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100 Jahre Australopithecus: Der umstrittene Südaffe

Vor 100 Jahren, am 7. Februar 1925, veröffentlichte Raymond Dart die Erstbeschreibung des Australopithecus africanus – und führte damit eine neue Gattung für die Vorfahren des Menschen ein. Die überwiegende Mehrheit von Darts Fachkollegen war allerdings entsetzt.
Schädelreplik vom »Kind von Taung« (Australopithecus africanus)
Der 1924 in Südafrika gefundene Schädel des »Kindes von Taung« (hier eine Replik) stellt das Typusexemplar für die von Raymond Dart neu beschriebene Gattung Australopithecus sowie die Art Australopithecus africanus dar.

»Ich hielt Südafrika für einen furchtbaren Ort, derart isoliert von der Londoner Wissenschaft.« Raymond Dart war wenig begeistert von der Idee seines Lehrers und Förderers Grafton Elliot Smith (1871–1937). Doch Dart fügte sich. Und so brach der junge Mediziner, der sich 1920 als Assistent am University College London eingerichtet hatte, kurz vor Weihnachten 1922 nach Südafrika auf, um in der frisch gegründeten University of the Witwatersrand in Johannesburg den Anatomie-Lehrstuhl aufzubauen. Ein kurzer Aufenthalt in der weit abgelegenen britischen Kolonie könnte, so der Rat von Smith, für Darts akademische Karriere durchaus förderlich sein. Aus dem kurzen Aufenthalt wurde ein ganzes Leben.

Nur wenige Jahre nach seiner Ankunft in Johannesburg sollte der am 4. Februar 1893 im australischen Brisbane geborene Farmersohn die größte Entdeckung seiner Laufbahn machen: In Gesteinsschutt stieß er auf Überreste eines urzeitlichen Schädels, der Merkmale eines Affen mit denen eines menschlichen Wesens verband. Seine vor 100 Jahren veröffentliche Beschreibung des Fossils revolutionierte die damalige Vorstellung von der Evolution des Menschen.

Ein ungünstiger Moment

Die Geschichte dieser Entdeckung begann im Sommer 1924, als die Studentin Josephine Salmons (1901–1950) Raymond Dart auf interessante Fossilien aus dem Buxton-Kalksteinbruch in der Nähe der Kleinstadt Taung des damaligen britischen Protektorats Betschuanaland aufmerksam machte. Wie Dart erfuhr, waren in dem Steinbruch bereits mehrfach derartige Überreste aufgetaucht, darunter auch solche von Pavianen. Neugierig geworden, ließ er sich Proben nach Hause schicken. Die Sendung erreichte ihn allerdings an einem für ihn etwas ungünstigen Zeitpunkt – denn just an jenem Tag hatte das Ehepaar Dart eine Hochzeitsgesellschaft zu Gast, wobei der Hausherr als Trauzeuge dienen sollte.

»Ich stand am Fenster meines Ankleidezimmers und fluchte leise vor mich hin, während ich mich in einen ungewohnten, steifen Kragen zwängte, als ich zwei Männer in der Uniform der südafrikanischen Eisenbahn bemerkte, die mit zwei großen Holzkisten die Auffahrt zu unserem Haus in Johannesburg entlangtorkelten«, erinnert sich der Professor in seinen 1959 erschienenen Memoiren »Adventures with the missing link«. Darts Frau Dora war entsetzt: »Raymond, die Gäste kommen gleich, und du kannst doch jetzt nicht in dem ganzen Schutt rumwühlen!«

Doch der Ehemann kümmerte sich wenig um die Ermahnungen. »Sobald meine Frau gegangen war, um sich fertig anzuziehen, riss ich mir den verhassten Kragen vom Leib und eilte hinaus, um die Kisten in Empfang zu nehmen, die inzwischen den Eingang zur Treppe versperrten.«

Raymond Dart, der Entdecker von Australopithecus africanus, im Jahr 1925
Der Entdecker | 1925 präsentierte der südafrikanische Anatom Raymond Dart (1893–1988) seinen spektakulären Fund: den Schädel von Australopithecus africanus.

Aufgeregt riss er den Deckel der ersten Kiste auf – und war enttäuscht. Lediglich ein paar Überreste von versteinerten Eierschalen und Schildkrötenpanzern sowie vereinzelte Knochenfragmente kamen zum Vorschein. Für Dart, der auf Affenfossilien gehofft hatte, wenig interessante Stücke.

