17. Juni 1953: Der Tag, an dem die DDR fast unterging
An einem frühsommerlichen Tag des Jahres 1953 herrscht im Berliner Haus der Ministerien an der Leipziger Straße, dem heutigen Bundesfinanzministerium, eine zum Zerreißen angespannte Atmosphäre. Draußen vor dem Gebäude, in dem die Regierung der DDR ihren Sitz hat, haben sich zehntausende wütende Menschen versammelt und belagern die Schaltzentrale der verhassten SED-Macht. Sie fordern freie Wahlen, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Absetzung der Regierung des selbst ernannten Arbeiter-und-Bauern-Staats.
An diesem Tag bleibt es nicht bei Worten. Es kommt zu Ausschreitungen, Propagandaplakate werden heruntergerissen und verbrannt. Der Protest nimmt immer offener Züge eines Aufstands an. »Unter dem Ansturm der Demonstranten fiel die Diktatur der SED wie im Zeitraffertempo zusammen«, schreibt der Historiker und ehemalige Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, in seinem Buch über den 17. Juni 1953. »Volkspolizisten entledigten sich ihrer Uniformen und mischten sich unter die Menge, SED-Mitglieder entfernten ihre Parteiabzeichen, Gewerkschaftsangehörige warfen ihre Ausweise auf die Straße.«
Ein Teil der aufgebrachten Menge schafft es, die Sicherheitskräfte vor dem Haus der Ministerien zu überwältigen und bis ins zweite Stockwerk vorzustürmen, wo die Protestler zurückgedrängt werden. Nicht weit davon entfernt erklimmen Demonstranten gegen 11.20 Uhr das Brandenburger Tor und reißen die rote Fahne herunter – das Symbol der sowjetischen Besatzungsmacht und ihrer Marionettenregierung. Für einen kurzen Augenblick, für einen Nachmittag, sieht es so aus, als würde die DDR nicht einmal vier Jahre nach ihrer Gründung zusammenbrechen, als sei die Wiedervereinigung schon an diesem 17. Juni 1953 zum Greifen nah.
Doch die politische Realität ist eine andere. Der Volksaufstand, der vor genau 70 Jahren nicht nur Berlin, sondern das gesamte Gebiet der DDR erfasst, wird brutal von sowjetischen Panzern und Soldaten niedergeschlagen, das SED-Regime für weitere 36 Jahre künstlich am Leben gehalten. Damit blieb auch diese deutsche Revolution unvollendet. Aber war es überhaupt eine Revolution oder doch eher ein Aufstand unzufriedener Arbeiter? War es gar ein vom Westen gesteuerter Putschversuch? Bereits kurz nach den Ereignissen beginnt auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs die historische Deutung und politische Instrumentalisierung des Geschehenen. Die Frage, welche Rolle dem 17. Juni in der deutschen Geschichte und Gedenkkultur zukommen sollte, wird bis heute diskutiert. Unstrittig ist, dass es sich um die erste große Erhebung gegen eine sozialistische Diktatur im Ostblock handelte. Der Historiker Rolf Steininger spricht darum in seinem Buch »17. Juni 1953: Der Anfang vom langen Ende der DDR« von einem »Schlüsselereignis in der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte«. Hubertus Knabe bezeichnet den Aufstand als »erste Massenerhebung gegen ein totalitäres Regime in der Geschichte«.
Ulbricht lenkt die junge DDR direkt in Richtung Ruin
Wie hatte es so weit kommen können, dass die SED plötzlich mit dem Rücken zur Wand stand? Die Gründe waren ebenso wirtschaftlicher wie politischer Natur. Der verlorene Weltkrieg hatte dem jungen Arbeiter-und-Bauern-Staat enorme Kosten hinterlassen. Laut Knabe zahlte die DDR für Reparationen und Besatzung im Jahr 1952 etwa 20 bis 28 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts an die Sowjetunion.
Dabei hatte die Führung des Landes genügend eigene kostspielige Ideen, wie etwa der 1951 verabschiedete – und laut Steininger überambitionierte – erste Fünfjahresplan. Hinzu kam der von Stalin geforderte Aufbau einer eigenen DDR-Armee. Kurzum: Es fehlte überall an Geld. Infolgedessen verordnete Walter Ulbricht, der erste Mann im Staat, der DDR ein »Regime der Sparsamkeit«. Und das bedeutete vor allem: neue Steuern und Einschnitte bei zahlreichen Sozialleistungen.
