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Wissenschaft in Unternehmen: Dyskalkulie - verloren in der Welt der Zahlen



Was ist 3 mal 19?", fragt die Psychologin ein Kind, das immerhin in die sechste Klasse eines Gymnasiums geht. Die Antwort verblüfft: "37". Die Erläuterung überrascht noch mehr: "3 mal 9 ist 27, und dann ist da noch eine 1, die kommt dazu." Angelika Schlotmann-Wagener, Gründerin und Geschäftsführerin des privatwirtschaftlichen Rechen-Therapie-Zentrums in Schriesheim bei Heidelberg, kennt solche Irrungen: "Dieses Kind hat die Logik des Dezimalsystems und die des Multiplizierens nicht verstanden. Es konnte seine Rechenschwäche bislang durch Auswendiglernen – 3 mal 9 gleich 27 – kompensieren. Im Allgemeinen fallen solche Kinder in der dritten bis fünften Klasse auf."

Als Rechenschwäche, fachlich Dyskalkulie, bezeichnen Psychologen eine Einschränkung der Intelligenz im Verständnis für die Welt der Zahlen; sie ähnelt der bekannteren Lese-RechtschreibSchwäche, fachlich Legasthenie. Rechenschwache Kinder erreichen in standardisierten Intelligenztests im Schnitt einen IQ von 100, ihre Rechenleistung liegt mit einem Rechen-IQ von maximal 85 aber mindestens eine Standardabweichung darunter.

Für die Kinder hat ihre Teilleistungsschwäche fatale Konsequenzen. Da sie in der Welt der Zahlen nicht Fuß fassen, häufen sich Misserfolge in der Schule. Frustriert fürchten sie den Mathematikunterricht, halten sich überhaupt für dumm. Daraus resultieren oft seelische Belastungen und körperliche Beschwerden, manchen Kindern droht der Wechsel in eine Förderschule, gelegentlich beobachtet man aggressives Verhalten.

Situatives Lernen statt Frontalunterricht

Häufig bleibt die Dyskalkulie als Ursache der Probleme lange unentdeckt, denn standardisierte Tests erfassen leider vor allem die Rechentechnik, also das sture Anwenden von Regeln. Die viel wesentlichere Rechenlogik, also das Verstehen, wie eine konkrete Frage mathematisch übersetzt und gelöst wird, fällt durch das Raster. Technik lässt sich aber gut "pauken". So kann ein rechenschwaches Kind, dessen Zahlenverständnis nicht über das Ordinalniveau hinausgeht, die Aufgabe "8 minus 5" durch einfaches Rückwärtszählen lösen – häufig unter Zuhilfenahme der Finger. Bei komplizierteren Operationen und größeren Zahlen versagt diese Strategie bald.

Der Mangel an effektiven standardisierten Testverfahren mag ein Grund dafür sein, dass die Dyskalkulie von offizieller Seite nur zögerlich anerkannt wird. Immerhin erstatten die Jugendämter in Baden-Württemberg und Hessen seit 2000 die anfallenden Therapiekosten ganz oder zumindest anteilig.

Noch fehlen spezielle Förderprogramme an den Schulen, und auch die Forschung nimmt sich des Themas nur sporadisch an. So kritisierten die Freiburger Pädagogen Hans-Dieter Gerster und Rita Schultz 1998 in ihrem Forschungsbericht "Schwierigkeiten beim Erwerb mathematischer Konzepte im Anfangsunterricht", dass selbst erklärte Studien zur Dyskalkulie davon ausgingen, das Mathematiklernen sei ein "Erlernen von Regeln, wie mit Zahlen und Aufgaben umzugehen ist".

Die in Graz geborene Angelika Schlotmann-Wagener kam mit dem Thema schon während des Psychologie-Studiums in Berührung. An der Universität Heidelberg untersuchte Schlotmann-Wagener später den Ablauf logischen Denkens, insbesondere des Planens von Handlungen basierend auf einem situativen Lernansatz, fachlich situated cognition genannt. 1999 entschloss sie sich, diese verschiedenen Erfahrungsbereiche zusammenzubringen, und gründete das Rechen-Therapie-Zentrum. Mittlerweile wurden dort etwa 150 Kinder nach den Grundsätzen der situated cognition behandelt, meist mit Erfolg.