»Ungeduldig rang ich mit dem Deckel der zweiten Kiste … nichts ahnend, dass sie ein Gesicht barg, das nach einem fast eine Million Jahre dauernden Schlaf auf die Welt blicken sollte. Kaum hatte ich den Deckel abgenommen, durchfuhr mich ein Schauer der Erregung.«

»Mich durchfuhr ein Schauer der Erregung«Raymond Dart

Die Kiste enthielt einen Schädelinnenabdruck eines fossilen Primaten. Deutlich zeichneten sich die ehemaligen Hirnwindungen und Blutgefäße ab – ein an sich schon außergewöhnlicher Fund. Doch der Hirnabdruck sah anders aus als die üblichen Fossilien aus der gleichen Gegend. Das Gehirn muss wesentlich größer als das eines Pavians gewesen sein.

Dem erfahrenen Anatomen war sofort klar: Was er in den Händen hielt, stammte nicht von einem Affen. Für einen Urmenschen erschien das Gebilde allerdings viel zu klein. Um was für ein Wesen handelte es sich?

»Fieberhaft durchstöberte ich die Kisten«, erzählt Dart weiter. »Meine Suche wurde belohnt, denn ich fand einen großen Stein mit einer Vertiefung, in die der Abdruck perfekt passte. Im Stein waren schwach die Umrisse eines abgebrochenen Teils des Schädels und sogar der hintere Teil des Unterkiefers sowie ein Zahnfach zu erkennen, was darauf hindeutete, dass sich das Gesicht noch irgendwo in dem Block befinden könnte.«

Dart wühlte weiter in dem Bewusstsein, auf »einen der bedeutendsten Funde in der Geschichte der Anthropologie« gestoßen zu sein. Sein Enthusiasmus wurde jäh durch den wartenden Bräutigam unterbrochen: »Mein Gott, Ray! Du musst dich sofort fertig anziehen – oder ich muss mir einen anderen Trauzeugen suchen.«

Typisch menschlich

In den darauf folgenden Monaten nutzte Dart jede freie Minute, um in mühevoller Kleinarbeit mit Hammer und Meißel – sowie unter Einsatz einer Stricknadel seiner Frau – endlich den Fund nach und nach freizulegen. Ständig befürchtete er, das wertvolle Stück durch zu groben Einsatz zu beschädigen. »Doch am 73. Tag, dem 23. Dezember, löste sich der Fels. Ich konnte das Gesicht von vorne betrachten, auch wenn die rechte Seite noch eingebettet war. Die Kreatur, die dieses gewaltige Gehirn besaß, war kein riesiger Menschenaffe wie ein Gorilla. Was zum Vorschein kam, war das Antlitz eines Babys, eines Säuglings mit einem Satz Milchzähne sowie seinen ersten bleibenden Backenzähnen, die gerade ausbrachen.«

Zeichnerische Rekonstruktion des »Kindes von Taung« (Australopithecus africanus)
Das Antlitz eines Babys | So könnte das Kind von Taung vor etwa 2,3 Millionen Jahren ausgesehen haben.

In der Tat besaß das »Kind von Taung«, wie das Fossil später genannt werden sollte, trotz des eher affenähnlichen Gesichts typisch menschliche Eigenschaften: eine gewölbte, hohe Stirn ohne Überaugenwülste, wie sie bei Affen auftreten; einen leicht gebauten Unterkiefer; ein relativ flach erscheinendes Profil. Auch die Zähne wirkten menschlich. Die recht kleinen Eckzähne ragten nicht hinaus; die für Menschenaffen typische Lücke zwischen unteren Eck- und Backenzähnen fehlte. Auf Grund des Gebisses taxierte Dart das Lebensalter des Kindes auf sechs Jahre; heute geht man von drei bis vier Jahren aus. Aus dem Schädelvolumen von ungefähr 405 Kubikzentimetern lässt sich für ein erwachsenes Individuum eine Hirnkapazität von 440 Kubikzentimetern extrapolieren, was etwa dem eines Schimpansen entspricht. Zum Vergleich: Beim heutigen Menschen Homo sapiens liegt das Hirnvolumen mit rund 1400 Kubikzentimetern dreimal so hoch.

