Medizinethik: Ab wann ist ein Embryo ein Embryo?
Embryonen unterliegen einem besonderen Schutz. Doch was ist eigentlich ein Embryo? Noch vor einigen Jahrzehnten war eine spezielle Definition unnötig. Die Entstehung von Leben vollzog sich fernab neugieriger Blicke im Inneren eines mütterlichen, fortpflanzungsfähigen Säugetiers. Doch die Forschung an künstlich aus Stammzellen gezeugten Embryomodellen, auch Embryoiden genannt, stellt die Frage nun akut und völlig neu.
Eine internationale Forschungsgruppe um Nicolas Rivron vom Institut für Molekulare Biotechnologie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften macht nun einen Vorschlag, ab welchem Entwicklungsschritt ein menschliches Embryomodell einem natürlich gezeugten Embryo gleichgestellt werden sollte. Dieser ist als »Perspective«-Beitrag im Fachjournal »Cell« erschienen. »Die Stammzellforschung hat die Bildung von Embryoiden ermöglicht, die in der Lage sind, sich strukturell zu organisieren«, sagte Entwicklungsbiologe und Erstautor Rivron laut einer Pressemitteilung. »Sie ähneln natürlichen Embryonen rudimentär und erreichen bereits verschiedene Entwicklungsstadien.« Die Vorschläge der Gruppe seien Teil der Bemühungen, Klarheit in die laufende Forschung zu bringen und zu bestimmen, was Modelle und Embryonen aus rechtlicher Sicht unterscheidet.
Im Jahr 2022 gelang es erstmals, aus Mäusestammzellen embryonenähnliche Strukturen in der Petrischale wachsen zu lassen. Kurz darauf führten andere Forschende Versuche durch, einen Javaneraffen-Embryoiden in den Uterus einer Leihmutter einzusetzen. Ab wann also ist ein Zellhaufen ein entwicklungsfähiger Embryo, der zu einem Fötus heranreifen kann und einem besonderen Schutz unterliegen sollte?
Ethische Leitlinien kontinuierlich verfeinern
Die verfeinerte Definition des menschlichen Embryos, die die Forscherinnen und Forscher in ihrem Beitrag entwickeln, konzentriert sich darauf, was aus ihm werden kann, und nicht darauf, wie er entstanden ist. Wörtlich schreiben sie, ein Embryo sei zu definieren als »eine Ansammlung menschlicher Zellen, die von Elementen unterstützt werden, die extraembryonale und uterine Funktionen erfüllen und die zusammen das Potenzial haben, einen Fötus zu bilden«. Der neue Vorschlag baut auf den formellen Leitlinien der Internationalen Gesellschaft für Stammzellforschung (ISSCR) auf, die 2021 herausgegeben wurden und sich mit neuen Fortschritten in diesem Bereich befassen. »Es ist wichtig, diese ethischen Leitlinien regelmäßig zu verfeinern und ethische Überlegungen schrittweise an den wissenschaftlichen Fortschritt anzupassen«, sagte Rivron.
Um jedoch herausfinden zu können, ab welchem Entwicklungsschritt – hier als »tipping point« bezeichnet – sich ein Embryomodell zu einem Fötus und damit auf die gleiche Weise wie ein natürlicher Embryo entwickeln kann, müsste dieses in eine Gebärmutter transplantiert werden. Dieser Schritt wird allerdings von der ISSCR verboten. Die Forschenden schlagen deshalb zwei alternative Ansätze zur Bestimmung dieses »tipping points« vor.
Erstens könnten landesspezifische ethische und rechtliche Rahmenbedingungen einen Zeitpunkt festlegen, ab dem Embryomodelle das Potenzial zeigen, »sich in vitro effizient und getreu der normalen Entwicklung« zu entwickeln. Zweitens könnte nach Ansicht der Autorinnen und Autoren aber auch der Vergleich mit »gleichwertigen« Tiermodellen herangezogen werden, aus denen sich nachweislich »lebende und fruchtbare Tiere« entwickelt haben, um daraus auch für menschliche Embryonen ein solches Entwicklungspotenzial abzuleiten. In Deutschland ist die Forschung an Embryomodellen bislang noch unreguliert.
