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Zukunftstherapien bei Rückenmarksverletzung

Weltweit arbeiten Forscher daran, das Schicksal Rückenmarksverletzter abzuwenden, lebenslang querschnittgelähmt zu bleiben. Eine teilweise Reparatur des Rückenmarks erscheint heute nicht mehr unmöglich. Noch früher könnten Maßnahmen verfügbar sein, welche die selbstzerstörerischen Prozesse im geschädigten Gewebe eindämmen.


Wolfgang Schäuble, seit dem Attentat am 12. Oktober 1990 querschnittgelähmt an den Rollstuhl gefesselt, ist in Deutschland das wohl prominenteste Opfer einer schweren Rückenmarksverletzung. Jährlich ereilt mindestens 1500 Bundesbürger ein ähnliches Schicksal – Tendenz gleichbleibend.

Rund 80 bis 90 Prozent der Betroffenen können in ein einigermaßen selbständiges Leben zurückkehren, optimale medizinische Versorgung sowie speziel-le Trainingsprogramme und Hilfsmittel vorausgesetzt. Der Aufwand für eine derart umfassende mehrmonatige "Erstversorgung" in den 21 deutschen Spezialzentren erscheint mit 200000 bis 300000 DM pro Patient zwar hoch, doch er lohnt. Denn für jeden bettlägrig bleibenden Querschnittgelähmten, der sich hochgradig wundliegt, muß die Krankenkasse bis zu 500000 DM im Jahr aufbringen – wohlgemerkt nur für dieses eine gesundheitliche Problem.

Wie auch immer eine plötzliche Schädigung des Rückenmarks zustande kommt – ob durch einen Verkehrs- oder einen Sportunfall, einen Sturz oder durch eine Operation: Zurück bleibt nur zu oft eine vollständige oder teilweise Lähmung und Gefühllosigkeit, die sich auf alle Körperpartien unterhalb der beschädigten Stelle erstreckt und auch die vegetative Kontrolle von Organfunktionen umfaßt (siehe Abbildung auf Seite 28).

Noch vor zehn Jahren konnten Ärzte kaum mehr für einen solchen Verletzten tun, als seine Wirbelsäule mit Metall- oder Knochen-Implantaten zu stabilisieren und Infektionen zu bekämpfen, die beispielsweise auch infolge der gestörten Blasen- und Atemfunktion auftreten. Zusätzlich verordneten sie Rehabilitationsmaßnahmen, um noch verbliebene Funktionen und Fähigkeiten des Gelähmten voll auszuschöpfen.

Nur die wenigsten Mediziner wagten zu hoffen, sie könnten jemals etwas gegen die eigentlichen Schäden am Rückenmark unternehmen. Doch 1990 gelang ihnen ein erster Durchbruch. Damals ergab eine klinische Studie unter Beteiligung verschiedener US-amerikanischer Forschungszentren, daß Unfallopfer mit Rückenmarkstrauma weniger gravierende Spätschäden erleiden, wenn sie rechtzeitig – binnen acht Stunden – das Cortison-Präparat Methylprednisolon in hoher Dosierung erhalten. Zum ersten Mal ließen sich die normalerweise zu erwartenden Ausfälle bei den motorischen und sensorischen Funktionen (Willkürbewegungen und Empfindungen) mindern – wenigstens in bescheidenem Maße.

Das beflügelte die Suche nach weiteren therapeutischen Möglichkeiten. Zu diesem Zwecke hat die Christopher-Reeve-Paralyse-Stiftung, damals noch American Paralysis Association, Mitte der neunziger Jahre auch die Forscher unseres Konsortiums zusammengeführt. Benannt ist sie nach dem als "Superman" bekannt gewordenen Schauspieler, der seit seinem Reitunfall am 22. Mai 1995 vom Hals abwärts gelähmt ist. Wie noch viele andere Wissenschaftler versuchen auch wir zwei grundlegende Dinge zu klären:

- Warum sich der Schaden im Rückenmark nach dem Unfall noch vergrößert, weit über die ursprünglich verletzte Stelle hinaus;

- warum das geschädigte und zerstörte Gewebe sich nicht regeneriert.

Die gewonnenen Erkenntnisse liefern neue Ideen, wie der Schaden begrenzt oder sogar teilweise behoben werden könnte. Und diese versuchen wir zunächst im Tierversuch und dann am Menschen umzusetzen. Von solcher Forschung dürften auch teilweise Patienten profitieren, die an anderen Lähmungserscheinungen infolge Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose oder des Schlaganfalls leiden.

Wir möchten hier den derzeitigen Stand des Wissens darstellen und dabei zeigen, welche Hoffnungen auf Therapien für die nähere und fernere Zukunft wir sehen. Nicht befassen werden wir uns mit dem Ersatz von einzelnen Funktionen durch "Neuroprothesen" oder etwa mit der Verlegung von Sehnen zu noch arbeitenden Muskeln – Ansätze, die ebenfalls in den letzten Jahren bemerkenswerte Erfolge verbuchen (siehe da-zu den Technologiereport "Neuroprothetik", Spektrum der Wissenschaft, 10/1999, S. 88). So vermögen manche Gelähmte dank solcher Hilfen wieder ein Glas mit der Hand zu ergreifen, einige Schritte zu gehen oder die Blase zu kontrollieren. Eine "Reparatur", wie wir sie letztlich anstreben, bedeutet das jedoch nicht. Ausgespart bleiben auch neuere Konzepte zur Rehabilitation.