Parallel dazu wurde ab Juli 1952 der »Aufbau des Sozialismus« extrem forciert. Ungehemmt und rücksichtslos wurde in den kommenden Monaten die Umwandlung der DDR in eine sozialistische Gesellschaft vorangetrieben. Im Eiltempo erfolgte die Verstaatlichung der Industrie sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft. Innerhalb eines Jahres verloren mehr als 24 000 Landwirte ihren Grund und Boden, schreibt Knabe.
In ihrem Feldzug gegen die Privatwirtschaft überzog die SED Handwerker und Unternehmer, Rechtsanwälte, Hausbesitzer, Gastwirte und Händler mit neuen Steuern. Wer mehr als fünf Beschäftigte in seinem Unternehmen hatte, bekam für sich und die Familie keine Lebensmittelmarken mehr und wurde buchstäblich ausgehungert.
Die Folgen dieser Politik ließen nicht lange auf sich warten. Schon Ende 1952 waren deutliche Produktionsrückgänge sowie eine drastische Zunahme an Bankrotten zu verzeichnen. In den ersten Monaten des Jahres 1953 sei es zu erheblichen Versorgungsengpässen gekommen, schreibt Torsten Diedrich in seinem Buch »Waffen gegen das Volk – Der 17. Juni 1953 in der DDR«.
Während die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und der Lebensstandard in der DDR rapide sanken, nahmen die Repressionen durch das Regime stetig zu. Innerhalb eines Jahres wurde der Personalstand des Ministeriums für Staatssicherheit, der Stasi, verdoppelt und ein Heer neuer Informanten aufgestellt. Schon harmloseste Kritik an der Regierung konnte zu einer Verhaftung und Verurteilung führen. Die Fluchtbewegungen nach Westen nahmen dramatisch zu.
Stalins Nachfolger zitieren das DDR-Regime nach Moskau
Mit seiner am Sowjetdiktator Josef Stalin geschulten Politik hatte Ulbricht in nicht einmal einem Jahr die wirtschaftliche und soziale Lage in der DDR fulminant verschlechtert und nahezu alles getan, um die Unzufriedenheit mit dem Regime in der Bevölkerung anzuheizen.
Dann kam es zu einer Zäsur: Am 5. März 1953 starb Stalin in seiner Datscha bei Moskau. Seine engsten Gefolgsleute, allen voran Georgi Malenkow, Lawrenti Beria und Nikita Chruschtschow, übernahmen das Ruder. Ihr prüfender Blick richtete sich auch nach Ost-Berlin: Ende Mai erhielt die SED die Aufforderung, sich bald in Moskau einzufinden, was kurz darauf geschah.
Aus den handschriftlichen Notizen, die sich Ministerpräsident Otto Grotewohl während des Treffens machte, wird deutlich, dass der Besuch in Moskau für die SED-Delegation, der auch Ulbricht angehörte, äußerst unangenehm gewesen sein muss. Wie Schuljungen mussten sich Ulbricht und Grotewohl zurechtweisen lassen, dass sie drauf und dran seien, das ganze Land an die Wand zu fahren. »Wenn wir jetzt nicht korrigieren, kommt eine Katastrophe«, zitiert Grotewohl in seinen Aufzeichnungen Malenkow. »Ulbricht und Genossen erhielten den Auftrag, noch in der Nacht aufzuschreiben, mit welchen Maßnahmen sie aus der völlig verfahrenen Lage herauszukommen gedachten. Doch das hektisch entworfene Papier wurde ihnen am nächsten Morgen von Beria quasi vor die Füße geworfen«, beschreibt der Historiker Thomas Flemming im Buch »Kein Tag der deutschen Einheit – 17. Juni 1953« die Moskauer Ereignisse.
Die Sowjetpolitiker gaben den deutschen Funktionären schließlich ein Papier mit, das eine Reihe von Sofortmaßnahmen nannte und darauf abzielte, zahlreiche Entscheidungen der letzten Monate rückgängig zu machen oder zumindest zu entschärfen. Wieder daheim, fand Ulbricht seine Position deutlich geschwächt. Am 9. Juni kam es im Politbüro, dem höchsten Führungsgremium der Partei, zu einer Generalabrechnung mit seinem Politikstil. Es war die Stunde der politischen Gegner des SED-Chefs. Vieles deutete darauf hin, dass Ulbrichts Tage an der Spitze des Staates gezählt waren.