Gemäß dem deutschen Embryonenschutzgesetz gilt derzeit als Embryo »bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzung zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag«. Die Erweiterung der rechtlichen Definition, wie sie die Autoren vorschlagen, umfasst dagegen auch die Umweltbedingungen und epigenetischen Faktoren, die für die Entwicklung des menschlichen Embryos notwendig sind. Das Team um Nicolas Rivron weist jedoch selbst darauf hin, dass zwar von den wissenschaftlichen Gesellschaften vorgegeben werden könne, wie die Embryonenforschung zu regeln ist, die Umsetzung und Ausgestaltung aber letztlich in der Verantwortung der lokalen Regierungen liege.
»Es muss endlich erkannt werden, dass die alte Definition – ein Embryo entsteht aus der Verschmelzung des Spermiums mit der Eizelle – nicht mehr zeitgemäß oder zumindest ausreichend ist«Michele Boiani, Embryologe am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin
»Die neue Definition ist meines Erachtens valide und überfällig und ich schließe mich der Meinung der Autoren an«, sagte Michele Boiani, Leiter der Arbeitsgruppe »Mouse Embryology« am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, gegenüber dem Science Media Center. »Es muss endlich erkannt werden, dass die alte Definition – ein Embryo entsteht aus der Verschmelzung des Spermiums mit der Eizelle – nicht mehr zeitgemäß oder zumindest ausreichend ist.« Er gibt sich jedoch skeptisch, ob wirklich ein »tipping point« bestimmt werden könne. »Wenn ich ›gezwungen‹ wäre, mich dazu zu positionieren, dann sage ich, dass der Beginn der Bildung des Nervensystems für mich eine Grenze sein könnte, die man nicht überschreiten sollte.« Das wiederum lasse sich aber schwerlich am Tiermodell bestimmen, da die verschiedenen Schwangerschaften zeitlich sehr unterschiedlich verliefen.
Ingrid Metzler, Post-Doktorandin am Department für Allgemeine Gesundheitsstudien der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Österreich, bemängelt, dass die Diskussionen über die Frage, wie Forschung reguliert und gesteuert werden solle, häufig von Ängsten über einen möglichen Missbrauch der Forschung geprägt seien. »Wir konzentrieren uns dann darauf, zu überlegen, wie man einen solchen Missbrauch verhindern kann.« Dieser Fokus trage in der Regel jedoch nicht zur Qualität der Debatte bei. »Wir brauchen keine definitive Antwort auf die Frage, was Embryomodelle sind, um zu überlegen, was wir mit ihnen machen sollen.« Die Geschwindigkeit der Forschung, deren Hochwertigkeit, und der Umstand, dass diese ständig dazu beiträgt, menschliche Biologie neu zu verstehen, seien ausreichende Gründe, diese Forschung zu regulieren.
Auch Rüdiger Behr, Leiter der Abteilung Degenerative Erkrankungen am Leibniz-Institut für Primatenforschung, merkt an, dass die Forschung an Embryoiden rasant voranschreitet. »Die aktuellen Embryomodelle haben bereits große Ähnlichkeit mit echten Embryonen.« Er verstehe die Arbeit auch als einen Hilferuf der Wissenschaft an die jeweiligen Gesetzgeber, in diesem so wichtigen Forschungsfeld zu einem von der gesellschaftlichen Mehrheit getragenen und möglichst breiten Konsens zu kommen. »Wir sollten den Autoren dankbar sein, dass sie sich dieses sehr schwierigen und komplexen Themas annehmen. Ich hoffe, dass sie damit eine breite gesellschaftliche, ethische, politische, medizinische und wissenschaftliche Debatte anstoßen und fördern.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.