Doch warum haben Verletzungen des Rückenmarks überhaupt so gravierende Folgen? Der etwa fingerdicke Strang Nervengewebe im Schutz der Wirbelsäule bildet die entscheidende "Schnellstraße" für die Zwei-Wege-Kommunikation zwischen Gehirn und dem Rest des Körpers. Zum Empfang von Signalen besitzen Nervenzellen vor allem sogenannte Dendriten, baumartig verzweigte Ausläufer am rundlich-kompakten Zellkörper mit dem Kern. Weitergegeben werden ihre eigenen Signale über einen oft besonders langen Zellfortsatz: das Axon. Eine solche Nervenfaser durchzieht manchmal das Rückenmark in seiner gesamten Länge oder führt von einem Rückenmarkssegment beispielsweise bis zu einem Skelettmuskel im Zeh. Sie verzweigt sich am Ende und erreicht so viele Zielzellen gleichzeitig.

Eine spezielle Ummantelung, die "Markscheide" oder "Myelinhülle", ermöglicht den Axonen, elektrische Impulse rasch weiterzuleiten. Sind nach einer Rückenmarksverletzung die Fasern selbst zwar intakt, ihre Hüllen aber zerstört, kann dies ebenfalls Lähmungen oder Empfindungsverlust bedeuten.

Das Rückenmark umfaßt sowohl "absteigende" Bahnen – für Befehle, die das Gehirn in den Körper schickt – als auch "aufsteigende" Bahnen, für Signale aus der umgekehrten Richtung (siehe Kasten auf Seite 30).

Impulse "von oben" steuern die Skelettmuskulatur, beeinflussen aber auch die Aktivität des vegetativen Nervensystems. Dieses kontrolliert Blutdruck, Körpertemperatur und Kreislaufreaktionen auf Stress sowie unter anderem die Eingeweidemuskulatur. Das Rückenmark fungiert zugleich als Umschaltstation: Die Hirnneuronen senden über ihre Axone elektrische Signale hinab zu bestimmten Rückenmarkssegmenten; erst dort sitzen Nervenzellen, deren Axone das Rückenmark verlassen und die Befehle weitergeben.

Die aufsteigenden Bahnen dagegen dienen der Sensorik. Sie übermitteln Sinnessignale von Haut, Extremitäten und Eingeweiden. Diese Information stammt von Zellen, die beispielsweise Muskelspannung, Stellung der Gelenke, Temperatur oder Schmerz oder den Zustand von Organen registrieren; sie gelangt zunächst in bestimmte Segmente des Rückenmarks und von dort – nach Umschaltung – weiter hinauf ins Gehirn.

Allerdings vermag das Rückenmark teilweise auch selbständig zu agieren. Eine Reihe von Reflexen läuft allein über dort sitzende Verschaltungen. Sogar die Bewegungen des Gehens lassen sich bei Querschnittlähmungen mitunter reflektorisch auslösen und begrenzt trainieren.

Um Mißverständnis-se zu vermeiden: Zwar leitet eine einzelne Faser ihre Nervenimpulse nur in einer Richtung weiter; sind aber motorische und sensorische Fasern zu einem Körpernerv gebündelt, dient er selbst der Zwei-Wege-Kommunikation.

Das Rückenmark hat zwei schon rein optisch gut unterscheidbare Bereiche: innen die im Querschnitt schmetterlingsförmige "graue Substanz" mit den Zellkörpern der Neuronen, weiter außen die "weiße Substanz" mit den auf- und absteigenden Axonen (die hellere Färbung rührt von deren Hüllen her). Sowohl in der grauen als auch in der weißen Substanz sitzen außerdem verschiedene Sorten sogenannter Gliazellen: sie sorgen dafür, daß die Neuronen überleben und auch ihrer Aufgabe nachkommen können. Sie sind deshalb bei einer Rückenmarksverletzung ebenfalls bedeutsam. Zur Glia gehören:

- die sternförmigen Astrocyten – sie stützen das empfindliche Nervengewebe und schirmen es nach außen ab; außerdem unterstützen sie die Nervenzellen bei der Übertragung von Impulsen;

- die Mikroglia-Zellen, die sich bei einer Entzündung in vielem ähnlich wie Immunzellen verhalten;

- die Oligodendrocyten, deren zungenförmige Ausläufer sich als Myelinhülle um Axone wickeln – rund 40 verschiedene Axone kann eine solche Zelle zugleich "myelinisieren".

Oberstes Gebot: Schadensbegrenzung


Jede Rückenmarksverletzung ist zwar anders, dennoch existieren gewisse Gemeinsamkeiten. Normalerweise schützt der Wirbelkanal das empfindliche Gewebe. Bei starker Krafteinwirkung von außen jedoch kann es geschehen, daß die Wirbel sich extrem verschieben oder sogar brechen. Nervenfasern werden dabei gequetscht oder zerrissen. Ist hauptsächlich die innere, graue Substanz verletzt, was gelegentlich vorkommt, beschränkt sich der Ausfall auf Körperpartien, die mit dem entsprechenden Rückenmarksabschnitt Signale austauschen.