Ein unscheinbarer Streitpunkt tritt die Protestlawine los
Unterdessen wurde der neue, von Moskau verordnete Kurs rasch umgesetzt in der Hoffnung, dadurch das Ruder herumreißen zu können. Die SED gab sich reumütig. Aus heutiger Sicht erscheint es paradox, dass ausgerechnet in dieser Situation, als alles darauf hindeutete, dass sich die Geschicke in der DDR nun zum Besseren wenden würden, der Funke entzündet wurde, durch den das Regime beinahe sein Ende gefunden hätte. Vermutlich reichten die von der SED-Spitze vorgebrachten Beschwichtigungen einfach nicht, um die allgemeine Unzufriedenheit mit dem System und das viele Unrecht, das zuvor geschehen war, auszulöschen.
So genügte ein eher unscheinbarer Auslöser, um die Massenproteste loszutreten. Auf der Liste der Maßnahmen, deren Rücknahme Moskau forderte, stand eine ausdrücklich nicht: die bereits im Mai beschlossene Erhöhung der Arbeitsnormen in allen volkseigenen Betrieben um durchschnittlich zehn Prozent. Faktisch kam das einer zehnprozentigen Lohnkürzung gleich. Die Berliner Bauarbeiter, die an der neuen sozialistischen Prachtstraße, der Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee), sowie am Krankenhaus Friedrichshain arbeiteten, wollten sich nicht damit abfinden, dass es trotz des nun eingesetzten politischen Tauwetters bei den Kürzungen bleiben sollte.
Sie entschieden sich am 15. Juni, einen Brief an Ministerpräsident Grotewohl zu schreiben, in dem sie um Rücknahme der Normerhöhung baten und Grotewohl aufforderten, bis »spätestens morgen Mittag« Stellung zu beziehen. Eine Antwort blieb jedoch aus. Dafür tauchten am nächsten Morgen Gewerkschaftsfunktionäre auf der Baustelle auf, die erklärten, dass an den Normerhöhungen nicht zu rütteln sei. Ein Artikel in einer bekannten Gewerkschaftszeitung, der an diesem Tag erschien und in dem die Normerhöhung als »in vollem Umfang richtig« bezeichnet wurde, schürte die Wut der Bauarbeiter noch mehr. Und so entschieden sie sich, an diesem 16. Juni ihren Protest auf die Straße zu tragen. Das Ziel war zunächst die Zentrale des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds (FDGB) an der Straße Unter den Linden. Anschließend zog die Menge weiter zum Haus der Ministerien, dem Sitz der Regierung.
»Jetzt können wir endlich sagen, was wir sagen wollen und was uns verboten war zu sagen: Wir fordern den Rücktritt der Regierung und freie geheime Wahlen!«»Hanne«, Protestierer, Bauarbeiter
Schnell zeigte sich, dass der Frust nicht nur bei den Bauarbeitern groß war. Der Strom der Unzufriedenen, der sich durch die Innenstadt zog, wuchs unaufhörlich an, da sich unterwegs spontan Menschen aller möglichen Berufe und Schichten anschlossen, wie Knabe schildert. So wurde aus ein paar hundert Bauarbeitern, die im Berliner Osten gestartet waren, eine bunte Menge von etwa 10 000 Demonstranten, die am Nachmittag lautstark vor der Regierungszentrale forderten, mit Ulbricht und Grotewohl zu sprechen. Doch die ließen sich nicht blicken. Stattdessen kam nach einiger Zeit Industrieminister Fritz Selbmann heraus, um beschwichtigend auf die Protestierenden einzureden und schließlich zu verkünden, dass die Normerhöhung rückgängig gemacht werde.