Eine Besonderheit fiel Darts geschultem Auge sofort auf: Das Hinterhauptsloch des Schädels, durch das dieser einst mit dem Rückenmark verbunden war, lag nicht wie bei Vierbeinern hinten, sondern weit vorn an der Unterseite und somit nahe am Schwerpunkt. Darts Schlussfolgerung: Das Kind von Taung ging aufrecht.

Die Weihnachtstage nutzte der Forscher, um seine Befunde niederzuschreiben und ein Manuskript bei der Zeitschrift »Nature« einzureichen. Wenige Wochen später – damals zogen sich Publikationsschleifen noch nicht so lange wie heute hin –, am 7. Februar 1925, erschien sein Artikel »Australopithecus africanus: The man-ape of South Africa«.

Ein kühner Vorstoß

Mit dem Titel seines Beitrags wagte der Autor einen kühnen Vorstoß, indem er eine neue biologische Gattung schuf. Und eine weitere Behauptung des Artikels muss damals schockierend auf die Öffentlichkeit gewirkt haben: Das Fossil repräsentiere eine Entwicklungsstufe »zwischen den lebenden Menschenaffen und dem Menschen«.

»Ich schlage vor, … die erste bekannte Art dieser Gruppe als Australopithecus africanus zu bezeichnen«Raymond Dart

Ausdrücklich bezieht sich Dart auf Charles Darwin (1809–1882). In dessen 1871 erschienenem Werk »The descent of man« hatte der Schöpfer der Evolutionstheorie spekuliert, der Mensch könnte sich in Afrika entwickelt haben. Diese Hypothese aufgreifend, fasst Dart zusammen: »Ich schlage daher vor, eine neue Familie Homo-simiadae zu begründen, um die von ihr repräsentierte Gruppe von Individuen aufzunehmen, und die erste bekannte Art dieser Gruppe als Australopithecus africanus zu bezeichnen, um erstens an den äußerst südlichen und unerwarteten Horizont ihrer Entdeckung und zweitens an den Kontinent zu erinnern, auf dem in jüngster Zeit so viele neue und wichtige Funde im Zusammenhang mit der frühen Geschichte des Menschen gemacht wurden, was die darwinsche Behauptung bestätigt, dass sich Afrika als Wiege der Menschheit erweist.«

Die Bezeichnung »Homo-simiadae« hat sich in der biologischen Systematik nicht durchgesetzt. Heute spricht man von der Familie Hominidae (Menschenaffen), zu der neben dem Menschen auch Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans zählen. Um die menschliche Gattung Homo und all seine inzwischen ausgestorbenen Verwandten in einer Gruppe zusammenzufassen, schufen die Systematiker die Rangstufe oder Tribus Hominini. Und genau hierzu gehört auch Darts Gattung Australopithecus sowie weitere Vormenschen, die mitunter »Australopithecinen« genannt werden.

Alter und Fundorte der wichtigsten Australopithecinen
Diesseits von Afrika | Die Australopithecinen waren eine artenreiche Gruppe ausgestorbener Homininen, die ausschließlich in Afrika lebten. Neben der Gattung Australopithecus zählen hierzu noch weitere wie Orrorin, Ardipithecus, Kenyanthropus oder Paranthropus. Die von Raymond Dart beschriebene Spezies Australopithecus africanus ist vor allem von drei Fundorten in Südafrika bekannt.

Der von Dart vorgeschlagene Gattungsname, der sich aus dem lateinischen Wort »australis« für »südlich« und dem altgriechischen Begriff »pithēkos« für »Affe« zusammensetzt, erscheint allerdings aus heutiger Sicht etwas unglücklich. Denn wie es sich später herausstellte, blieben die »südlichen Affen« nicht auf Südafrika beschränkt, und Affen waren sie auch nicht. In der biologischen Nomenklatur gilt aber der Name, den der Erstbeschreiber für eine neue Gattung oder Art gewählt hat.