Einen Schwerpunkt der Arbeit bildet die Entwicklung geeigneter Therapiematerialien und die Konstruktion eines geeigneten Testverfahrens zur Erfassung der Rechenlogik. "Kannst Du dieses Blatt Papier mit der Schere gerecht zwischen uns aufteilen?" prüft beispielsweise, ob das Konzept der Teilung schon angelegt ist: Der Schritt über das Falten in zwei gleiche Hälften erscheint rechenschwachen Kindern nicht unbedingt selbstverständlich. Vergleiche von Strecken auf dem Zahlenstrahl geben Aufschluss über das Vermögen, Relationen zu erkennen (siehe Bild oben). Auch die mathematische Symbolsprache stellt oft eine Herausforderung für das rechenschwache Kind dar, besonders bei den Operatorzeichen oder beim Gleichheitszeichen. So legen die Psychologen des Zentrums den Kindern gern ein Blatt Papier vor mit der Formel "4 = 4" und fragen: "Ist das richtig oder falsch?" Dann kommt vielleicht die Antwort: "Ganz falsch, denn da kann man ja nichts rechnen." Ein solches Defizit wird dann gemäß dem situativen Ansatz spielerisch angegangen, beispielsweise mit einer Waage. Jeweils vier gleiche Objekte, beispielsweise Murmeln, auf beiden Seiten veranschaulichen die genannte Formel. Das Kind wird nun ermuntert zu formulieren, was es sieht. Der Therapeut hilft durch Feedback, die Äußerungen allmählich zu präzisieren und schließlich in die mathematische Sprache zu übersetzen. Es gibt kein Vormachen wie im herkömmlichen Frontalunterricht, nur Hilfen bei der Entwicklung eigener Lösungsstrategien.

"Es ist ganz wichtig, dass man den Bezug zur Alltagswirklichkeit immer aufzeigt", erläutert Schlotmann-Wagener. "Deshalb wählen wir Beispiele wie das Aufteilen einer Torte beim Kinder-geburtstag." Noch einen Schritt weiter geht das Projekt "Mathe-Live": Eine Gruppe von drei bis fünf Kindern möglichst gleichen Leistungsstandes unternimmt mathematische Exkursionen ins Leben. Da wird dann beispielsweise überlegt, wie die Höhe des Schriesheimer Burgturms zu messen sei, da müssen die Kinder im Café mit ihrem Geld haushalten.

Die Eltern sollten die Therapie unterstützen. Deshalb gehören auch Elterntrainings zum Programm. Nach Möglichkeit kooperieren die Psychologen auch mit den Lehrern ihrer Klienten, doch das Verständnis für die Dys-kalkulie ist dort teilweise noch dürftig entwickelt. "Die PISA-Studie wird einiges in Bewegung setzen", glaubt die Psychologin. "Selbst normal Begabte verstehen und merken Selbsterlerntes besser als etwas nur Vorgeführtes. Dazu muss man aber auch Raum lassen, ei-gene Ideen zu entwickeln. Der bis ins Detail ausgearbeitete Frontalunterricht nach Lehrplan kann das nur schwer integrieren."


Das Unternehmen im Profil


Das Rechen-Therapie-Zentrum in Schriesheim bei Heidelberg existiert seit 1999. Mittlerweile sechs Psychologinnen und Psychologen führen diagnostische Untersuchungen durch und behandeln rechenschwache Kinder mit fundierten und effektiven Methoden. Das Einzugsgebiet des privaten Instituts reicht über den Rhein-Neckar-Kreis bis nach Frankfurt. Seit der Gründung wurden etwa 150 Kinder behandelt. Der Erfolg des Projektes "Mathe-Live" veranlasste die Firmengründerin, ein weiteres Unternehmen, "non scholae ...", ins Leben zu rufen: Es soll lernmüden Schülern die Möglichkeit geben, Wissen sowie Fertigkeiten durch praxisorientiertes Erfahrungslernen zu vernetzen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 2002, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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