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Sozialforschung: Zeitenwende

Mit dem Wertewandel, der Ende der 1960er Jahre abrupt einsetzte und die Bundesrepublik erschütterte, scheint es nun vorbei zu sein.


Rund dreißig Jahre ist es her, dass sich in vielen westlichen Ländern – ganz besonders aber in Westdeutschland – ein tiefgreifender Wertewandel vollzog. Der damals neu eingezogene Zeitgeist sollte die nachfolgenden Jahrzehnte bestimmen – ziemlich genau die Spanne einer Generation.

Dieser Wertewandel wurde zufällig 1967 bei einer Befragung durch unser Institut entdeckt: Was sollen Kinder im Elternhaus lernen? Auf der Liste möglicher Erziehungsziele standen unter anderem Höflichkeit und gutes Benehmen, Sauberkeit, Sparsamkeit, die Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun .

Eine Wiederholung der Befragung fünf Jahre später zeigte das, was der Speyerer Sozialwissenschaftler Helmut Klages später den "Wertwandlungsschub" genannt hat: Was 250 Jahre lang als bürgerliche Tugenden galt, hatte binnen weniger Jahre viel an Bedeutung verloren. Diese Veränderung zog sich durch alle sozialen Schichten und stets am radikalsten bei denen, die jünger waren als dreißig Jahre. Noch 1967 meinten immerhin 81 Prozent der Unter-Dreißigjährigen, Kinder sollten im Elternhaus Höflichkeit und gutes Benehmen lernen; 1972 waren es nur noch 50 Prozent. Im gleichen Zeitraum sank die Zustimmung zum Erziehungsziel "die Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun" von 71 auf 52 Prozent.

Auch andere Befragungen zeigten: Die Bevölkerung hatte ihre Einstellung zu einer Vielzahl von Themen radikal geändert, unter anderem in der Politik, im Verhältnis zur Kirche und in den Normen, ganz besonders in den Sexualnormen. Das bedeutete weit mehr als die Ablösung überkommener Erziehungsziele: Zum ersten Mal wurden Regeln der Lebensführung in Frage gestellt, die seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts unangefochten schienen.

Dieser Wertewandel war in einer Vielzahl westlicher Länder zu beobachten, doch nirgendwo stärker als in Westdeutschland. In der Folge entstand eine tiefe Kluft zwischen den Generationen.

Wie stark sich Eltern und Kinder voneinander entfernten, zeigten deutlich die Ergebnisse einer Allensbacher Testfrage, die seit Anfang der 1980er Jahre international gestellt wurde: "In welchen dieser fünf Werte stimmen Sie mit Ihren Eltern überein?" Zur Auswahl stehen Einstellungen zur Religion, Politik, Moral, zum Umgang mit anderen Menschen und zur Sexualität. Als diese Frage erstmals 1981 in Deutschland gestellt wurde, erklärten 23 Prozent der Unter-Dreißigjährigen, sie stimmten in keinem der genannten Bereiche mit ihren Eltern überein. In den darauf folgenden Jahren stieg ihr Anteil sogar auf bis zu 35 Prozent. In den USA hingegen gaben weniger als 10 Prozent diese Antwort.

Der Wandel lässt sich kaum verstehen, ohne die Rolle des Philosophen und Soziologen Theodor Adorno zu würdigen. Er propagierte, die Weitergabe von Wertvorstellungen an die Kinder zu unterbrechen, um so eine Wiederholung der Greuel der nationalsozialistischen Zeit zu verhindern. Denn die Wurzeln des Dritten Reichs sah er im autoritären Erziehungsstil deutscher Prägung, der Kinder zu willenlosem Gehorsam zwinge. Adorno verankerte seine Überzeugungen in der so genannten Frankfurter Schule, einem gesellschaftskritischen Kreis von Sozial- und Kulturwissenschaftlern, und über deren Geist inspirierte er die 68er-Studentengeneration in erheblichem Maße.