Zum Beispiel würde eine Läsion allein der grauen Substanz auf Höhe des achten Halswirbels – dort, wo der achte Nerv entspringt – die Hände lähmen; der Patient könnte aber noch gehen und verlöre auch nicht die Kontrolle über Harnblase und Darm (siehe Abbildung auf Seite 28). Wäre jedoch auch die weiße Substanz auf dieser Höhe beschädigt, dann könnte das Gehirn weder Nachrichten weiter nach "unten" senden, noch von dort empfangen. Diesem Patienten wären Hände und Beine gelähmt; auch könnte er dann Stuhlgang und Harndrang nicht mehr steuern und kontrollieren.

Das Verhängnisvolle an solchen Läsionen ist zudem, daß die ursprünglich mechanisch bedingten Schäden sich in den Minuten, Stunden und Tagen nach dem Unfall noch beträchtlich ausweiten. Zunächst vergrößert sich der schadhafte Bezirk gewöhnlich vertikal durch die graue Substanz und greift dann horizontal auf die weiße über (siehe Kasten auf Seite 32/33). Deswegen kann es geschehen, daß schließlich weitere Rückenmarkssegmente ober- und unterhalb des ursprünglich zerstörten Gebietes betroffen sind.

Das Ausmaß des Desasters ist erschreckend. Nutzlose Axonstümpfe bleiben zurück, während ihre "amputierten" Enden zerfallen. Viele ansonsten intakte Axone sind ihrer Myelinhülle beraubt und dadurch weitgehend unbrauchbar geworden. Im Zentrum der Verletzung macht sich eine Cyste, ein flüssigkeitsgefüllter Hohlraum, breit. Um sie herum wuchern Gliazellen, formen sogenannte Glianarben. Selbst wenn Axonstümpfe wieder auswachsen würden, stießen sie erst auf dieses Hindernis – und dann ins Leere. Teilweise überstehen zwar ein paar Axone den Unfall völlig unbeschadet, doch oft reicht ihre Zahl nicht aus, um nützliche Informationen zum Gehirn oder Weisungen von dort an die Muskulatur zu übermitteln.

Müßten all diese Veränderungen verhindert oder rückgängig gemacht werden, wären die Erfolgsaussichten gering. Glücklicherweise scheint es in manchen Fällen zu genügen, wenigstens zehn Prozent der Axone in der weißen Substanz voll funktionsfähig zu erhalten, damit der Patient noch einigermaßen zu stehen und gehen vermag.

Überdies kann es einen großen Unterschied für die Lebensqualität bedeuten, wenn die Sekundärschäden auch nur einen Zentimeter weniger nach oben fortschreiten und so ein weiteres, höheres Rückenmarkssegment verschonen. So verlieren Patienten bei einer Zerstörung von Segment C6 im Halsmark die Fähigkeit, ihre Arme zu bewegen; sie besitzen nur noch schwache Kraft in den Schultern und im Ellenbogen, um ihn zu beugen. Bei einer Läsion des tiefer sitzenden Segments C7 hingegen können Betroffene noch ihre Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenke einigermaßen bewegen (siehe Abbildung auf Seite 28). Mit Spezialtraining – manchmal auch noch dank einer Sehnentransplantation – können die Patienten dann in gewissem Umfang ihre Arme und Hände wieder gebrauchen.

Viele Wissenschaftler untersuchen deshalb, wie die erheblichen Sekundärschäden zustande kommen und wie sie sich verhindern lassen. Eines ist mittlerweile klar: Zahlreiche Prozesse greifen hier ineinander. Schon Minuten nach dem Unfall treten an der verletzten Stelle kleine Blutergüsse auf, und das Rückenmarkgewebe schwillt an. Viele seiner Zellen sterben ab, weil sie nun nicht mehr genügend Sauerstoff und Nährstoffe erhalten.

Zugleich setzen geschädigte Zellen, Axone und Blutgefäße Substanzen frei, die noch intakte Nachbarzellen beeinträchtigen. Besonders einer dieser Stoffe, Glutamat, löst dabei in Neuronen eine höchst zerstörerische Kettenreaktion aus. An sich verwenden viele Axone im gesunden Rückenmark Glutamat als Signalüberträgerstoff, allerdings nur in winzigen Mengen. Sie teilen auf diesem Wege nachgeschalteten Nervenzellen mit, selbst aktiv zu werden.

Doch verletzte Neuronen, aber auch geschädigte Astrocyten überschwemmen ihre Umgebung regelrecht mit Glutamat. Die Überdosis versetzt intakte Nachbarneuronen in eine gefährliche Übererregung. In Inneren der Zellen kommt eine Kaskade zerstörerischer Ereignisse in Gang: Sogenannte freie Radikale entstehen, also hochreaktive Moleküle, die Zellbestandteile angreifen. Übererregte Neuronen können daher absterben. Ähnliches geschieht auch oft nach einem Schlaganfall (siehe "Neue Ansätze zur Schlaganfall-Therapie", Spektrum der Wissenschaft, 9/1991, S. 58).

