Fluidicon: Wissenschaft in Unternehmen: Flinke Flüssigkeiten
Substanzen, die unter elektrischer Spannung ihre Konsistenz ändern, kommen endlich auf den Markt.
Wer schon einmal selbst Wassereis gemacht hat, weiß, wie lange es dauert, bis die kühle Süßigkeit erstarrt ist. "Smart fluids" hingegen wechseln unter dem Einfluss von elektrischen Feldern in Sekundenbruchteilen zwischen fest und flüssig. Diesem so genannten elektrorheologischen Effekt (Rheologie: die Lehre vom Fließen) wird seit Jahrzehnten ein Boom vorausgesagt, denn er könnte hydraulische oder pneumatische Verfahren verdrängen. Bislang kamen diese Flüssigkeiten jedoch kaum über das Laborstadium hinaus.
Das soll sich nun ändern. Das vor zwei Jahren als Start-up aus der Darmstädter Schenk-Pegasus GmbH hervorgegangene Unternehmen Fluidicon hat eine Flüssigkeit entwickelt, die innerhalb einer Sekunde bis zu 1500-mal zwischen fest und flüssig wechselt – ein Rekord.
Dazu wird die Substanz durch einen Spalt zwischen zwei flachen Elektroden geleitet. Legt man eine Spannung an, werden winzige Polyurethanpartikel in der Flüssigkeit polarisiert. Sie verbinden sich zu langen Ketten, denn die Partikel tragen positive und negative Ladungen. Im Feld ordnen sie sich zwischen den Platten zu winzigen Säulen an, die Drücke elastisch abfedern oder Scherkräfte dämpfen, wenn sich die Platten gegeneinander verschieben. Selbst die Bewegung von Kolben lässt sich damit abbremsen.
Vom Fitnessgerätzur optimalen Bodenhaftung
Mit wachsender Spannung verwandelt sich die Flüssigkeit in eine Art Gel und wird schließlich völlig hart. Interessant ist das vor allem für hydraulische Anlagen, erklärt Oliver Köster, kaufmännischer Geschäftsführer bei Fluidicon. Bisher sind mechanische Ventile nötig, die den Fluss des Hydrauliköls verengen, um so Druck aufzubauen. Das hat Nachteile. Zum einen können sich selbst moderne Hochgeschwindigkeitsventile nur rund 400- bis 500-mal pro Sekunde schließen. Zum anderen verschleißt die Mechanik. Beim elektrorheologischen Verfahren hingegen dient die Flüssigkeit selbst als Ventil. Unter Spannung verstopft sie die Leitung wie ein Pfropf. Da auf Ventile und aufwendige Mechanik verzichtet wird, kann das rheologische System zudem kleiner dimensioniert werden.
Seit Mai ist ein erstes Produkt auf dem Markt. In Kooperation mit einem Fitnessgeräte-Hersteller hat Fluidicon laut Köster "effektivere und gesündere" Kraftmaschinen entwickelt. Bei den meisten Fitnessgeräten wirkt die Last nur in eine Richtung – der Sportler zieht an einem Gewicht oder stemmt sich dagegen. Bei der rheologischen Kraftmaschine kann sowohl bei der Auf- als auch bei der Abbewegung ein Widerstand aufgebaut werden. Eine Software passt die Flüssigkeit blitzschnell der Bewegungsrichtung an. Der Vorteil: "Ein Muskel hat ja auch immer einen Gegenspieler – der eine beugt, der andere streckt. An einem solchen Gerät lassen sie sich beide trainieren."
Gerade für wenig geübte Sportler ist es sehr wichtig, dass ihre Gelenke beim Training geschont werden, da die stützende Muskulatur noch nicht ausreichend entwickelt ist. Bei herkömmlichen Trainingsgeräten müssen Muskeln und Gelenke aber in der Endposition einer Bewegung das volle Gewicht halten. Die neuen Maschinen reduzieren den Widerstand an den Umkehrpunkten auf null. Vom Fitnessbereich abgesehen bietet das System auch der Krankengymnastik am Gerät in Reha-Einrichtungen Möglichkeiten.