Die Menge fordert den Rücktritt der Regierung
In dem Buch »Der 17. Juni – Zehn Erlebnisgeschichten von Personen in verschiedenen Brennpunkten des Aufstandes« hat der Publizist und Gründer des Berliner Mauermuseums Rainer Hildebrandt die bemerkenswerte Szene, die sich dann abspielte, aus der Perspektive des unmittelbaren Zeitzeugen Horst Schlafke wiedergegeben: »Hanne, der Steinträger vom Block C-Süd, stützte sich auf Schlafkes Schulter und stieg auf den Tisch. Mit halbnacktem Oberkörper stand er neben dem wohlbekleideten Minister Selbmann und schob ihn mit einer einzigen Handbewegung zur Seite. […] ›Wir stehen hier nicht nur wegen der Normen!‹ Und zu Selbmann: ›Wir stehen für ganz Ost-Berlin und für die ganze Sowjetzone. Was du hier siehst, ist eine Volkserhebung!‹« Während der Minister wortlos unter brandendem Jubel vom Rednertisch stieg, fuhr der Bauarbeiter fort: »Jetzt können wir endlich sagen, was wir sagen wollen und was uns verboten war zu sagen: Wir fordern den Rücktritt der Regierung und freie geheime Wahlen!«
Offenbar sprach der Arbeiter damit der versammelten Volksmenge aus der Seele. Da Ulbricht und Grotewohl sich noch immer nicht der Masse gestellt hatten, wurde für den kommenden Tag zum Generalstreik aufgerufen. Kurzerhand kaperten einige Demonstranten einen Lautsprecherwagen des Kommunistischen Kulturbunds und verbreiteten darüber die Nachricht vom Generalstreik. »Von allen Seiten strömten Menschen herbei und strahlten den Lautsprecherwagen an, als sei er der Befreier in Person«, gibt Hildebrandt Schlafkes Erinnerungen wieder. »Eine Frau weinte. Sie glaubte, die Regierung sei bereits gestürzt. Sie war nicht die Einzige.«
Tausende Menschen strömen Richtung Stadtzentrum
Weder begann noch endete der Volksaufstand am 17. Juni, doch an diesem Tag erreichten sämtliche Ereignisse ihren Höhepunkt. Von ihrem Treffpunkt am Strausberger Platz strömten die Berliner Arbeiter morgens auf unterschiedlichen Routen in Richtung Stadtzentrum. Wieder schlossen sich tausende Menschen an. Auf den Transparenten und in den Sprechchören war von den Normerhöhungen kaum noch die Rede. Es ging jetzt direkt gegen die Herrschaft der SED, gegen die Diktatur, Ulbricht, die sowjetische Besatzungsmacht, die deutsche Teilung. Die Westberliner Polizei schätzte die Masse, die sich gegen 9.40 Uhr vor dem Haus der Ministerien versammelt hatte, auf etwa 60 000 Demonstranten, gibt Knabe an. Insgesamt sollen sich in Berlin an diesem Tag etwa 100 000 Menschen am Aufstand beteiligt haben.
Und erstaunlicherweise blieb der Protest nicht auf die Hauptstadt beschränkt. Die Kunde von den Geschehnissen vor dem Haus der Ministerien am Tag zuvor verbreitete sich über Nacht im ganzen Land und drang selbst in die abgelegensten Dörfer. Nahezu überall berieten sich am Morgen des 17. Juni die Arbeiter in ihren Fabriken und auf den Baustellen, ob sie in den Ausstand treten und protestieren sollten. Handelte es sich also um einen Arbeiteraufstand, wie es lange Zeit die in der BRD vorherrschende Deutung war? Der Protest ging von ihnen aus, doch es beteiligten sich ebenso Büroangestellte, Handwerker und viele andere Berufe. Eher zurückhaltend blieben dagegen Studenten, Akademiker und Intellektuelle. Steininger spricht von mehr als 500 Orten in der DDR, in denen es an diesem Tag zu Unruhen kam. Knapp 600 Betriebe seien bestreikt worden, zwischen einer halben und einer Million Menschen sollen sich an den Ereignissen beteiligt haben. Das Epizentrum bildete dabei der Bezirk Halle, in dem knapp 150 000 Menschen in mehr als 100 Ortschaften auf die Straße gingen.