Bis vor gut einem Jahr glaubten Wissenschaftler noch, die enorme Glutamat-Schwemme vernichte nur Nervenzellen. Doch vermutlich trifft es auch die Oligodendrocyten, deren "Zungen" sich als Hülle um die Axone wickeln. Das würde teilweise erklären, wieso nach einem Rückenmarkstrauma sogar unverletzt gebliebene Axone ihre Hüllen verlieren.

Bei einer länger anhaltenden Entzündung des kostbaren Nervengewebes – am Eindringen bestimmter Immunzellen in die Wunde erkennbar – kann der Zerstörungsprozeß noch tagelang fortschreiten. Normalerweise ist Immunzellen aus dem Blut der Eintritt in Gehirn und Rückenmark verwehrt. Doch die lädierten Blutgefäße geben ihnen den Zugang frei. Infolge der Verletzung werden die Immunzellen wie auch die Mikrogliazellen des Rückenmarks aktiviert, was beide veranlaßt, das ohnehin verheerende Milieu nun ihrerseits mit noch mehr freien Radikalen und anderen gefährlichen Stoffen anzureichern.

Der eingangs erwähnte Schutzeffekt durch den Cortison-Abkömmling Methylprednisolon beruht vielleicht teilweise darauf, daß diese Substanz Schwellungen und Entzündungen mindert sowie das Freisetzen von Glutamat und die Anreicherung von freien Radikalen eindämmt. Sie hilft jedenfalls, doch das genaue Wie bleibt noch zu klären.

Tierversuche zeigen zudem, daß die Sekundärschäden viel geringer ausfallen, wenn man die Zellen durch Hemmstoffe vor der gefährlichen Glutamat-Schwemme abschirmt. Oligodendrocyten und Neuronen tragen oft Glutamat-Rezeptoren der sogenannten AMPA-Klasse. Pharmaka, die selektiv diese Empfängermoleküle blockieren, können offenbar besonders gut das Ausmaß der Läsion und Behinderung begrenzen. Solche "Glutamat-Blocker" testen Ärzte bereits in ersten klinischen Untersuchungsreihen an Patienten mit akutem Schlaganfall. Für bestimmte verwandte Glutamat-Blocker könnten in einigen Jahren die Unbedenklichkeitsstudien an Patienten mit Rückenmarksverletzungen anlaufen.

Viele Rückenmarkszellen, die bald nach dem Unfall untergehen, sterben direkt durch äußere Einwirkung, also mehr oder weniger passiv. Erst in den letzten Jahren haben die Wissenschaftler im verletzten Rückenmark auch quasi einen Selbstmord bestimmter Zellen beobachtet (siehe "Die Apoptose – Regeln und Fehler beim Zellselbstmord", Spektrum der Wissenschaft, 2/1997, S. 26). Tage oder Wochen nach dem Unfall fegt nämlich nicht selten eine Selbstmordwelle durch die Oligodendrocyten-Population, erfaßt bis zu vier Rückenmarkssegmente ober- und unterhalb vom Verletzungsort. Hier bietet sich ein weiterer Ansatz, um Folgeschäden vorzubeugen. Bei Ratten zumindest war nach einer künstlichen Rückenmarksverletzung das Laufen und Klettern weniger stark beeinträchtigt, wenn sie mit einem die Apoptose blockierenden Wirkstoff behandelt wurden.

In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler eine Anzahl körpereigener Proteine identifiziert, die ebenfalls zum Überleben von Neuronen und Gliazellen beitragen, sogenannte neurotrophe Faktoren. Eine verwandte Substanz, GM-1-Gangliosid (Sygen), wird derzeit am Menschen darauf getestet, ob sie sekundäre Rückenmarksschäden in Grenzen hält. Alles in allem steht zu erwarten, daß Unfallopfer mit Rückenmarkstrauma eines Tages verschiedene Wirkstoffe zu verschiedenen Zeiten gegen jeweils bestimmte zerstörerische Folgeprozesse erhalten.

Am besten wäre natürlich, wenn sich sogar die ursprüngliche Schädigung des Rückenmarks wieder beheben ließe. Ein anspruchsvolles Unterfangen, denn es gilt, die gekappten Axone zu stimulieren, so daß ihre Stümpfe wieder auswachsen und die neuen Fasern zu den richtigen Zielzellen finden.

Fernziel: Reparatur des Schadens


Bei erwachsenen Säugern regenerieren die Neuronen des Zentralnervensystems ihre geschädigten Axone im allgemeinen nicht. Dies liegt nicht etwa daran, daß sie dazu von sich aus nicht imstande wären. Vielmehr bietet ihre Umgebung ein hierfür ungünstiges Milieu. Im noch unreifen Rückenmark und Gehirn sowie anderswo im Körper wachsen nämlich gekappte Axone leicht wieder nach. Zudem haben Tierexperimente bereits gezeigt, daß auch Axonstümpfe im reifen Rückenmark noch ein ganzes Stück aussprossen können – sofern man geeignete Bedingungen schafft.

