Wahrnehmung: Magie entsteht im Kopf
Beginnen wir mit einem Experiment. Halten Sie die aufgeschlagene Zeitschrift oder Ihr Tablet mit ausgestrecktem Arm auf Augenhöhe und verdecken Sie mit dem Daumen einige Buchstaben des Artikels in der Mitte der Seite.
Nun starren Sie auf Ihren Fingernagel und versuchen Sie derweil, ein beliebiges Wort links oder rechts des Daumens zu entziffern – ohne die Augen auch nur einen Millimeter zu bewegen. Sie werden schnell merken: Das ist nicht möglich!
Denn wir sehen feine Details wie Buchstaben nur mit einem winzigen Teil der Netzhaut, der Fovea. Sie deckt lediglich 0,1 Prozent des Sehfelds ab. Mit dem Rest sind wir so gut wie blind, unser Gehirn lässt uns das bloß nicht wissen.
Drei- bis viermal pro Sekunde machen unsere Augen kleine Sprünge, so genannte Sakkaden, mit deren Hilfe die Fovea die Umgebung abtastet. Was uns als einheitliches, statisches Bild erscheint, haben unsere visuellen Schaltkreise im Gehirn in Wirklichkeit aus unzähligen Schnappschüssen zusammengesetzt.
An einem Punkt im Blickfeld nehmen wir sogar überhaupt nichts wahr, weshalb dieser Ort auch blinder Fleck genannt wird. Er liegt an der Stelle, wo der Sehnerv aus dem Auge austritt. Dort befinden sich keine Fotorezeptoren.
Unter normalen Bedingungen bemerken wir ihn nicht. Doch es gibt einen Trick, wie wir unseren blinden Fleck entdecken können: Strecken Sie beide Arme aus und bilden Sie mit Daumen und Zeigefinger jeder Hand ein L, während Sie mit den anderen Fingern eine Faust formen. Nun führen Sie die beiden Daumen zusammen, bis sich die Fingerkuppen berühren. Schließen Sie Ihr linkes Auge und schauen Sie auf den Nagel des linken Zeigefingers. Achten Sie nun, ohne den Blick abzuwenden, auf die Spitze des anderen Zeigefingers. Er wird unsichtbar! Es scheint, als sähen Sie durch den Finger hindurch, denn plötzlich kommt zum Vorschein, was sich dahinter befindet.
Was ist passiert? Ihr Gehirn hat den Ort des blinden Flecks – die rechte Zeigefingerspitze – mit Farben und Mustern aus der Umgebung aufgefüllt, damit keine visuelle Leere entsteht.
Permanent stellt unser Denkorgan Vermutungen darüber an, was wir während kurzer Wahrnehmungslücken verpasst haben könnten. Denn eines scheint es um jeden Preis vermeiden zu wollen: Augenblicke des Nichts; Bildstörungen oder Filmrisse sind unerwünscht ...
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