Zehn Jahre ERASMUS - Bilanz und Perspektiven
Trotz knapper finanzieller Ausstattung hat das Förderprogramm der Europäischen Union die Mobilität von Studierenden und Dozenten erhöht. Allerdings ist die Wahl der Zielländer und die Beteiligung der einzelnen Fachrichtungen sehr unausgewogen.
Mit dem Ratsbeschluß vom 15. Juni 1987 wurde der Grundstein für die Erfolgsgeschichte des Aktionsprogramms ERASMUS (European Action Scheme for the Mobility of University Students) der Europäischen Union gelegt. Nach Auffassung der EU-Kommission sollte es die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Hochschulen sowie den Austausch von Studierenden und Hochschullehrern in den Teilnehmerländern intensivieren und auf diese Weise einen wichtigen Beitrag "zur Konkurrenzfähigkeit Europas im internationalen Wettwerb von Wissenschaft und Wirtschaft" leisten. Erstmals konnten sich die Hochschulen der zwölf EG-Mitgliedsländer im akademischen Jahr 1987/88 am ERASMUS-Programm beteiligen, dessen Namen zu Recht an den wandernden Scholaren Erasmus von Rotterdam (1466 bis 1536) erinnert. Nach nun zehnjähriger Laufzeit läßt sich eine erste umfassendere Bilanz dieses Programms ziehen, das seit 1995 in das Bildungsprogramm SOKRATES der Europäischen Union integriert ist.
Motor für den Studentenaustausch
Die EU stellte in den Jahren 1987/88 bis 1997/98 rund 820 Millionen ECU (etwa 1,6 Milliarden Mark) für die Zusammenarbeit der Hochschulen in ERASMUS bereit. Nahezu zwei Drittel davon (536 Millionen ECU) entfielen auf Mobilitätszuschüsse für die Studierenden. Rechnet man die Mittel hinzu, die den Hochschulen für die Organisation des zeitweiligen Studienortwechsels zur Verfügung gestellt werden, dann erhöht sich die Bedeutung dieses Programmteils noch. So wurden 1997/98 rund 80 Prozent des ERASMUS-Budgets für den Studentenaustausch und dessen Organisation aufgewendet. Mit den Mitteln konnten seit 1987 europaweit ungefähr 500000 Studierende einen Mobilitätszuschuß erhalten und damit einen Teil ihres Studiums (im Durchschnitt sieben Monate) in anderen Mitgliedsländern absolvieren. Mit 95000 deutschen Teilnehmern hat die Bundesrepublik vor Großbritannien und Frankreich die meisten dieser Zuschüsse erhalten (insgesamt 197 Millionen Mark).
In der Rückschau liegt gerade in der starken Intensivierung der grenzüberschreitenden Mobilität mit einem relativ geringen finanziellen Aufwand – die monatliche Förderung beträgt für deutsche Studenten zur Zeit im Mittel 280 Mark – eine wichtige Leistung von ERASMUS. Die für die siebziger Jahre beschworene Auslandsmüdigkeit der Studierenden konnte nicht zuletzt aufgrund der EU-Initiative überwunden werden. Allerdings ist das politisch gesteckte Ziel der EU-Kommission, die Studentenmobilität in Europa von weniger als vier auf zehn Prozent zu steigern, europaweit noch nicht erreicht. Ein wichtiger Grund dafür dürfte darin liegen, daß nicht zuletzt wegen der individuell geringen Mobilitätszuschüsse nur etwa die Hälfte der knapp eine Million Studierenden, die zwischen 1987/88 und 1997/98 einen Teil ihres Studiums mit Hilfe von ERASMUS im europäischen Ausland absolvieren wollten, ihr Vorhaben tatsächlich realisiert haben. Daß trotz der bescheidenen monatlichen Zuschüsse im Taschengeldformat die Beteiligung an diesem EU-Programm so groß ist, liegt auch an der gebotenen Befreiung von Studiengebühren, an der höheren Wahrscheinlichkeit der Anerkennung von im Ausland erbrachten Studienleistungen (insbesondere wenn das European Credit Transfer System ECTS als Leistungspunktsystem verwendet wird) und an dem immer stärker von Arbeitgebern gewünschten Nachweis eines Qualifikationsprofils mit internationalem Zuschnitt.