Als hinderlich entpuppten sich unter anderem gewisse reichlich vorhandene Moleküle, die eine axonale Regeneration aktiv hemmen. Manche davon stecken in der Myelinhülle. Ihre Entdecker haben bereits einen Mäuse-Antikörper erzeugt, der diese Moleküle im Myelin blockiert: Sie nennen ihn IN-1 (Inhibitor-neutralisierender Antikörper). Als sie ihn Ratten ins verletzte Rückenmark injizierten, wuchsen einige der durchtrennten Axone wieder ein erhebliches Stück nach. Hatten die Forscher neuronale Bahnen zu und von einer Vorderpfote geschädigt, vermochten die behandelten Nager sie wieder etwas zu gebrauchen. Dieser Nagetier-Antikörper ist beim Menschen aber nicht einsetzbar – das Immunsystem würde ihn als fremd erkennen und schließlich zerstören. Eine "vermenschlichte" Version für den klinischen Einsatz ist allerdings bereits in Entwicklung.

Im Rückenmark wurden mittlerweile weitere natürliche Inhibitoren entdeckt, die das Nervenwachstum verhindern. Zum Beispiel produzieren auch die Astrocyten solche Hemmstoffe; etliche andere kommen in der gerüstartigen Matrix zwischen Zellen vor. Die Mediziner werden wahrscheinlich einmal Kombinationen von Medikamenten verabreichen müssen, wenn sie gleich mehrere der vielen natürlichen Bremsen des axonalen Wachstums lockern wollen.

Statt nur Bremsen zu lösen, könnte man allerdings auch das Gaspedal betätigen – also Substanzen verabreichen, die direkt stimulierend wirken. Bereits vor Jahrzehnten isolierten Forscher einen ersten "Nervenwachstumsfaktor" (nerve growth factor, NGF), der für Entwicklung und das Überleben des peripheren Nervensystems – außerhalb von Hirn und Rückenmark – wichtig ist. Mittlerweile wissen wir, daß sich um ihn eine ganze Familie von Proteinen rankt, die sowohl das Überleben von Neuronen als auch das Auswachsen von Axonen begünstigen. Auch kennen wir inzwischen viele weitere
Familien solcher neurotropher – wörtlich: nervnährender – Faktoren. Einer davon – Neurotrophin-3 (NT-3) – verstärkt beispielsweise selektiv das Wachstum von Nervenfasern, die vom Gehirn ins Rückenmark hinabziehen.

Glücklicherweise können selbst ältere Neuronen auf solche "Fördermittel" noch ansprechen, doch offensichtlich bildet der Körper selbst viel zu wenig für eine Reparatur des Rückenmarks. Die Produktion mancher förderlicher Moleküle scheint nach dem Unfall über Wochen sogar zu sinken statt zu steigen. Die vielen Tierversuche, bei denen die Konzentration solcher Substanzen künstlich erhöht wurde, stimmten aber optimistisch: Die Regeneration ließ sich dadurch verstärken. Einige dieser Moleküle, darunter der basische Fibroblasten-Wachstumsfaktor (bFGF), werden bereits an Schlaganfall-Patienten getestet. Noch ungeprüft ist ihr möglicher Nutzen bei Rückenmarksverletzungen des Menschen. In Vorversuchen an Tieren werden viele solcher Faktoren aber schon auf ihre Eignung untersucht.

Bevor Wachstumsfaktoren auch bei menschlichen Rückenmarksverletzungen eingesetzt werden können, muß allerdings sichergestellt sein, daß der Patient sich nicht Nachteile einhandelt. Verschlimmern könnten sich beispielsweise Schmerzen, die zu den häufigsten Spät- und Langzeitfolgen gehören. Das hat viele Ursachen. Eine ist, daß kurze Aussprossungen von Nervenzellen "verkehrte" Kontakte knüpfen. Das Gehirn interpretiert deren Impulse dann manchmal fälschlich als Schmerzsignale. Diese mißliche Situation könnten Wachstumsfaktoren theoretisch noch verschärfen. Außerdem ist denkbar, daß sie Schmerzschaltkreise im Rückenmark oder hauteigene Schmerzrezeptoren, die stark auf besondere Wachstumsfaktoren ansprechen, überempfindlich machen.

Wichtig wäre also, sich regenerierende Axone zu den richtigen, ihren ursprünglichen Zielstrukturen zu leiten. Wie kann man das erreichen? Untersuchungen an Neuronen während der Embryonalentwicklung liefern einige Hinweise.

Während der Entwicklung des Organismus reagiert die sprossende Axonspitze, der Wachstumskegel, auf Moleküle aus und in dem Zielgebiet. Vor allem in den letzten fünf Jahren kam eine ganze Reihe zutage. Einige der Leitmoleküle, etwa die Familie der Netrine, werden von Nerven- oder Gliazellen freigesetzt beziehungsweise auf der Zelloberfläche dargeboten. Sie locken die Axone in bestimmte Richtungen oder stoßen sie ab. Als Leitmoleküle dienen außerdem feste Bestandteile der außerzellulären Matrix. An manchen verankern sich spezielle Haftmoleküle der axonalen Wachstumskegel.