Für gewöhnlich trainieren Sportler "isotonisch", das heißt, Gewicht und Kraft bleiben während der Bewegung von Bein oder Arm gleich, unabhängig davon, wie schnell die Masse bewegt wird. Eine rheologische Flüssigkeit hingegen ermöglicht auch, "isokinetisch" zu trainieren: Bei gleich bleibender Geschwindigkeit von Arm oder Bein nimmt der Widerstand der Flüssigkeit zu. Der Patient muss mehr und mehr Kraft aufwenden, um das Gewicht zu heben. Physiotherapeuten könnten daraus ein Leistungsprofil des Muskels ableiten und ermitteln, in welchem Bereich er nicht mit voller Kraft arbeitet, weil beispielsweise ein Muskelfaserriss nicht völlig abgeheilt ist.
Derzeit testet Köster mit einem Zulieferer der Automobilindustrie einen Stoßdämpfer-Prototypen. Der soll den Reifen stets optimal auf den Asphalt drücken, die Bodenhaftung erhöhen und damit gegebenenfalls den Bremsweg verkürzen. Bei einer Bodenwelle muss er weich einfedern, sich auf dem höchsten Punkt verhärten und hinter der Unebenheit den Reifen wieder zügig nach unten pressen. Ein derartiger Stoßdämpfer existiert bislang nicht. Versuche bestätigten, dass elektrorheologische Systeme schnell genug agieren, um den Stoßdämpfer in Sekundenbruchteilen sogar an kleine Unebenheiten anzupassen. Bis zur Serienreife werden allerdings voraussichtlich noch einige Jahre vergehen.
In einem anderen Projekt kooperiert die Darmstädter Firma mit einem Prothesenhersteller. Das Ziel ist die Entwicklung eines künstlichen Kniegelenks. Bislang haben Menschen mit Unterschenkelprothesen damit zu kämpfen, dass sowohl Schrittlänge als auch -geschwindigkeit stets gleich sind, egal ob sie eilen oder gemütlich schlendern wollen. Fachleute sprechen von getaktetem Gang. Das soll sich ändern. Dazu tüfteln die Entwickler an einem Dämpfungselement, das die Unterschenkelbewegung der Situation anpasst. Die Idee: Soll die Prothese beim eiligen Laufen schnell nach vorne schwingen, verflüssigt sich die Substanz im Regelventil, beim Stopp verhärtet sie sich und ermöglicht einen festen Stand.
Der lange Weg zum ersten Produkt
Bereits 1939 entdeckte der amerikanische Ingenieur Willis Winslow (1904-2000) den elektrorheologischen Effekt bei privaten Forschungen und beschrieb wenig später erste mögliche Anwendungen. Winslow stellte damals fest, dass sich die Viskosität einer Lösung aus Stärkemehl in Mineralöl unter dem Einfluss eines elektrischen Feldes ändert. Zwar war die Fachwelt begeistert und Chemie-Konzerne investierten in die Entwicklung, doch Produkte blieben aus. So wurde zunächst mit anorganischen Zeolith-Partikeln experimentiert, die aber zu starker Reibung und Korrosion an Leitungen und Dichtungen führten. Zudem setzten sie sich leicht ab und bildeten einen festen Bodenbelag, der rheologische Effekt war dahin. Als weit weniger abrasiv erwiesen sich verhältnismäßig weiche Polymerpartikel etwa aus Polyurethan. Dennoch scheuten Maschinenbaubetriebe die ungewohnten und noch nicht ganz ausgereiften Substanzen. Inzwischen haben Wissenschaftler die Flüssigkeiten weiterentwickelt. Zu den wichtigsten Experten in Europa zählen die Forscher vom Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC, mit denen Fluidicon in Kontakt steht. In den vergangenen Jahren ist es ihnen gelungen, die elektrorheologischen Flüssigkeiten so weit zu optimieren, dass sie in ersten Geräten eingesetzt werden können. Nach wie vor bedarf es einiger Mühe, das Zusammenballen und Absinken der Partikel zu verhindern. Zum anderen arbeiten die Wissenschaftler derzeit daran, Substanzen zu entwickeln, die über einen weiten Temperaturbereich stabil bleiben und gleichmäßig arbeiten.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 74
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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