So gelang es tatsächlich, viele Eltern davon zu überzeugen, dass sie ihre Kinder in wichtigen Fragen der Lebensorientierung nicht beeinflussen dürften. Das zeigte eine Allensbacher Umfrage von 1986. Zwar wollten zwei Drittel der Befragten ihren Nachkommen beibringen, ihre Sachen in Ordnung zu halten; ganz oben auf der Prioritätenliste standen auch der Umgang mit anderen Menschen, Tischmanieren und der Umgang mit Geld. Am wenigsten aber wollten die Eltern auf grundsätzliche Wertorientierungen Einfluss nehmen – darunter die Einstellung zur Religion (33 Prozent), welche Vorbilder man sich sucht (23 Prozent) und politische Ansichten (19 Prozent).

In der zweiten Hälfte der 1970er und in den 1980er Jahren verlor der Wertewandel zwar an Fahrt, doch die Entwicklung ging weiter. Das deutlichste Indiz: Die Generationskluft vergrößerte sich. Der Anteil derer, die auf die Frage "In welchen Punkten stimmen Sie mit Ihren Eltern überein?" antworteten: "In keinem Punkt", stieg bei den Unter-Dreißigjährigen im Laufe der 1980er Jahre auf rund 30 Prozent und verharrte auf diesem Niveau bis zum Ende der 1990er Jahre.

Gleichheit contra Freiheit

In den neuen deutschen Bundesländern stellte sich die Situation nach der Wiedervereinigung zunächst anders dar: Erste Umfragen unseres Institutes im Frühjahr 1990 zeigten, dass die Einstellungen zur Familie, zur Arbeit und zur Kindererziehung denen der westdeutschen Bevölkerung in den 1950er Jahren ähnelte. Einzige Ausnahme: Die Gleichheit genoss in den neuen Bundesländern einen höheren Stellenwert als die Freiheit des Einzelnen. Eine Generationskluft war zudem nicht erkennbar. Doch in den darauf folgenden Jahren wurden offenbar Werte ausgetauscht. Während in den alten Bundesländern die Ansicht an Boden gewann, im Zweifel sei doch die Gleichheit der Freiheit vorzuziehen, holte die Bevölkerung der neuen Bundesländer in wenigen Jahren den Wertewandel des Westens nach.

Zum Beispiel nahm dort die Zahl der Menschen mit einer hedonistischen Lebenseinstellung rasch zu. Das demonstrierte eine Gegenüberstellung zweier Lebensmodelle: "Ich möchte in meinem Leben etwas leisten, auch wenn das oft schwer und mühsam ist" gegen "Ich möchte mein Leben genießen und mich nicht mehr abmühen als nötig". In der Zeit von 1990 bis 1996 wuchs die Zustimmung zur zweiten Aussage in Ostdeutschland von 21 auf 48 Prozent. Schließlich tat sich auch dort eine – allerdings schwächere – Generationskluft auf. Die Zahl derer, die sagten, sie hätten nichts mit ihren Eltern gemeinsam, wuchs von 10 Prozent im Jahr 1990 auf rund 15 Prozent ab 1995.

Nun erst, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, schien der Wertewandel seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Zuerst zeigte sich der Trendwechsel an der Testfrage, zu welchen Tugenden man seine Kinder erziehen sollte. Die traditionellen Werte der Höflichkeit, der Arbeitsethik und der Sparsamkeit legten erstmals wieder zu. Selbst der Anteil derjenigen, die Kindern beibringen wollten, sich in eine Ordnung einzufügen, nahm wieder etwas zu.

Besonders auffällig an dieser neuen Entwicklung ist, wie sich die Einstellung zur Arbeit veränderte. In den 1960er Jahren erklärte die Mehrheit der berufstätigen Bevölkerung, die Stunden bei der Arbeit und in der Freizeit gleichermaßen zu mögen. Dann, mit dem Wertewandel, stieg scheinbar unaufhörlich die Zahl derjenigen, die antworteten: "Mir sind die Stunden lieber, in denen ich nicht arbeite." Der Höhepunkt dieser Entwicklung war 1994 erreicht, seitdem verläuft sie in Gegenrichtung. Im Jahr 2000 bekundeten erstmals wieder mehr Befragte, die Freizeit nicht zu bevorzugen.