In der Forschung ist wiederholt der Versuch unternommen worden, die Ausbreitung des Aufstands in eine Systematik zu zwängen. Die Volkserhebung habe sich laut zwei bekannten Modellen etwa in Ringwellen oder in drei Phasen ereignet. Die Quellen in den DDR-Archiven, die seit der Wende für die Wissenschaft zugänglich sind und mittlerweile in zahlreichen Studien ausgewertet wurden, legten jedoch nahe, dass von einer »vereinfachten Schematisierung« abzusehen sei, mahnt Diedrich. Vielmehr lasse sich daraus eine »zeitliche und regionale Eigendynamik« für alle Orte, in denen es am 17. Juni zur Revolte kam, ableiten. Tatsächlich entwickelte sich dieser Tag in der DDR höchst unterschiedlich. Während es in manchen Städten und Gemeinden völlig ruhig blieb und man wie gewohnt zur Arbeit ging, wurde in anderen, etwa in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) oder Potsdam, gestreikt, aber nicht im großen Stil protestiert. In einigen Städten kam es hingegen zu großflächigen Demonstrationen, die mancherorts, so in Dresden und Cottbus, einigermaßen friedlich verliefen.
Anderswo, wie in Leipzig, Gera oder Magdeburg, kam es hingegen zu Gewaltausbrüchen. Dort nahmen die Proteste tatsächlich Züge eines Volksaufstands an. Der Zorn der Massen zielte, so Knabe, in erster Linie auf die »symbolische Vernichtung der Parteidiktatur« ab. Dies geschah, indem Fahnen, Transparente und so genannte Propagandakioske zerstört wurden. Es kam unter anderem zur Erstürmung von lokalen Partei- und Stasizentralen, Gewerkschaftshäusern, Polizeistationen, Zeitungsredaktionen und Gefängnissen. 1317 Häftlinge wurden am 17. Juni aus neun Gefängnissen befreit, schreibt Steininger. Nicht alle davon saßen wegen politischer Vergehen.
Mancherorts setzen Aufständische die Repräsentanten des Staats fest
Wahrhaft revolutionäre Züge nahm der Aufstand in Halle, Bitterfeld und Görlitz an, wo es den renitenten Bürgern tatsächlich gelang, für wenige Stunden die Macht zu ergreifen. In Görlitz etwa war gleich zu Beginn der Proteste der SED-Bürgermeister abgesetzt und in Fesseln gelegt worden. Die Verwaltung der Stadt übernahm ein 20-köpfiges Streikkomitee, das sogleich einen neuen Polizeichef einsetzte und eine Bürgerwehr bildete, um Plünderungen zu verhindern. Flemming gibt in seinem Buch die Erinnerung eines Mitglieds der Streikleitung wieder: »Als wir dann ins Rathaus zurückkamen, erreichten uns verschiedene Meldungen, dass die Post besetzt war, das Zuchthaus ist besetzt von unseren Leuten, der Bahnhof ist besetzt, außerhalb lag ein Flugplatz, der von unseren Leuten besetzt war, so dass wir sagen konnten: Um 13 Uhr hatten wir die Stadt in unseren Händen.« Etwa anderthalb Stunden später versammelten sich rund 30 000 Menschen auf dem Görlitzer Obermarkt. Ein weiterer Zeitzeuge erinnerte sich später: »Es war eine euphorische Stimmung, unglaublich freiheitlich. Und jeder war sicher: Es ist heute Abend eine neue Regierung da. Es wird eine freiheitliche Demokratie geben. Es ist eigentlich vorbei mit der DDR. Obwohl die Russen schon eingegriffen hatten.«
In der Tat dröhnten zu diesem Zeitpunkt bereits in den Straßen die Lautsprecherdurchsagen, die den Ausnahmezustand verkündeten. Gegen 16 Uhr tauchten die ersten Militärfahrzeuge in der Görlitzer Altstadt auf. In Berlin waren bereits um kurz vor zwölf Uhr sowjetische Panzer vor dem Haus der Ministerien aufgefahren und hatten die Menge auseinandergetrieben. Eine Stunde später fielen am Potsdamer Platz die ersten Schüsse.
Während die DDR-Regierung am 17. Juni völlig paralysiert war, hatte man in Moskau schon am Vorabend die Gefahr richtig eingeschätzt. Die Entwicklung, vor der die Sowjetführer die SED-Genossen keine zwei Wochen zuvor so eindringlich gewarnt hatten, war eingetreten und sollte, so die Anweisung, mit militärischer Gewalt im Keim erstickt werden. In 13 Bezirks- und 51 Kreisstädten wurde laut Steininger der Ausnahmezustand verhängt, in 167 von 217 Stadt- und Landkreisen galt das Kriegsrecht. Auch in Görlitz endeten alle Freiheitsträume mit dem Einrücken der Sowjets. Um 17.30 Uhr war die neue Stadtregierung schon wieder aus dem Rathaus vertrieben.