Vernichtende Kritik

Darts Publikation löste einen gewaltigen Presserummel aus, stieß jedoch in der Fachwelt auf – gelinde gesagt – erhebliche Skepsis. Bereits eine Woche später, am 14. Februar 1925, veröffentlichte »Nature« drei Stellungnahmen renommierter Kollegen. Der schottische Anthropologe Arthur Keith (1866–1955), der Darts Karriere maßgeblich gefördert hatte, hegte starke Zweifel, für Australopithecus eine neue systematische Familie zu kreieren: »Auf Grund der jetzt vorgelegten Beweise ist man geneigt, Australopithecus in dieselbe Gruppe oder Unterfamilie wie den Schimpansen und den Gorilla einzuordnen.« In das gleiche Horn stieß Darts Lehrer Grafton Elliot Smith: »Die Größe des Gehirns ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass es sich bei dem Fossil um einen Menschenaffen handelt, der dem Gorilla und dem Schimpansen sehr ähnlich ist.« Der englische Paläontologe Arthur Smith Woodward (1864–1944) ging mit seiner Kritik noch weiter: »In Ermangelung von Kenntnissen über die Schädel fossiler Menschenaffen … ist es voreilig zu beurteilen, ob die direkten Vorfahren des Menschen in Asien oder in Afrika zu suchen sind. Das neue Fossil aus Südafrika hat gewiss dazu wenig beizutragen. Paläontologen werden … bedauern, dass (Prof. Dart) für (den neuen Menschenaffen) einen so barbarischen (lateinisch-griechischen) Namen wie Australopithecus gewählt hat.«

Im Juli 1925 bezeichnete Keith die These, das Taung-Fossil sei ein Vorläufer des Menschen, als absurd und führte weiter aus: »Ein Ahnenforscher beginge den gleichen Fehler, wenn er einen heutigen Bauern aus Sussex als Vorfahren von Wilhelm dem Eroberer ausgeben würde.«

»Paläontologen werden bedauern, dass Prof. Dart einen so barbarischen Namen wie Australopithecus gewählt hat«Arthur Smith Woodward

Zur Ehrenrettung von Darts Kritikern muss man allerdings anführen, dass sie zunächst keine Gelegenheit bekamen, das Originalfossil in Augenschein zu nehmen. Ihnen wurde lediglich im Rahmen der Kolonialausstellung British Empire Exhibition ein Abguss präsentiert – abgeschirmt hinter Glas. Erst 1930 reiste Dart mit seinem Fund nach England. Dennoch gelang es ihm nicht, seine Kollegen zu überzeugen.

Vor allem die Tatsache, dass es sich bei dem Fossil um ein Kind handelte, bot Anlass zur Skepsis. Schließlich sei unklar, ob sich das Individuum im ausgewachsenen Zustand nicht doch als Affe entpuppt hätte. Aber vermutlich passte die Vorstellung, der Ursprung des Menschen könne auf dem Schwarzen Erdteil liegen, einfach nicht ins damalige Weltbild. Eher lokalisierte man Asien als mögliche Wiege der Menschheit, hatte doch 1891 der niederländische Arzt Eugène Dubois (1858–1940) auf der indonesischen Insel Java menschenähnliche Überreste entdeckt. Und in den 1920er Jahren tauchten in einer chinesischen Höhle Bruchstücke eines Schädels auf. Fortan wurden der »Java-Mensch«, Pithecanthropus erectus genannt, sowie der »Peking-Mensch« namens Sinanthropus pekinensis als heiße Kandidaten für das fehlende Bindeglied zwischen Affen und Mensch gehandelt. Beide gelten heute allerdings als Vertreter des Homo erectus.

Doch eigentlich sollte der Keim des menschlichen Geschlechts in Europa liegen. Das 1856 gefundene Skelett des Neandertalers und der 1907 bei Heidelberg ausgegrabene Unterkiefer des Homo heidelbergensis erwiesen sich als wichtige Indizien dafür. 1912 kam es dann zur Sensation: Der Amateurarchäologe Charles Dawson (1864–1916) und der oben erwähnte Paläontologe Arthur Smith Woodward präsentierten der staunenden Öffentlichkeit einen Schädel, der perfekt ins Bild passte. Das angeblich aus einer Kiesgrube bei dem südenglischen Dorf Piltdown stammende Fossil besaß ein großes Gehirn und einen affenartigen Kiefer – exakt so, wie es die Fachwelt für einen Vorfahren des Menschen erwartete. Denn, so die Argumentation, in der menschlichen Evolution müssten sich zuerst die Intelligenz und erst danach die körperlichen Merkmale wie der aufrechte Gang entwickelt haben. Bei Darts Kind von Taung sah es aber genau umgekehrt aus: ein menschenähnlicher Kiefer und ein kleines affenartiges Gehirn. Das warf Australopithecus africanus erst einmal aus dem Rennen.

