Proteinsynthese: Zellen schludern - zum Wohl des Organismus
Manchmal geht auch in der Zelle offenbar Masse vor Klasse. Wie sich nun zeigte, ist rund ein Drittel der frisch hergestellten Proteine mangelhaft. Doch die Zelle macht aus der Stümperei eine Tugend und nutzt den Ausschuss zur Abwehr gegen Viren.
Keine Produktion ohne Ausschuss – das gilt auch für die Biosynthese der Proteine in der Zelle. Schließlich ist sie ein höchst komplexer Vorgang. Als Erstes werden von dem Gen, das die Abfolge der Proteinbausteine (Aminosäuren) in Form eines DNA-Textes verzeichnet, Blaupausen angefertigt: so genannte Boten-RNA-Moleküle. Bei diesem Kopiervorgang – der Transkription – können bereits Fehler auftreten. Außerdem enthalten Gene höherer Lebewesen – und damit auch ihre Blaupausen – in der Regel unsinnige Passagen. Diese müssen beim so genannten Spleißen der Boten-RNA entfernt werden – eine weitere Fehlerquelle. Danach wandern die zurechtgestutzten Blaupausen zu den Proteinfabriken: den Ribosomen. Dort wird ihr RNA-Text Buchstabe für Buchstabe in ein Protein übersetzt. Auch dabei kommt es gelegentlich zu Verwechslungen. Und schließlich muss sich die frisch gebildete Aminosäurekette zu einem funktionsfähigen Eiweißstoff "falten", was ihr nicht immer gelingt.
Angesichts dieses langen und komplizierten Produktionsprozesses ist es kein Wunder, dass etliche der frisch synthetisierten Proteine Mängel aufweisen. Allerdings überrascht der Anteil dieses Ausschusses denn doch. Wie meine Mitarbeiter und ich am Hamburger Heinrich-Pette-Institut in Zusammenarbeit mit dem Labor von Jon Yewdell und Jack Bennink am amerikanischen Nationalinstitut für Allergie und Infektionskrankheiten (NIAID) kürzlich feststellten, sind bis zu dreißig Prozent dieser neu synthetisierten Proteinprodukte mangelhaft.
Sinnlose Energieverschwendung?
Wie kann sich die Zelle eine derart hohe Fehlerquote leisten? Zwar gewinnt sie die Aminosäure-Bausteine der defekten Proteine per Recycling zurück; dennoch geht eine Menge Energie verloren – und zwar völligsinnlos, wie es scheint.
Doch dieser Schein trügt. Alle natürlichen Prozesse sind von der Evolution auf höchste Effizienz getrimmt. Und das gilt auch hier. Wie wir feststellten, erfüllt die eine Produktion ohne Ausschuss – das gilt auch für die Biosynthese der Proteine in der Zelle. Schließlich ist sie ein höchst komplexer Vorgang. Als Erstes werden von dem Gen, das die Abfolge der Proteinbausteine (Aminosäuren) in Form eines DNA-Textes verzeichnet, Blaupausen angefertigt: so genannte Boten-RNA-Moleküle. Bei diesem Kopiervorgang – der Transkription – können bereits Fehler auftreten. Außerdem enthalten Gene höherer Lebewesen – und damit auch ihre Blaupausen – in der Regel unsinnige Passagen. Diese müssen beim so genannten Spleißen der Boten-RNA entfernt werden – eine weitere Fehlerquelle. Danach wandern die zurechtgestutzten Blaupausen zu den Proteinfa-briken: den Ribosomen. Dort wird ihr RNA-Text Buchstabe für Buchstabe in ein Protein übersetzt. Auch dabei kommt es gelegentlich zu Verwechslungen. Und schließlich muss sich die frisch gebildete Aminosäurekette zu einem funktionsfähigen Eiweißstoff "falten", was ihr nicht immer gelingt.
Angesichts dieses langen und komplizierten Produktionsprozesses ist es kein Wunder, dass etliche der frisch synthetisierten Proteine Mängel aufweisen. Allerdings überrascht der Anteil dieses Ausschussware eine nicht nur sinnvolle, sondern sogar lebenswichtige Aufgabe: Sie hilft dem Immunsystem, schneller auf Eindringlinge zu reagieren. Um das zu verstehen, müssen wir den Weg der defekten ribosomalen Produkte (DRiPs), wie die mangelhaften Produkte fachsprachlich heißen, genauer verfolgen.
Nachdem die Zelle im Rahmen einer strengen Qualitätskontrolle – von der noch nicht klar ist, wie sie funktioniert – die fehlerhaften Eiweißstoffe erkannt hat, kennzeichnet sie diese als Ausschuss. Das geschieht durch Anheften von bäumchenartigen Aggregaten des kleinen Proteins Ubiquitin. Daraufhin greift sich ein Proteasom – die Häckselmaschine der Zelle – die markierten DRiPs und zerhackt sie in kurze Ketten aus nur wenigen Aminosäuren. Diese Peptide können weiter abgebaut werden und stehen dann als neues Ausgangsmaterial für die Pro-teinsynthese zur Verfügung.
Ein Teil des Schredder-Mülls findet jedoch eine andere, weitaus wichtigere Verwendung. Bestimmte Moleküle namens MHC-I packen die Peptidstücke, wandern mit ihnen zur Zellmembran und präsentieren sie auf der Außenseite. Dadurch gibt jede Zelle unablässig bekannt, welche Proteine gerade in ihrem Inneren hergestellt werden.
Wurde sie nun von einem Virus befallen, zerstückeln die Proteasomen auch Proteine des Eindringlings. Und die erscheinen dann gleichfalls auf der Außen membran. Dort aber werden sie von den Wachhunden des Immunsystems, den so genannten cytotoxischen T-Lymphocyten, erkannt. Diese veranlassen daraufhin die Zerstörung der infizierten Zelle.
