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Unerwarteter Zyklus: 50 Jahre altes Rätsel um chemische Schwingungen gelöst

Bei einer eigentlich einfachen Reaktion treten seltsame Spannungsschwankungen auf. Die Ursache ist ein neuer Stoff, der zyklisch entsteht und wieder vergeht.
Ein Blick zwischen die hexagonalen Kohlenstoffschichten des Graphits.
Graphit ist eigentlich nur ein Stapel aus Graphenschichten. In die Zwischenräume dieser Lagen lässt elektrischer Strom Schichten aus Säure eindringen, die den Kohlenstoff reagieren lassen.

Eigentlich ist es leicht, das begehrte zweidimensionale Material Graphenoxid herzustellen. Man legt an Graphit, der aus gestapelten Lagen von Graphen besteht, eine Spannung an, taucht ihn in Säure und wartet, bist die einzelnen Schichten komplett oxidiert wurden. Doch 1982 stellten Fachleute fest, dass bei dieser eigentlich simplen Reaktion etwas Merkwürdiges geschieht: Die Spannung steigt und fällt zyklisch, und niemand wusste so recht, warum. Nun präsentiert eine Arbeitsgruppe um Bartosz Gurzęda eine überraschende Lösung für dieses 50 Jahre alte chemische Rätsel. Wie das Team in der Fachzeitschrift »Angewandte Chemie International Edition« berichtet, läuft im Graphit ein bisher unbekannter Typ von Reaktion ab, bei der bei jedem Schwingungszyklus ein Zwischenprodukt entsteht und wieder verschwindet. Es ist die erste bekannte chemische Reaktion, bei der ein Festkörper periodisch entsteht und wieder vergeht.

Oszillierende chemische Reaktionen, bei denen Reaktionspartner nicht bloß gleichmäßig entstehen oder verbraucht werden, sondern zyklisch entstehen und verschwinden, sind in lebenden Systemen allgegenwärtig. In einfachen chemischen Prozessen mit wenigen Stoffen und Reaktionen, wie sie zum Beispiel in der Technik vorkommen, sind sie dagegen sehr selten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Belousov-Zhabotinski-Reaktion, ein Schauexperiment, bei dem sich die periodischen Schwankungen in der Konzentration der Reaktionspartner in Form wandernder konzentrischer Kreise und Muster zeigen. Bei der Reaktion im Graphit dagegen entdeckte die Arbeitsgruppe um Gurzęda eine bisher unbekannte Struktur, die sich vorübergehend aus dem Graphit bildet.

Mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse beobachtete die Arbeitsgruppe, wie sich der Graphit im Verlauf der Reaktionen verändert. Der erste Schritt ist, dass sich Schwefelsäure in die Schichtstruktur des Graphits einlagert, und zwar so, dass immer auf zwei Kohlenstoffschichten eine Schicht aus regelmäßig angeordneten Schwefelsäuremolekülen folgt. Diese Struktur nennen die Fachleute Phase 2. Der Zyklus beginnt nun damit, dass die Spannung langsam zu steigen beginnt, von ungefähr 1,8 auf 2 Volt. Auf dem Höhepunkt dieses Anstiegs erwartete die Fachleute eine große Überraschung: Plötzlich entstand ein neues Material, Phase 1 genannt. Aber nur für kurze Zeit. Einige Minuten später verschwindet diese Struktur wieder, die Spannung sinkt zurück auf 1,8 Volt. Danach steigt die Spannung erneut, und das seltsame Material taucht für kurze Zeit wieder auf. Zehn solcher Zyklen beobachtete das Team im Experiment.

Die Analyse der Strukturen zeigt, dass sich die seltsame neue Phase 1 in einigen Bereichen aus Phase 2, der zuerst entstehenden Einlagerungsstruktur, bildet. Dabei kommen dann nicht mehr zwei Kohlenstoffschichten auf eine Schwefelsäureschicht, sondern es wechseln sich jeweils einzelne Schichten aus Kohlenstoff und Schwefelsäure ab. Weitere Analysen zeigen, warum Phase 1 wieder verschwindet. Wasser wandert in die Schwefelsäureschichten ein, so dass die Graphenschichten zu Graphenoxid reagieren können. Diese Reaktion verbraucht nicht nur Phase 1, sondern lässt auch die Spannung wieder sinken, wodurch sich die neu entdeckte Struktur nicht mehr bildet. Erst wenn diese Reaktion abgelaufen ist, kann die Spannung wieder so weit steigen, dass neue Bereiche von Phase 2 zu Phase 1 werden. Der mysteriöse Zyklus entsteht also dadurch, dass sich Graphenoxid aus der nun entdeckten Zwischenstufe Phase 1 bildet – Phase 1 aber nur entstehen kann, wenn diese Reaktion nicht mehr abläuft. Dadurch laufen beide Reaktionen jeweils abwechselnd ab.

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