Gemälde von John Cooke zur Untersuchung des »Piltdown-Menschen«
Staunende Gelehrte | 1912 präsentierten Charles Dawson und Arthur Smith Woodward (rechts stehend) den Schädel des angeblichen Piltdown-Menschen. Auf dem 1915 entstandenen Gemälde von John Cooke sind auch Raymond Darts einstige Förderer und spätere Kritiker Grafton Elliot Smith (3. von links) und Arthur Keith (sitzend im weißen Kittel) abgebildet. 1953 wurde der angebliche Fund als Fälschung entlarvt.

Erst 1953 kam die Wahrheit ans Licht: »Eoanthropus dawsoni«, wie der Piltdown-Mensch genannt wurde, erwies sich als Betrug. Auf einem menschlichen Schädel hatte ein bis dato unbekannter Fälscher einen Orang-Utan-Kiefer montiert. Der Traum von England als Wiege der Menschheit war dahin.

Die Piltdown-Fälschung blockierte jahrzehntelang die Anerkennung von Australopithecus africanus als echten Vorläufer des Menschen. Darts 1929 eingereichte umfangreiche Monografie über seinen Fund lehnte die Royal Society of London ab. Frustriert zog sich der Forscher in sein Johannesburger Institut zurück und widmete sich fortan dem Aufbau seiner anatomischen Sammlung.

Der Ritterschlag

Doch das Kind von Taung hatte beim südafrikanischen Arzt Robert Broom (1866–1951) das Interesse für Paläoanthropologie geweckt. In den folgenden Jahren machte er in Südafrika spektakuläre Fossilfunde: 1936 entdeckte sein Team in der Kalksteinhöhle Sterkfontein Schädelüberreste eines ausgewachsenen Homininen, den Broom Plesianthropus transvaalensis nannte. 1938 stieß die Arbeitsgruppe an der Fundstelle Kromdraai auf Fossilien, die als Paranthropus robustus in die Geschichte eingingen. 1947 beschrieb Broom abermals einen Schädel aus Sterkfontein als Plesianthropus transvaalensis. Dieser Fund, der den Spitznamen »Mrs. Ples« verpasst bekam, da es sich um ein weibliches Individuum gehandelt haben soll, brachte schließlich die Wende. Jetzt konnte niemand mehr daran zweifeln, dass in Südafrika tatsächlich einst Vorläufer des Menschen existiert hatten. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass »Mrs. Ples« wohl männlich war; und heute gilt das Individuum als weiteres Exemplar von Australopithecus africanus.

Replik des Schädels von »Mrs. Ples« (Australopithecus africanus)
Mrs. Ples | 1947 entdeckte Robert Broom in der südafrikanischen Höhle Sterkfontein einen 2,5 Millionen Jahre alten Schädel (hier eine Replik), den er Plesianthropus transvaalensis nannte. Da es sich scheinbar um ein weibliches Individuum handelte, trug das Fossil lange den Spitznamen »Mrs. Ples«. Später stellte sich heraus, dass es sich um ein männliches Exemplar von Australopithecus africanus handelte.

Als schließlich 1947 der britische Anatom Wilfrid Le Gros Clark (1895–1971) auf dem Panafrikanischen Kongress für Frühgeschichte in Nairobi die Entdeckungen von Dart und Broom ausdrücklich würdigte, kam das einem Ritterschlag gleich. Noch im selben Jahr räumte Darts schärfster Kritiker Arthur Keith ein: »Wie Prof. Le Gros Clark bin ich nun auf Grund der von Dr. Robert Broom vorgelegten Beweise davon überzeugt, dass Prof. Dart Recht hatte und ich Unrecht.« 2019 würdigte »Nature« Darts Veröffentlichung von 1925 als eine der zehn wichtigsten Publikationen in der 150-jährigen Geschichte der Zeitschrift.

Schwierige Datierung

Unklar blieb lange das genaue Alter der Fossilfunde. Als Australopithecus africanus ans Tageslicht kam, existierten lediglich relative Datierungsmethoden, die Geologen bereits im 19. Jahrhundert erfolgreich anwendeten. So kann man aus der Abfolge der Gesteinsschichten und durch Vergleich mit bekannten Fossilien relative Zeitskalen aufstellen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kamen absolute Datierungsmethoden auf wie die Radiometrie, die auf dem radioaktiven Zerfall bestimmter Isotope beruht. Allerdings lassen sich diese Methoden auch nicht immer anwenden, wenn sich beispielsweise – wie etwa in der Höhle von Sterkfontein – die gefundenen Fossilien nicht eindeutig den umliegenden Gesteinsschichten zuordnen lassen.