Mindestens 55 Menschen werden von Sowjets und Volkspolizei erschossen
In dem von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur herausgegebenen Buch »Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953« werden 55 Todesopfer genannt, die durch die Quellen belegt seien. Manche Studien nennen die Zahl von 125 Toten. Die meisten starben durch Schüsse sowjetischer Soldaten oder der Volkspolizei. Darunter waren auch Passanten und Zuschauer, die sich nicht aktiv an den Unruhen beteiligt hatten, selbst 15-Jährige wurden erschossen. Trotzdem kam es auch in den darauf folgenden Tagen und Wochen noch zu vereinzelten Streiks und Protesten.
Eine vermutlich geistig verwirrte Frau wurde zur Kronzeugin der DDR-Propaganda
Da die sowjetische Besatzungsmacht den Auftrag hatte, ein Exempel zu statuieren, wurden mindestens fünf Menschen mehr oder weniger willkürlich standrechtlich zum Tode verurteilt und erschossen. Zu den zwei von DDR-Behörden zum Tode Verurteilten gehörte eine wahrscheinlich geistig verwirrte Frau, die als Erna Dorn bekannt geworden ist, deren tatsächliche Identität aber bis heute ungeklärt ist. Dorn war bei einer Gefängniserstürmung in Halle an der Saale frei gekommen, wo sie in Haft saß, weil sie sich selbst fälschlicherweise bezichtigt hatte, Aufseherin im KZ Ravensbrück gewesen zu sein. Die Frau, die ihren Vernehmern alles erzählte, was diese hören wollten, eignete sich damit perfekt als Kronzeugin für das Narrativ, das die DDR-Regierung vom 17. Juni entwarf.
Schon am nächsten Tag erschien im SED-Organ »Neues Deutschland« eine Bekanntmachung der Regierung, in der die Unruhen als »Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer« aus der BRD bezeichnet wurden. Der Propagandaapparat ging in der Folge noch weiter und erfand die Geschichte des von langer Hand geplanten »Tag X«. Schon am 22. Juni kam es zu einem Schauprozess gegen Dorn, in dem sie freigebig gestand, eine tragende Rolle beim Tag X gespielt zu haben. In Wahrheit gab es, wie Knabe betont, keinen einzigen Beweis für irgendeine der Taten, derer die »Kommandeuse von Ravensbrück« bezichtigt wurde. Aus den seit der Wende zugänglichen Akten geht hervor, dass auch die Stasi selbst genau wusste, dass Dorns Geständnisse erlogen waren. Dennoch wurde sie zum Tode verurteilt und am 1. Oktober 1953 in Dresden mit dem Fallbeil hingerichtet. 1994 wurde das Urteil vom Landgericht Halle aufgehoben.
Aus dem Westen kam keinerlei Unterstützung
Die Erzählung vom gescheiterten »faschistischen Putschversuch« blieb bis zum Ende der DDR die einzige offiziell gültige Deutung der Ereignisse des 17. Juni. Dass es sich um einen bloßen Propagandacoup handelte, bewies vor allem das Verhalten des Westens an jenem Tag. Denn sowohl die BRD als auch die Westmächte standen den Aufständischen in keiner Weise bei. Im Gegenteil, Politiker der BRD riefen die Bevölkerung in der DDR dazu auf, den Anweisungen der Sowjets Folge zu leisten und auf Gewalt zu verzichten. In Westberlin wurde alles unternommen, um zu verhindern, dass sich größere Teile der eigenen Bevölkerung mit den Protestierenden im Ostteil der Stadt solidarisierten. Die Amerikaner ließen dafür in ihrem Sektor sogar Panzer auffahren, um die Grenze abzuriegeln, berichtet Flemming. Der britische Premierminister Winston Churchill lobte gar ausdrücklich das Durchgreifen der Sowjets, »um anarchische Zustände zu verhindern«.