Gefunden wird das Ziel im Embryo nur, wenn die verschiedenen Leitmoleküle in ganz bestimmter räumlicher und zeitlicher Reihenfolge auftreten. Wie dergleichen künstlich im ausgereiften Rückenmark zu bewerkstelligen wäre, bleibt noch völlig offen. Vielleicht reicht es aber, ein beschränktes Sortiment dieser Moleküle, etwa eine Auswahl an Netrinen und Matrix-Komponenten therapeutisch bereitzustellen. Die restlichen Leitmoleküle könnten durchaus noch im Rückenmark vorhanden sein.



Überbrückungshilfe geben


Erforscht werden zudem Wege, die im verletzten Rückenmark entstandene Lücke aus flüssigkeitsgefüllter Cyste und Glianarbe mit Leithilfen zu überbrücken. Zum Beispiel versucht man, die verletzten Axone durch eine Art Tunnel zu dirigieren. Oder man bietet ihnen ein Gerüst als Stütze, wobei ein solches Material zugleich wachstumsfördernde Substanzen bereitstellen kann.

Erste Erfolge solcher Hilfestellungen ließen sich bereits verbuchen. Zum Beispiel bekamen Ratten in eine Lücke im Rückenmark Röhrchen eingepflanzt, die mit sogenannten Schwann-Zellen vollgepackt waren. (Diesen Gliazellen des peripheren Nervensystems verdanken wir es zum Beispiel, daß nach einem Schnitt in den Finger durchtrennte Nervenfasern wieder nachwachsen.) Ihr in vieler Hinsicht förderlicher Einfluß regte die Axonstümpfe im Rückenmark an, zumindest ein Stück in die Röhrchen einzuwachsen.

Als weitere Überbrückungshilfe bieten sich spezielle Gliazellen an, welche die Axone des Riechnervs umkleiden. Das Besondere an ihnen: Die zugehörigen Neuronen erneuern sich ausnahmsweise ständig. Wurden bei Ratten im Rückenmark absteigende Bahnen durchtrennt und dann diese Gliazellen als Überbrückung eingesetzt, so wuchsen die Axone teilweise bis zur anderen Seite und darüber hinaus. Noch besser war das Ergebnis, wenn die Forscher zugleich Schwann-Zellen einpflanzten.

Auf lange Sicht müßten die Mediziner nicht einmal auf Gliazellen vom Riechnerv ihrer Patienten zurückgreifen – oder auf andere Zelltypen des Nervengewebes. Denn wenn erst klar ist, was all diese Hilfszellen für eine solche Funktion prädestiniert, ließen sich völlig andere, leichter handhabbare Typen von Zellen auf gentechnischem Wege mit den nötigen Eigenschaften ausstatten.

Mit genmanipulierten Fibroblasten beispielsweise experimentieren Forscher bereits im Tierexperiment. Sie haben diese unreifen Bindegewebszellen dazu gebracht, den neurotrophen Faktor NT-3 zu produzieren, der zugleich eine erneute Myelinisierung fördert. Verpflanzten sie die Zellen Nagern in das durchtrennte Rückenmark, so wuchsen die Axone teilweise wieder nach. Auch regenerierten sich ihre Myelinhüllen besser. Die Lähmung der beim Experiment betroffenen Hinterbeine ging danach zurück.

Könnte man durch einen Gewebetransfer auch völlig zerstörte Zellen im Rückenmark ersetzen? Das hieße, nicht nur lädierten Neuronen zur Regeneration ihrer Axone verhelfen, sondern abgestorbene Zellen erneuern – vielleicht sogar beides mit Hilfe des gleichen Implantats. Die bisherigen Studien hierzu brachten aufregende Ergebnisse. Verwendet wurden in erster Linie Zellen und Gewebe aus Embryonen und Feten.

Wenn Versuchstiere bald nach der Verletzung Gewebe aus dem Zentralnervensystem von arteigenen Feten erhalten, können daraus tatsächlich komplette neue Nervenzellen entstehen: mit einem langen Axon, das entweder mehrere Etagen des Rückenmarks durchmißt oder es verläßt. Außerdem wirkt das Implantat als Überbrückungshilfe: Sich regenerierende Axone des Empfängers wachsen in das Spendergewebe ein. Einige Tiere erlangen dadurch wieder mehr Mobilität, können beispielsweise die betroffenen Pfoten sinnvoll gebrauchen.

Mehr noch: Solche Studien weisen darauf hin, daß Axone gelegentlich auch ohne künstlich zugeführte Leitmoleküle ihr Ziel finden. Allerdings: Im unausgereiften Rückenmark junger Nager wirkt das fetale Implantat wesentlich besser als bei älteren Tieren. Zu erwarten steht, daß jüngere Kinder von einer Behandlung mit fetalem Nervengewebe eher profitieren als Jugendliche und Erwachsene. Zwar haben Mediziner bereits mehreren Menschen, deren Rückenmarksverletzung länger zurücklag, Gewebe aus abgetriebenen menschlichen Feten transplantiert. Über den Erfolg dieser Maßnahme ist aber noch zu wenig bekannt, um irgendwelche Schlüsse ziehen zu können. Schon aus ethischen Gründen sucht man nach Alternativen.

