Fiktion: Wundersame Welt
Ein seltsamer Ort, um Geschichten zu lauschen: kein gemütlicher Lehnsessel, kein Kamin, kein bärtiger Erzähler. Stattdessen stehen in dem fensterlosen Raum ein alter Bürostuhl und ein Plastiktisch mit Flachbildschirm; statt Bücherregalen bedeckt schallisolierender Schaumstoff die Wände. Doch ich wohne auch keiner Märchenstunde bei, sondern einem Experiment, das Forscher des Exzellenzclusters "Languages of Emotion" in Berlin durchführen.
Literatur- und Neurowissenschaftler der FU und der Humboldt-Universität erforschen hier gemeinsam, warum wundersame Erzählungen etwa über Geister, Untote oder sprechende Tiere seit jeher so erfolgreich sind. "In allen Kulturen und zu allen Zeiten haben sich Menschen von Wundern erzählt", sagt Rasha Abdel Rahman. Zusammen mit drei weiteren Forschern leitet sie das Projekt. "Obwohl solche Konzepte unserem Weltwissen widersprechen", so die Neurowissenschaftlerin, "besitzen sie einen Charme, der sie weiterleben lässt." Die große Frage lautet: Wie kommt das?
Aus den Lautsprechern im Labor erklingt eine sonore Männerstimme: "Die Mutter ist einkaufen gegangen, während das Mädchen im Garten spielt. Nun sitzt das Mädchen unter einem Baum ..." Die Testperson hat den Blick starr auf den Monitor gerichtet. Dort erscheint jetzt das Ende der Geschichte: "... Die dürre alte Birke redet mit dem Mädchen." Mehrere hundert solcher Miniaturerzählungen wird die Versuchsperson noch zu hören bekommen. Ein Drittel davon endet mit einem Wunder. Insgesamt verbringt jeder Proband etwa sechs Stunden in der schallisolierten Kammer.
Minimal kontraintuitive Konzepte (MCIs, von englisch: minimal counterintuitiveness) nennen Psychologen wie Abdel Rahman so wundersame Dinge wie den sprechenden Baum ...
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