Obwohl das Potential von ERASMUS für das Auslandsstudium noch lange nicht ausgeschöpft ist, hat das EU-Programm jetzt schon die Förderlandschaften in Europa verändert. Das gilt in besonderem Maße auch für Deutschland. ERASMUS hat sich hier in den zehn Jahren seines Bestehens zum mächtigsten Förderinstrument für das Studium im Europäischen Wirtschaftsraum entwickelt, wie Statistiken des Deutschen Akademischen Austauschdienstes – der nationalen Agentur für dieses Aktionsprogramm – belegen: 1997 erhielten rund 90 Prozent der dort geführten Studenten einen EU-Zuschuß. ERASMUS wurde in Deutschland stets als komplementäre und nicht als konkurrierende Ergänzung der nationalen Förderangebote gesehen und hat nach Beobachtungen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes das Interesse an einem Studium oder Praktikum im Ausland generell erhöht und zu einer stärkeren Nachfrage nach Aufenthalten auch außerhalb Europas geführt.
Die Hauptzielländer der ERASMUS- Studierenden sind in Europa Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Rund 60 Prozent der Geförderten studierten in diesem sogenannten Goldenen Dreieck. In den letzten Jahren holte Spanien als Gastland auf und nähert sich in der Beliebtheit immer stärker dem drittplazierten Deutschland an. Die von der EU angestrebte stärkere Diversifizierung der Zielländer wurde bisher nicht erreicht. Die überwiegende Mehrheit der Gastländer nehmen weniger als zehn Prozent der ERASMUS-Geförderten auf. Vor allem die Staaten mit den weniger gesprochenen Sprachen wie etwa Dänemark, Portugal und Griechenland werden deutlich schwächer nachgefragt. Es bleibt zu hoffen, daß die 1996/97 von Brüssel gestartete Initiative zur Förderung von sprachlichen Intensivkursen für die Vorbereitung eines ERASMUS-Aufenthaltes das Studium in den bisher unterrepräsentierten Zielländern künftig attraktiver werden läßt.
Nicht verwirklicht ist bisher auch die Absicht, eine stärkere Beteiligung möglichst vieler Fachrichtungen zu sichern. Im Laufe der zehn Jahre von ERASMUS waren europaweit stets die Wirtschaftswissenschaften, die Philologie, die Sozialwissenschaften und – was weniger erwartet wurde – die Ingenieurwissenschaften die am häufigsten vertretenen Disziplinen. In Deutschland liegen die Ingenieurwissenschaften sogar hinter den Wirtschaftswissenschaften und den Sprachen auf Platz drei vor den Rechtswissenschaften. Schwach beteiligt sind in ganz Europa noch immer die Naturwissenschaften und die Medizin.
Die Europäische Dimension
Von Programmbeginn an unterstützte die EU-Kommission den Auf- und Ausbau der sogenannten Europäischen Dimension in den Hochschulen. Europa sollte nicht nur für diejenigen, die einen Teil ihres Studiums im Ausland absolvierten, erfahrbar sein, sondern auch den restlichen 94 Prozent der Studierenden nahe gebracht werden, die aus verschiedenen Gründen ihr Heimatland nicht verließen. Insbesondere die Förderung von Gastdozenturen und europäischen Lehrplanentwicklungen schienen dabei das Mittel der Wahl zu sein. Ein größeres politisches Gewicht erhielt dieser Ansatz durch den Beschluß des Ministerrats vom 14. März 1995, durch den ERASMUS in das neue EU-Bildungsprogramm SOKRATES überführt wurde.
Es zeigte sich allerdings rasch, daß die tatsächliche Förderpolitik dem politischen Anspruch nicht gerecht wird. Mit den rund 25 Millionen ECU, die für den Hochschulbereich dafür jährlich zur Verfügung stehen, ist die angestrebte Europäisierung der Studieninhalte und Lehrangebote nur punktuell zu erreichen. Die Hochschulen hatten sich für diesen Bereich insbesondere im Rahmen des seit 1997/98 neu eingeführten institutionellen Ansatzes – jede Hochschule stellt für all ihre SOKRATES/ERASMUS-Aktivitäten nur noch einen einzigen Antrag – entschieden mehr versprochen. Mit dem vorhandenen Budget konnten jedoch für das laufende akademische Jahr europaweit nur rund zehn Prozent der beantragten Mittel in Höhe von 250 Millionen ECU zur Stärkung der Europäischen Dimension bewilligt werden. Besonders unterfinanziert – mit lediglich 500 Mark pro Gastaufenthalt – ist der Dozentenaustausch, von dem man sich für die Europäisierung der Lehre viel versprochen hatte und der sehr stark nachgefragt wurde. Verständlicherweise hat sich deshalb bei zahlreichen Hochschulen und Hochschullehrern Ernüchterung und Enttäuschung breit gemacht, zumal gleichzeitig der Verwaltungsaufwand für das Programm gestiegen ist. Die meisten Hochschulen führen jedoch die bewilligten Maßnahmen dennoch durch – meist in kleinerem Umfang und unter Einsatz von nationalen Komplementärmitteln.