Manche Wissenschaftler möchten deshalb statt fetalen Geweben sogenannte Stammzellen verwenden. Das sind noch nicht ausdifferenzierte, im Prinzip unbegrenzt teilungsfähige Zellen, die je nach Herkunft und Umgebung zu mehreren spezialisierten Typen von Zellen heranreifen können. Sie sind auch noch beim Erwachsenen in verschiedenen Geweben vorhanden – nach neuesten Erkenntnissen sogar im Zentralnervensystem (siehe dazu "Neue Nervenzellen im erwachsenen Gehirn", Spektrum der Wissenschaft, 7/99, S. 32). Aus diesen neuralen Stammzellen können neue Neuronen und all ihre Begleitzellen hervorgehen. Allerdings scheinen sie in den meisten Regionen des Zentralnervensystems in einem Schlummerzustand zu verharren.

Erst 1998 gelang es amerikanischen Wissenschaftlern, menschliche Stammzellen aus einem ganz frühen Embryonalstadium in Kultur zu züchten. Diese Zellen haben theoretisch noch das Potential, sich zu fast allen Zelltypen des Körpers zu entwickeln, also auch zu solchen des Rückenmarks (siehe "Embryonale Stammzellen als Regenerationshilfe", Spektrum der Wissenschaft, Spezial 4/99, S. 12).

Weil das Immunsystem jedoch körperfremde Zellen bekämpft, eignen sich körpereigene Stammzellen schlichtweg besser zum Verpflanzen. Noch bleibt allerdings zu klären, wie man aus Gehirn oder Rückenmark eines Patienten am geschicktesten neurale Stammzellen gewinnt und wie sich ihre Differenzierung steuern läßt. Wissenschaftler spielen nichtsdestotrotz bereits mit dem Gedanken, Gelähmten eine Gewebeprobe aus dem Gehirn zu entnehmen und neurale Stammzellen daraus ins Rückenmark einzusetzen. Im Prinzip könnten Ärzte eines Tages auch eingefrorene kompatible embryonale Stammzellen aus einer Art Gewebebank beziehen und vor dem Verpflanzen in Vorläufer von Rückenmarkszellen umwandeln.

Einfach Vorläuferzellen ins geschädigte Rückenmark eines Patienten zu implantieren, genügt unter Umständen – sofern sie sich dort ohne weiteres Zutun vermehren, in die benötigten Zelltypen ausdifferenzieren und adäquate Kontakte zu Neuronen herstellen. Dann jedoch ist von ihnen ausreichender Ersatz für verlorene Nerven- und Gliazellen zu erwarten. Bei Tieren zumindest können Stammzellen die jeweils zum Umfeld passenden Nervenzellen und Gliazellen ausbilden, ob man sie nun in einen intakten oder in einen geschädigten Bereich des Zentralnervensystems einbringt. Zusammen mit den Ergebnissen zum implantierten Fetalgewebe spricht dies dafür, daß selbst verletztes ausgereiftes Nervengewebe über viele der für eine Differenzierung und Zielfin-dung entscheidenden Schlüsselfaktoren verfügt. Bei Bedarf ist auch Nachhilfe auf gentechnischem Wege denkbar, was bei den ja teilungsfähigen Stammzellen leichter geht als bei Nervenzellen, die sich grundsätzlich nicht mehr teilen.

Für Patienten: Wie lange noch warten?


Therapien mit Stammzell-Transplantaten sind heute zweifelsohne noch Zukunftsmusik. Selbst dieser Ansatz erübrigt sich aber möglicherweise eines Tages – wenn nämlich reine Gentherapie ihn zu ersetzen vermag. Dem Patienten müßten dazu in noch vorhandene Rückenmarkszellen Gene für Proteine eingeschleust werden, die folgendes fördern:

- die Vermehrung von Stammzellen,

- das Entstehen und Überleben der benötigten Zelltypen sowie

- die Regeneration, Zielfindung und erneute Myelinisierung von Axonen.

Die bisherigen Verfahren zum Transfer von Genen in das Zentralnervensystem sind allerdings noch nicht ausgereift; sie geben auch keine Gewähr, daß die Zellen die zusätzlichen Gene nicht wieder eliminieren oder abschalten.

Es wird noch einige Zeit dauern, bis verletztes Rückenmark repariert und erfolgreich regeneriert werden kann. Dagegen dürfte eine Unterstützung von Restfunktionen rascher verfügbar sein: "Entkleidete" Axone, die Impulse nicht mehr richtig weiterleiten, sollen durch spezielle Wirkstoffe wieder dazu gebracht werden. Klinische Prüfungen laufen bereits mit der Substanz 4-Aminopyridin. Sie blockiert vorübergehend Kalium-Ionenkanäle in der Axonmembran, so daß die elektrische Erregung leichter die entmyelinisierte Zone überwinden kann. Bei manchen der Testpatienten besserte 4-Aminopyridin die motorischen oder sensorischen Beeinträchtigungen etwas.