Der deutlichste Hinweis auf ein Ende des dreißig Jahre dauernden Wertewandels ist das Zusammenbrechen der Generationskluft Ende der 1990er Jahre in Westdeutschland. Denn nur solange die nachwachsende Generation andere Ansichten in Wertefragen vertritt als die Elterngeneration, wird sich das Wertesystem der Gesellschaft verändern, da die Jungen ihre Ansichten allmählich durchsetzen. Wenn sich ihre Ansichten von denen der Älteren kaum noch unterscheiden, stabilisiert sich das System.

Binnen eines Jahres, von 1997 auf 1998, stürzte nun der Anteil der Unter-Dreißigjährigen, die sagten, in keinem der Bereiche Moralvorstellungen, Einstellung zu anderen Menschen, Einstellung zur Religion, zur Sexualität, Einstellungen in der Politik mit ihren Eltern übereinzustimmen, von 31 auf 18 Prozent. Seitdem ist er auf diesem Niveau geblieben, das im internationalen Vergleich immer noch hoch ist. Aber die deutsche Sondersituation, die extrem starke Generationskluft der 1980er und frühen 1990er Jahre, existiert nicht mehr.

Worin besteht der Sinn des Lebens?

Derselbe Trend ist auch bei anderen Fragen zu beobachten, etwa bei der Frage nach den Erziehungszielen. In den Ansichten, man solle die Kinder zu Höflichkeit und gutem Benehmen erziehen, und man solle ihnen beibringen, ihre Arbeit gründlich und ordentlich zu tun, unterscheiden sich die Unter-Dreißigjährigen und die älteren Deutschen so wenig, wie seit den 1960er Jahren nicht mehr.

Diese Renaissance traditioneller Werte bedeutet allerdings nicht, dass der gesamte Wertewandel nun umgekehrt wird. Der neue Zeitgeist knüpft an manche zwischenzeitlich vernachlässigte Tradition an; er ist aber keine Rückkehr in die 1950er Jahre. Manche Trends des Wertewandels setzen sich bisher ungebrochen fort, beispielsweise der Trend, mehr und mehr Gewicht darauf zu legen, dass die Kinder zur Durchsetzungsfähigkeit erzogen werden. Hier zeigt sich eine gewisse Härte, die gut zu der Tendenz passt, der Arbeit wieder mehr Bedeutung zuzumessen.

Ungebrochen ist auch der Trend zum Lebensgenuss. Noch immer sagt eine deutliche Mehrheit der westdeutschen Unter-Dreißigjährigen, die Hauptsache sei, das Leben zu genießen. Auf die Frage "Worin sehen Sie vor allem den Sinn des Lebens?" antworten nach wie vor fast zwei Drittel der Bevölkerung: "Dass ich glücklich bin und viel Freude habe." An zweiter Stelle folgt auch hier die Antwort: "Der Sinn des Lebens besteht darin, das Leben zu genießen."

Diese Ergebnisse zeigen, dass eine positive Einstellung zur Arbeit und zum Lebensgenuss keine Widersprüche sein müssen. Die kommenden Jahrzehnte könnten durch die Kombination beider – nur scheinbar gegensätzlicher – Werte geprägt sein. Die demonstrative Ablehnung von Leistung scheinen die meisten nicht mehr für nötig zu halten. Es ist, als habe sich eine Verkrampfung gelöst: Neue Werte bestehen neben den alten, Arbeit und Freude sind keine Widersprüche mehr. Liegt hier die Ursache für das Aufkommen des Begriffs "Spaßgesellschaft" in den 1990er Jahren?

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 94
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