionen der Web-Welt auf den 11. September 2001 sind ebenso dokumentiert wie die US-Präsidentschaftskandidaturen im Netz des Jahres 2000.
Über zehn Milliarden Seiten – Tendenz exponentiell steigend – sind auf den Magnetbändern und Festplatten dieser »Wayback«-Maschine gespeichert, deren Name soviel wie »Rückweg« oder auch »verdammt lang her« bedeutet. Dabei reicht ihr Gedächtnis gerade einmal bis 1996 zurück; damals dauerte der Boom des World Wide Web schon drei Jahre an.
Dagegen lässt sich die Filmgeschichte bis in die 1920er Jahre verfolgen, wenn auch nur in rudimentärer Auswahl (www.archive.org/movies/movies.php). So präsentiert das Archiv unter anderem einen Fundus so genannter »ephemerals« – kurzlebiger Werbe-, Industrie- oder Amateurfilme. Bert, die Schildkröte, versteckt sich unter ihrem Panzer, um Kindern das richtige Verhalten im Fall eines atomaren Angriffs zu erklären (»Duck and cover«, www.archive.org/movies/details-db.php?collection=prelinger&collectionid=19069). Und die Erziehungsfilme der späten 1940er Jahre heben nach dem Muster »Gutes Mädchen, böses Mädchen« den mahnenden Zeigefinger (»Are you popular?«, www.archive.org/movies/details-db.php?collection=prelinger&collectionid=00014).
Einen Klick weiter dreht sich das Netz wieder um sich selbst: Im »Net Café« wird Nicholas Negroponte interviewt, der als Gründer des MIT Media Lab und Autor von »Being Digital« zur Web-Legende wurde (www.archive.org/movies/details-db.php?collection=netcafe&collectionid=624).
Im Reich der elektronischen Texte (www.archive.org/texts/texts.php) lässt sich schließlich auch die Frühzeit des Netzes erforschen: Interviews und Zeitungsausschnitte dokumentieren die Entwicklung des militärischen Internet-Vorgängers Arpanet. Dieselbe Adresse öffnet zudem den Weg in eine ganz andere Welt: Die ersten tausend Bände des »Million Book Project« stehen hier ebenso im digitalen Regal wie Kinderbücher in 15 Sprachen aus 27 Kulturen. Deutschen Autoren verhilft das »Archive« hingegen kaum zu Ehren – doch dafür gibt es ja www.gutenberg2000.de.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2003, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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