»Ich bin nun davon überzeugt, dass Prof. Dart Recht hatte und ich Unrecht«Arthur Keith

Raymond Dart erwähnt das Alter seines Fundes in seiner Fachpublikation mit keinem Wort. Heute schätzt man, dass das Kind von Taung vor vielleicht 2,3 Millionen Jahren auf Erden wandelte. Die Spezies Australopithecus africanus könnte von vor rund 3,5 bis vor 2 Millionen Jahren existiert haben.

Zum Teil noch deutlich älter sind Fossilien, die seit Darts Erstbeschreibung immer zahlreicher auftauchten und auf Namen wie Sahelanthropus tchadensis, Orrorin tugenensis, Ardipithecus ramidus oder Kenyanthropus platyops hören. Von der Gattung Australopithecus sind inzwischen ebenfalls weitere Arten wie A. anamensis, A. bahrelghazali oder A. sediba beschrieben worden. Daneben gab es noch die so genannten robusten Australopithecinen mit ihrem markanten Schädel wie Paranthropus aethiopicus, P. boisei oder P.  robustus. Die einzelnen Spezies lebten zum Teil parallel zur gleichen Zeit am selben Ort – der Stammbaum des Menschen avancierte somit zu einem üppigen Busch mit nebeneinander sprießenden und wieder absterbenden Zweigen. Eine Gemeinsamkeit teilen jedoch alle Australopithecinen: Es gab sie nur in Afrika (siehe »Diesseits von Afrika«). Charles Darwin und damit später auch Raymond Dart hatten also Recht mit ihrer Verortung der Wiege der Menschheit.

Serie 50 Jahre Lucy

Teil 1: Dezember 2024
Lucys Welt
Ann Gibson

Teil 2: Januar 2025
Lucys Entdeckung
Donald C. Johanson und Yohannes Haile-Selassie

Teil 3: Februar 2025
Der umstrittene Südaffe
Andreas Jahn

Am berühmtesten wurde der Fund, der – wie es der Zufall will – fast genau 50 Jahre nach Darts Beschreibung unter dem Spitznamen »Lucy« die Welt eroberte (siehe Teil 1 und Teil 2 der Serie). Ausgegraben aus dem Großen Afrikanischen Grabenbruch Ostafrikas, der sich als wahres Fossil-Eldorado erwies, nimmt die Spezies mit dem wissenschaftlichen Namen Australopithecus afarensis eine Schlüsselposition in der Entwicklung des Menschen ein. Mit einem geschätzten Alter von mehr als drei Millionen Jahren ist sie deutlich älter als A. africanus und gilt heute als wahrscheinlichster Urahn, aus dem später die Gattung Homo hervorgehen sollte. Und wie die berühmten Fußspuren von Laetoli in Tansania eindrücklich belegen, ging auch A. afarensis bereits aufrecht.

Ein tragisches Schicksal

Ob Australopithecus africanus ebenfalls zu den unmittelbaren Vorfahren des Menschen zählt oder lediglich eine erloschene Seitenlinie im Stammbaum darstellt, wissen wir nicht. Es gibt allerdings Hinweise über das persönliche Schicksal, welches das Kind von Taung wohl einst ereilte. Rätselhaft blieb nämlich lange, warum trotz aufwändiger Suche im Gebiet von Taung kein weiteres Australopithecus-Fossil entdeckt wurde. Der US-amerikanische Paläoanthropologe Lee Berger hegte jedoch einen Verdacht: Vielleicht lebte das Kind von Taung ja gar nicht am heutigen Fundort, sondern könnte von irgendjemand dort hingebracht worden sein. Als 2006 Bergers Kollege Scott McGraw Knochen aus den Nestern des afrikanischen Kronenadlers (Stephanoaetus coronatus) untersuchten, stellte sich heraus, dass ein überwiegender Anteil von Affen stammte. Dabei hatten die Adler spezifische Spuren an den Überresten ihrer zum Teil bis zu zehn Kilogramm schweren Beute hinterlassen.