Im Westen wird der »Tag der deutschen Einheit« zum »Tag des betretenen Wegsehens«Michael Stürmer, Historiker
In Wahrheit hatte der Westen weder ein Interesse daran, dass die Lage in der DDR eskalierte, noch glaubte er an die Möglichkeit eines erfolgreichen Aufstands. In der BRD beschränkte sich die Solidarität mit dem ostdeutschen Widerstand auf symbolische Gesten. Am 22. Juni beschloss der Berliner Senat, die große Magistrale, die über die Siegessäule auf das Brandenburger Tor – und damit auf die innerdeutsche Grenze – zulief, in »Straße des 17. Juni« umzubenennen. Vom Bundestag wurde Anfang Juli beschlossen, dass der 17. Juni künftig als »Tag der Deutschen Einheit« der nationale Feiertag der Bundesrepublik sein sollte. Zehn Jahre später folgte die zusätzliche Erhebung zum Gedenktag. Durch derlei Maßnahmen ließ sich ohne viel Aufwand der eigene Wille zur Wiedervereinigung sowie die moralische Überlegenheit gegenüber dem Systemrivalen im Osten bekräftigen. Doch die Erinnerung an den Aufstand selbst, in der DDR unterdrückt, verblasste auch im Westen zunehmend. Zum 30-jährigen Jubiläum 1983 bezeichnete der Historiker Michael Stürmer den Feiertag als »Tag des betretenen Wegsehens und der angestrengten Beschäftigung mit der Freizeit«.
Flemming kommt zu dem Schluss, dass den Ereignissen rund um den 17. Juni etwas »Tragisch-Paradoxes« anhänge, denn die Aufständischen erreichten keines ihrer Ziele. Die Rebellion bewirkte in vielen Fällen sogar das Gegenteil des Erhofften. Die SED setzte fortan auf eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Zwar wurden die Anforderungen an die Arbeiter herabgesetzt und die Preise in den staatlichen Geschäften gesenkt. Auch reduzierten die Sowjets die Besatzungskosten und verzichteten auf weitere Reparationen. Um die Versorgungslage in der DDR zu verbessern, kam es zu großen Lebensmittellieferungen aus der Sowjetunion, schreibt Steininger.
Doch ebenso wurde der Unterdrückungs- und Sicherheitsapparat deutlich ausgebaut, um künftige Aufstände zu verhindern. Im Zuge der Verhaftungswelle, die auf den 17. Juni folgte, wurden laut Flemming bis Januar 1954 mehr als 1500 Menschen für ihre Beteiligung an den Unruhen verurteilt. Ulbricht, dessen politisches Ende schon besiegelt schien, schaffte es, seine Position wieder zu festigen und sich seiner internen Widersacher zu entledigen. Und auch die deutsche Teilung, deren Überwindung ein erklärtes Ziel vieler Demonstranten gewesen war, vertiefte sich als Folge des Aufstands. Denn Bundeskanzler Konrad Adenauer nutzte das allgemeine Erschrecken über den 17. Juni, um die BRD noch enger an die Westmächte zu binden. Seine Politik der Westintegration ließ die Aussichten auf Wiedervereinigung in noch weitere Ferne rücken.
Für die SED blieb der 17. Juni jedoch ein Trauma, das sie an die Zerbrechlichkeit ihrer Macht erinnerte. Zu jedem Jahrestag herrschte angespannte Nervosität, ob es zu Unruhen kommen würde. Die Stasi-Bezirksleitungen waren angewiesen, jegliche »Provokationen« zu unterdrücken, berichtet Knabe. Man fürchtete sich selbst davor, dass Wandergruppen sowie Hundezüchter- oder Kleingartenvereine an diesem Tag zur »Tribüne für Provokateure« werden könnten. Am Ende sollte die schlimmste Befürchtung des Regimes wahr werden. Im Herbst 1989 gingen wieder zigtausende Menschen auf die Straße, doch diesmal blieben die sowjetischen Panzer in den Kasernen. Man kann, wie Steininger, die friedlichen Proteste, die 1989 den Untergang der DDR einläuteten, als die Vollendung der unvollendeten Revolution von 1953 betrachten. Stasi-Chef Erich Mielke interessierte jedenfalls in einer Dienstbesprechung zu Beginn der Demonstrationen vor allem eines: »Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?«
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