Bisher war es ein Rätsel, wie Zellen es schaffen, schon kurz nach einer Infektion Bestandteile der Virusproteine an ihrer Oberfläche zu präsentieren. Zwar war der prinzipielle Mechanismus dieser Präsentation bekannt. Allerdings täuschte man sich über die Herkunft des Materials: Nach herkömmlicher Meinung sollte es sich um alte, verschlissene Proteine handeln, die ausrangiert und aus dem Verkehr gezogen worden waren. Da beim Kopieren der DNA während der Zellteilung so gut wie keine Fehler auftreten, schien es selbstverständlich, dass die Zelle bei der Proteinsynthese ebenso sorgfältig arbeitet.
Schnelligkeit ist Trumpf
Doch die Anforderungen an beide Prozesse sind offenbar ganz verschieden. Bei der Replikation vor der Zellteilung kommt es entscheidend auf Genauigkeit an, damit keine Mutationen auftreten, die in der Regel schädlich sind. Bei der Produktion der Proteine scheint dagegen Schnelligkeit Trumpf zu sein – ohne Rücksicht auf Qualität. Dabei macht die Zelle aus der Stümperei eine Tugend und nutzt den Ausschuss zum Beispiel dafür, schnellstmöglich eine Virus-Infektion nach außen zu signalisieren.
Wie konnten wir dies nachweisen? Bei unseren Experimenten fütterten wir zunächst Zellen mit einer radioaktiv markierten Aminosäure, sodass neu gebildete Proteine radioaktiv strahlten. Dann schalteten wir bei einem Teil von ihnen mit spezifischen Proteasom-Inhibitoren die Häckselmaschinen aus und verglichen nach einiger Zeit ihre Radioaktivität mit derjenigen der Kontrollzellen. Wie sich zeigte, war sie wesentlich höher. Demnach enthielten die Zellen mit ausgeschalteter Häckselmaschine viel mehr neu produzierte Proteine als die anderen.
Der Grund ließ sich leicht vermuten: Offenbar wurde in den intakten Zellen ein Teil der neuen Proteine schon während der Synthese oder zumindest direkt da-nach von Proteasomen zerstückelt, in den behandelten Zellen dagegen nicht. Wenn es sich bei den überschüssigen Proteinen um Ausschussware handelte, mussten sie das Fehleretikett tragen: die Bäumchen aus Ubiquitin. Zum Nachweis wurden Zellen nach Markierung mit radioaktiven Aminosäuren aufgeschlossen und mit Antikörper behandelt, die sich spezifisch an Ubiquitin heften. So konnten wir diejenigen Proteine herausfischen, die als fehlerhaft erkannt und für den Abbau markiert waren. Tatsächlich fanden wir bei lahm gelegten Proteasomen etwa 4,5-mal so viele DRiPs mit Ubiquitin-Bäumchen wie in intakten Zellen.
Als Nächstes führten wir den Nachweis, dass auch neu synthetisierte Proteine von eingedrungenen Viren in die Mühlen der Abbaumaschinerie geraten. Dazu infizierten wir Zellen mit dem Aids-Erreger HIV und fütterten sie dann mit radioaktiven Aminosäuren. Unter Verwendung von Antikörpern, die sich spezifisch an das so genannte Gag-Protein der Eiweißkapsel (des Capsids) von HIV heften, konnten wir wie erwartet zeigen, dass mit Ubiquitin markierte Gag-DRiPs sich in Zellen häuften, deren Proteasomen durch Inhibitoren abgeschaltet worden waren.
Ansatz zur Aids-Bekämpfung
Zugleich machten wir eine weitere hochinteressante Entdeckung mit möglicherweise großer praktischer Bedeutung: Virusinfizierte Zellen, die wir mit Proteasom-Inhibitoren behandelt hatten, setzten deutlich weniger Viren frei als unbehandelte Kontrollzellen. Wie die genauere Untersuchung ergab, stört das Ausschalten der Häckselmaschine die korrekte Bildung der Gag-Proteine. Außerdem zeigte sich, dass die Viren, die freigesetzt wurden, zum Großteil unfertig und daher nicht infektiös waren.
Wie die Proteasom-Inhibitoren den Zusammenbau der Viren behindern, konnten wir noch nicht definitiv ergründen. Wir vermuten jedoch, dass die meisten der sich ansammelnden Ausschuss-Produkte trotz ihrer Mängel fähig sind, sich mit korrekten Virusproteinen zu verbinden. So entsteht aus einer Mischung von normalen und defekten Bausteinen ein fehlerhaftes Viruspartikel (Bild).
Das Schöne dabei ist, dass die Viren im Prinzip keine Möglichkeit haben, Resistenzen gegen Medikamente auf Basis von Proteasom-Inhibitoren zu entwickeln. Denn sie können die Proteasomen der Wirtszelle nur benutzen, nicht aber ihre Funktion beeinflussen. Problematisch an Proteasom-Inhibitoren ist allerdings, dass sie auch wichtige Prozesse in der Wirtszelle beeinträchtigen und damit für sie schädlich sind – was eventuell zu unerwünschten Nebenwirkungen führt.
Inzwischen konnten wir bereits den Vermehrungszyklus der Aids-Viren HIV-1, HIV-2 und des Affenimmundefizienzvirus (SIV) durch Proteasom-Inhibitoren beeinträchtigen. Hier eröffnet sich also ein aussichtsreicher neuer Weg zur Bekämpfung solcher Stämme von HIV und anderen Viren, die gegen gängige antivirale Medikamente bereits Resistenzen entwickelt haben.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 20
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