Wissenschaft im Internet: VRML - die verschmähte virtuelle Welt
Der Bildschirm zeigt das Modell eines organischen Moleküls, vom schlichten Alkohol über THC, den Wirkstoff des Haschischs, bis hin zu weniger berauschenden, dafür umso schwerer vorstellbaren Dingen wie ganzen Protein-molekülen in natürlich gefalteter Konformation. Wie die alten Modelle aus dem Chemieunterricht bestehen die Computerdarstellungen aus Kugeln und Stäbchen oder aus dicht an dicht gepackten Kalotten (Kugelschalen); und wie ihre verstaubten Vorbilder sind sie anfassbar – fast. Man langt mit dem Mauszeiger in das Bild, drückt den Knopf, und schon rotiert das Molekül so, wie der Betrachter die Maus führt, und gestattet ihm Blicke von allen Seiten.
Das ist hübsch und sehr instruktiv; deswegen haben viele Institute für Chemie und Chemiedidaktik von diesem Darstellungsmittel Gebrauch gemacht und Molekülmodelle ins Netz gestellt. http://www.uni-koeln.de/ew-fak/Chemie/VRML_index.htm und http://www.nyu.edu/pages/mathmol/library/ bieten zahlreiche Beispiele und Verweise auf weitere Websites.
Hinter den Darstellungen steckt eine Beschreibungssprache namens VRML (virtual reality modeling language). Eine VRML-Datei enthält abstrakte, dreidimensionale Beschreibungen der in ihr enthaltenen Objekte; erst im Computer des Benutzers errechnet daraus ein Darstellungsprogramm (Browser) die Ansicht, die sich vom – veränderlichen – Standpunkt des virtuellen Betrachters aus darbietet.
Die offizielle Sprachdefinition ( http://www.web3d.org/fs_specifications.htm ) zeigt, dass VRML darüber hinaus noch weit mehr kann. Die äußerst mächtige Sprache erlaubt die Definition von Gegenständen mit einer Fülle von Eigenschaften. Die virtuelle Verkörperung des Benutzers (sein "Avatar") darf sich durch die Welt bewegen. Standard-Bewegungsformen wie Gehen über unebenen Untergrund oder Fliegen durch den Weltraum sind bereits vorprogrammiert. Durch Berühren gewisser Objekte, oder indem sie in sein Blickfeld geraten, löst der Avatar Ereignisse aus; auf einen Auslöser hin, oder auch nur durch den Ablauf der Zeit, ändern die Dinge der virtuellen Welt ihre Eigenschaften.
Wenn die Ladezeiten nicht so lang würden, könnte man in VRML ein komplettes Videospiel programmieren. Oder auch eine Art psychedelisches Kino: Lassen Sie sich von den nichteuklidischen Kaleidoskopen von Vladimir Bulatov berauschen ( http://www.physics.orst.edu/~bulatov/vrml ), oder betrachten Sie von allen Seiten die verrückten Polyeder von Jim McNeill ( http://web.ukonline.co.uk/polyhedra/ )! Nicht umsonst tragen VRML-Dateien das kennzeichnende Anhängsel .wrl wie "world", und ihre Autoren heißen "Schöpfer" (creator) im üblichen Jargon.
Hinter der schönen Theorie bleibt die Realität kläglich zurück. Der Nutzer muss viel Geduld mitbringen und darf sich durch häufige Programmabstürze nicht irritieren lassen. Vor ungefähr vier Jahren hat das Interesse an VRML so nachgelassen, dass die Weiterentwicklung der zahlreichen Browser stehen geblieben ist. Darunter litt offensichtlich die Motivation der Schöpfer.
Von den heroischen Anstrengungen einiger VRML-Unentwegter ist wenig übrig geblieben; aus der langen Liste von Bob Crispen ( http://hiwaay.net/~crispen/vrml/worlds.html ) existieren die meisten Links inzwischen nicht mehr. Nützliche Anwendungen wie die virtuelle Chirurgenschulung ( http://synaptic.mvc.mcc.ac.uk/PedicleScrew.html ; Bilder) sind Ausnahmen; nur allzu häufig hampelt der Benutzer in virtuellen Museumsrundgängen wie http://www.leonardodicaprio.com/lcl_img/art/3DGAL/3dgal.wrl hilflos um Bilder herum, die platt von vorne noch am besten wirken würden.
Schade um ein gutes Konzept.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2002, Seite 111
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