Daraufhin schaute sich Berger den Originalschädel von Taung noch einmal genauer an. Und siehe da: Das Fossil wies tatsächlich Spuren einer Greifvogelattacke auf, was sich insbesondere an durch die Vogelkrallen verursachten Einstichlöchern an den Augenhöhlen des Schädels erkennen lässt. Das Kind von Taung wog vermutlich etwa zehn Kilogramm und könnte somit durchaus von einem Greifvogel erbeutet und weit fortgeschleppt worden sein.

Vorbild für Sciencefiction

Dass sein Fossil durch die Aufdeckung dieses tragischen Schicksals noch einmal ins Rampenlicht geriet, hat Raymond Dart nicht mehr erlebt. Er starb am 22. November 1988 in Sandton in der Nähe von Johannesburg. Als seine Entdeckung längst akzeptiert war, hatte er sich noch einmal mit Australopithecus beschäftigt. Fossilfunde von Homininen sowie großen Säugetieren wie Antilopen, Nashörnern oder Flusspferden aus der südafrikanischen Höhle Makapansgat deutete er in den 1950er Jahren als Jagdbeute der Vormenschen. Nach Darts Vorstellung handelte es sich bei Australopithecus und seinen Verwandten um erfolgreiche, aber brutale Großwildjäger, die auch nicht davor zurückschreckten, sich gegenseitig umzubringen. Mord und Totschlag als Triebfeder der menschlichen Evolution – angesichts der damals noch präsenten Schrecken des Zweiten Weltkriegs eine vielleicht naheliegende Hypothese.

Raymond Dart mit einer Rekonstruktion des so genannten Mrs.-Ples-Schädels, einem Australopithecus africanus.
Späte Anerkennung | Raymond Darts 1925 publizierte Erstbeschreibung von Australopithecus africanus lehnte die Fachwelt lange ab. Erst als weitere Homininenfossilien in Afrika auftauchten, wurde seine Entdeckung anerkannt. Auf diesem 1970 aufgenommenen Foto zeigt der Anthropologe den rekonstruierten Schädel von Mrs. Ples, ein Artgenosse des Kindes von Taung.

Darts Annahme gilt inzwischen als widerlegt. Australopithecus africanus war vermutlich ein friedlicher Geselle, der sich in lichten Wäldern vor allem vegetarisch von Blättern, Früchten und Samen ernährte und vielleicht bei Gelegenheit Fleisch zu sich nahm. Ob er dabei bereits Stein- oder Knochenwerkzeuge einsetzte, wissen wir nicht.

»Es gab wohl kaum Eltern, die stolzer auf ihren Nachwuchs waren als ich auf mein ›Taung-Baby‹ an jenem Weihnachtsfest 1924«Raymond Dart

Darts Jagdhypothese regte allerdings die Fantasie seiner Zeitgenossen an. Aufgegriffen vom britischen Sciencefiction-Autor Arthur Clarke mündete die Idee des keuleschwingenden Urmenschen in eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte: Ein als Waffe eingesetzter Oberschenkelknochen, triumphal von einem Menschenaffen in die Höhe geschleudert, verwandelt sich in einen futuristischen Satelliten im Erdorbit – festgehalten in Stanley Kubricks Filmepos »2001: Odyssee im Weltraum«.

Auch wenn Raymond Dart mit seiner Vorstellung über jagende Vormenschen wohl danebenlag, bleibt seine Leistung ein Vermächtnis der Paläoanthropologie. Indem er vor 100 Jahren die Gattung Australopithecus schuf, öffnete er ein Fenster in die Entstehungsgeschichte der Menschheit. Und das erfüllte ihn – vor allem auf Grund der späten wissenschaftlichen Anerkennung – mit Genugtuung: »Ich bezweifle, dass es Eltern gab, die stolzer auf ihren Nachwuchs waren als ich auf mein ›Taung-Baby‹ an jenem Weihnachtsfest im Jahr 1924.«

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  • Quellen

Dart, R. A.:Australopithecus africanus: The man-ape of South Africa. Nature 115, 1925

Dart, R. A., Craig, D.: Adventures with the missing link. Harper & Brothers, 1959

Johanson, D., Blake, E.: Lucy und ihre Kinder. Elsevier, 2006

Lewin, R.: Bones of contention. Controversies in the search for human origins. Touchstone, 1988


Literaturtipp

Die Evolution des Menschen. Unsere faszinierende Vergangenheit. Spektrum Spezial Biologie – Medizin – Hirnforschung 4/2022
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