Auf den ersten Blick scheint dieser Wirkstoff auch fast wie geschaffen zum Einsatz bei Multipler Sklerose. Hier verlieren ebenfalls Rückenmarks-, aber auch Hirnneuronen ihre Myelinhüllen. Doch neigen MS-Patienten zu epileptischen Anfällen, und 4-Aminopyridin kann dies verstärken.

Der neurotrophe Faktor NT-3, der bei Tieren unter anderem eine Remyelinisierung anregen kann, wird gleichfalls bereits an Patienten mit Rückenmarksverletzungen erprobt. Ausgedehnte klinische Tests beginnen gerade; die Dosierungen sind allerdings nur so bemessen, daß davon Darmnerven profitieren, der Darm besser arbeitet. Sie sind zu gering, um die im Zentralnervensystem benötigten Konzentrationen zu erreichen. Proteine wie dieser Faktor gelangen nur schwer aus dem Blut ins Gehirn und ins Rückenmark. Wir müssen abwarten: Sollte das Medikament in der jetzt geprüften Dosierung verträglich sein, können Mediziner Versuche mit höheren Konzentrationen planen.

Die neunziger Jahre haben der Wissenschaft viele neue Einsichten sowohl über das Geschehen im Rückenmark nach einer Verletzung als auch darüber gebracht, unter welchen Voraussetzungen Nervenzellen wachsen und Rückenmark sich regeneriert. Man könnte fast sagen, die Forscher tasten sich auf diesem Weg voran wie neue Nervenzellausläufer. Zukünftige Therapien werden jedenfalls verschiedene abgestimmte Maßnahmen mit unterschiedlichen Zielen umfassen. Die Agenda lautet:

- Sekundärschäden verhüten,

- Axone und ihre Hüllen regenerieren,

- verlorengegangene Zellen ersetzen.

Betroffene fragen uns oft, wann solche Therapien endlich zur Verfügung stehen. Auch wir wüßten dies gern. Leider bewähren sich Pharmaka, die an Tieren erfolgreich erprobt wurden, nicht immer auch beim Menschen. Und selbst wenn sie nach ersten Studien mit klei-nen Patientenzahlen vielversprechend erscheinen, halten sie einer größeren Prüfung manchmal nicht stand. Zuversichtlich stimmt uns immerhin, daß zumindest zwei klinische Versuchsreihen schon laufen und daß weitere wohl in den nächsten Jahren folgen werden.

Den Schaden bei einer Rückenmarksverletzung zu begrenzen ist leichter, als ihn zu reparieren. Deswegen erwarten wir zunächst klinische Tests zur Verhütung von Folgezerstörungen gleich nach dem akuten Trauma. Was Maßnahmen zur Reparatur des Rückenmarks betrifft – am einfachsten müßte sein, ihrer Hülle beraubten Axonen zu einer neuen zu verhelfen. Dies allein würde einen großen Gewinn an Lebensqualität bedeuten – und sei es "nur", daß ein Betroffener Blase und Darm wieder kontrolliert zu entleeren vermag.

Sehnenverpflanzungen oder moderne Neuroprothesen bringen zwar manchem Gelähmten gewisse verlorene Funktionen teilweise zurück. Damit aber das Gros der Betroffenen eine größere Unabhängigkeit im Alltag wiedergewinnt, muß es gelingen, das geschädigte Rückenmark zu reparieren.

Noch haben erst wenige Therapieversuche bei Tieren mit gezielten Rückenmarksläsionen so viel wiederhergestellt, wie ein paralysierter erwachsener Mensch braucht, damit er wieder greifen oder stehen und gehen kann. Auch sind die physiologischen und molekularen Zusammenhänge dermaßen komplex, daß wir bisher nicht abzuschätzen vermögen, wann Querschnittgelähmten eine Reparatur des lädierten Rückenmarks angeboten werden kann.

Bisher konnten die Ärzte bei einer schweren Rückenmarksverletzung nicht mehr tun, als in der Rehabilitation zu versuchen, Restfunktionen voll auszuschöpfen und die verlorenen Fähigkeiten soweit eben möglich zu kompensieren. Vieles, von dem wir hier berichteten, galt vor zehn Jahren noch als reine Science- fiction. Heute wird eine teilweise Heilung von Querschnittgelähmten zumindest vorstellbar.

Literaturhinweise


Querschnittlähmungen: Aktuelles aus Therapie und Forschung. Von H. J. Gerner (Hg.). Springer, 1996.

Spinal Cord Repair: From Experimental Models to Human Application. Von J. W. Fawcett in: Spinal Cord, Bd. 36, Nr. 12, S. 811–817, Dezember 1988.

Degeneration and Regeneration of Axons in the Lesioned Spinal Cord. Von M. E. Schwab und D. Bartholdi in: Physiological Reviews, Bd. 76, Nr. 2, S. 319–370, April 1996.

The Molecular Biology of Axon Guidance. Von M. Tessier-Lavigne und C. S. Goodman in: Science, Bd. 274, S. 1123–1133, November 1996.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2000, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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