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Sommerhitze 2022: 60 000 »unsichtbare« Tote in Europa

Bei Hitze sterben vor allem Menschen, die ohnehin wenig auffallen: Sie sind oft alt, alleinstehend und arm. Eine Arbeitsgruppe hat nun berechnet, wie viele Hitzetote es im Sommer 2022, dem bisher heißesten in Europa, wirklich gab.
Eine Seniorin sitzt in einem Sessel, im Hintergrund ein hell erleuchtetes Fenster
Allein lebende ältere Menschen mit wenig sozialen Kontakten haben das höchste Risiko, bei großer Hitze zu sterben.

Vulkane und Starkregen mögen die eindrucksvolleren Bilder liefern, die tödlichste Naturgewalt ist jedoch eine andere: Hitze. Rund 62 000 Menschen starben im Sommer 2022, dem heißesten jemals in Europa beobachteten, an den hohen Temperaturen, berichtet nun eine Arbeitsgruppe um Joan Ballester vom Barcelona Institute for Global Health. Wie das Team in der Fachzeitschrift »Nature Medicine« berichtet, starben die meisten Menschen in Italien und Spanien, rund 18 000 beziehungsweise 11 000 Menschen. In Deutschland gab es demnach etwas mehr als 8000 Todesopfer durch die hohen Temperaturen. Im »Jahrhundertsommer« 2003 starben laut Schätzungen über 70 000 Menschen in Europa an der Hitze.

2022 war in ganz Europa sehr warm und trocken, besonders um den 19. Juli herum wurden frühere Hitzerekorde in vielen Gegenden Mitteleuropas zum Teil um mehr als zwei Grad übertroffen. Dass in solchen Phasen mit anhaltend hohen Temperaturen mehr Menschen sterben, ist lange bekannt. Unklar war bisher allerdings, wie viele genau. Das Team um Ballester analysierte insgesamt rund 45 Millionen gemeldete Todesfälle aus 35 europäischen Ländern von Januar 2015 bis November 2022. Dabei stellte die Gruppe fest, dass die Übersterblichkeit im Mittel unterhalb von etwa 17 und oberhalb von etwa 19 Grad mit zunehmender Abweichung von diesem Optimum kontinuierlich steigt. Diesen Anstieg nutzte das Team wiederum, um anhand der jeweiligen Temperaturen die von der überdurchschnittlichen Hitze verursachte Übersterblichkeit im Zeitraum von dem 30. Mai und 4. September 2022 zu identifizieren.

Die auf diese Weise erhaltenen Werte haben allerdings eine größere Unsicherheit, als die exakten Zahlen suggerieren. So liegt die Zahl der Toten in Deutschland laut der Auswertung tatsächlich mit 95 Prozent Wahrscheinlichkeit im Bereich zwischen etwa 5000 und etwa 11 000 Menschen. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe weichen zum Teil auch stark von nationalen Zahlen ab. So schätzte das Robert Koch-Institut im Herbst 2022, dass in Deutschland etwa 4500 Menschen starben. In Frankreich dagegen meldeten die Behörden mehr als 10 000 Tote, doppelt so viel wie in der Analyse von Ballester und ihrem Team.

Der Grund für die hohe Unsicherheit ist, dass die menschlichen Kosten solcher Hitzekatastrophen meist unsichtbar sind. Am stärksten gefährdet sind alte, allein lebende und oft arme Menschen, deren Ableben gemeinhin buchstäblich hinter verschlossenen Türen geschieht. Entsprechend starben an der Hitze 2022 nahezu 60 Prozent mehr Frauen als Männer. Sie werden nicht nur älter als Männer, sondern sind auch überproportional oft allein lebend. Die Autoren und die Autorin der Studie schließen aus ihren Daten, dass Europa trotz Verbesserungen nach 2003 nicht wirklich gut auf große Hitze vorbereitet ist. Sowohl Hitzewarnungen als auch Präventionspläne müssten überarbeitet werden, ebenso wie Langzeitstrategien zur Anpassung an die durch den Klimawandel steigenden Temperaturen.

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