ERASMUS in Deutschland
Für die deutschen Hochschulen hat das ERASMUS-Programm neben dem intensivierten Austausch von Studierenden und Dozenten eine Reihe weiterer positiver Entwicklungen bewirkt. So beteiligen sich zunehmend mehr Hochschulen an Lehrplanentwicklungen mit ausländischen Partnern. Das Angebot an europäischen Studiengängen (zum Teil mit Doppeldiplom) hat in Deutschland seit 1987 deutlich zugenommen. Letztlich hat ERASMUS sozusagen einen Internationalisierungsschub besonders für die deutschen Hochschulen zur Folge gehabt; während sich 1987 nur 83 beteiligten, waren es im akademischen Jahr 1997/98 bereits 230 (an denen über 95 Prozent der deutschen Studierenden immatrikuliert sind). Davon machen Fachhochschulen zur Zeit etwa die Hälfte aus, was besonders erfreulich ist.
Mit der Einführung des Hochschulantrags 1997/98 und der dabei obligatorischen "Erklärung zur Europäischen Bildungspolitik", in der die Hochschulen darstellen, wie sie ihre Kooperationsmaßnahmen entwickeln und ausbauen wollen, hat ERASMUS die Frage der Internationalisierung stärker als bisher zu einem institutionellen Thema gemacht. Dabei wird in Europa und gerade auch in Deutschland die Internationalisierung zunehmend als bedeutsamer Faktor des Wettbewerbs zwischen den Hochschulen betrachtet. Für viele davon ist die Beteiligung an ERASMUS inzwischen ein wichtiger Indikator für ihre Wettbewerbsfähigkeit.
Beeinflußt hat ERASMUS in Deutschland auch Aspekte der bildungspolitischen Diskussion um eine Studienreform. An der europaweiten Einführung des ECTS-Leistungspunktsystems im Rahmen von ERASMUS beteiligen sich zahlreiche deutsche Hochschulen. Die Akzeptanz an der Basis und die überzeugenden Erfolge mit Blick auf die akademische Anerkennung von im Ausland erbrachten Studienleistungen haben nicht zuletzt dazu geführt, das ECTS-Modell als Vorbild für das in der Novelle des Hochschulrahmengesetzes vorgesehene Leistungspunktsystem zu nehmen.
Perspektiven
Kurzfristig werden sich bestimmte Rahmenbedingungen von ERASMUS ändern. Mit der Aufnahme der assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas sowie von Zypern erhöht sich bis zum Ende der Programmlaufzeit 1999 die Zahl der teilnehmenden Länder von jetzt 18 auf voraussichtlich 29. Dies eröffnet zum einen neue Möglichkeiten der europäischen Hochschulzusammenarbeit, wirft aber zum anderen neue finanzielle, administrative und interkulturelle Fragen an das Programm auf. Die Antworten sind auch mittelfristig für die Neuordnung der EU-Bildungsprogramme ab dem Jahr 2000 von Bedeutung. Nur wenn es gelingt, ausreichend Mittel bereitzustellen, den Verwaltungsaufwand entscheidend zu reduzieren und letztlich das Engagement der Hochschulen zu sichern, wird ERASMUS oder ein entsprechendes Nachfolgeprogramm auch zu Beginn des nächsten Jahrhunderts ein Schwungrad der Internationalisierung für die Hochschulen Europas sein können. Die Anfang 1998 beschlossene Erhöhung des SOKRATES-Budgets um 140 Millionen Mark für die letzten beiden Jahre des Programms ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Um die erforderliche Verwaltungsvereinfachung zu erreichen, setzt sich die deutsche Seite in der Debatte um die Neugestaltung der EU-Bildungsprogramme für transparentere Antrags-, Bewilligungs- und Abrechnungsverfahren sowie vor allem für eine stärkere Dezentralisierung der Programmdurchführung ein.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1998, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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