Schmerzmittel: Unser täglich Aspirin?
Es war das Jahr 1897, als der deutsche Chemiker Felix Hoffmann in seinem Labor erstmals Acetylsalicylsäure (ASS) herstellte. Schnell löste sie die bis dahin als Schmerzmittel verwendete Salicylsäure ab, denn sie half ebenso gut – bei weniger Nebenwirkungen. 125 Jahre später steht ASS auf der Liste der »unentbehrlichen Arzneimittel« der Weltgesundheitsorganisation. Und Hoffmanns Wirkstoff, heute vielen unter dem Markennamen »Aspirin« bekannt, ist nach wie vor eines der meistverkauften Schmerzmittel.
Es gibt Acetylsalicylsäure als Tablette oder Granulat, als Mono- oder Kombinationspräparat – etwa mit Koffein oder Vitamin C vermengt. Alle rezeptfreien Produkte zusammen bescheren ASS einen Marktanteil von 20 Prozent unter den frei verkäuflichen Schmerzmitteln. Beliebter sind nur Ibuprofen und Paracetamol.
Acetylsalicylsäure lindert Schmerzen, hemmt Entzündungen und »verdünnt« das Blut, wie es umgangssprachlich heißt. Der Wirkstoff gehört zu den Plättchenhemmern: Er macht das Blut zwar nicht dünner, verhindert aber, dass Blutplättchen, die Thrombozyten, miteinander verklumpen. »ASS hemmt die Cyclooxygenase-1, ein Enzym, das in den Thrombozyten einen Gerinnungsfaktor produziert«, erklärt Sonja Keßler, Professorin für Pharmakologie und Toxikologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Damit sich Wunden schließen, ist es wichtig, dass das Blut gerinnt. »Doch in Blutgefäßen, im Gehirn oder im Herzen sind Blutgerinnsel gefährlich«, sagt Keßler. Bleibt ein Pfropf aus geronnenem Blut etwa im Gehirn hängen, ist das ein Schlaganfall. Verstopft der Thrombus ein Herzgefäß, bedeutet das einen Herzinfarkt.
Ärztinnen und Ärzte verschreiben Plättchenhemmer, wenn Menschen schon einen Schlaganfall oder Herzinfarkt hatten, um zu verhindern, dass erneut einer entsteht. Sekundärprophylaxe heißt das in der Fachsprache. In den deutschen Leitlinien für Ärzte und Ärztinnen wird beispielsweise die Gabe von ASS 21 bis 30 Tage nach einem leichten Schlaganfall empfohlen. Ebenso raten die Fachgesellschaften nach einem Herzinfarkt zu einer Therapie mit ASS.
Bewahrt ASS vor Demenz, Krebs und Covid-19?
Demenz: Immer wieder weisen wissenschaftliche Daten darauf hin, dass die Einnahme von ASS vor Demenz, vor allem vor Alzheimer schützen könnte. Das internationale Forschungsnetzwerk Cochrane hat jedoch »keine Evidenz gefunden, die für den Einsatz von Aspirin zur Vorbeugung spricht«. Die Daten reichen also nicht, um daraus eine Empfehlung abzuleiten; weitere Studien sind abzuwarten.
Krebs: ASS scheint das Risiko für Krebs im Dickdarm zu verringern. Ärzte raten dennoch nicht zur pauschalen Einnahme. Sven Poli, stellvertretender ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen: »So richtig haben wir noch nicht verstanden, wer von der schützenden Wirkung profitiert. Zudem ist die Frage nach der Menge nicht abschließend geklärt. Die Dosis, die eventuell täglich nötig ist, um Darmkrebs vorzubeugen, erkauft man sich mit Nebenwirkungen, die alles andere als harmlos sind.« Das Risiko für Krebs war durch ASS bei Älteren sogar erhöht.
Covid-19: Zu Beginn der Corona-Pandemie gab es Hinweise, dass niedrig dosiertes ASS Patienten vor schweren Verläufen schützt und die Überlebensrate verbessert. Die Hoffnung bestätigte sich in weiteren Studien allerdings nicht.
In den USA gehen die Empfehlungen zur Einnahme von ASS seit jeher einen Schritt weiter. Im Jahr 2002 riet die Expertengruppe US Preventive Services Task Force (USPSTF) allen Erwachsenen, deren Fünf-Jahres-Risiko einer koronaren Herzerkrankung bei mehr als drei Prozent lag, als Primärprophylaxe täglich ASS einzunehmen. Sieben Jahre später änderten sich die Empfehlungen leicht: Der USPSTF zufolge sollten nun nur noch Männer im Alter von 45 bis 79 Jahren sowie Frauen zwischen 55 und 79 pro Tag eine Tablette einnehmen, sofern ihr kardiovaskuläres Risiko das der Nebenwirkungen überstieg. Tausende Todesfälle, davon waren die Experten damals überzeugt, könnten so jedes Jahr vermieden werden.
Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner befolgten den Rat und schluckten jeden Tag ASS – bis vor Kurzem. Denn im Mai 2022 ruderte das Expertengremium weiter zurück: Nur noch 40- bis 59-Jährige mit einem mindestens zehnprozentigen Zehn-Jahres-Risiko für eine »atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankung« sollten ASS vorbeugend nehmen. Ab dem 60. Lebensjahr sei das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko dann zu ungünstig, um noch mit der täglichen Primärprävention zu beginnen. Wer unter den über-60-Jährigen bereits täglich Acetylsalicylsäure nehme, könne dies aber bis zum 75. Lebensjahr weiter tun.
Wer Gerinnungshemmer nimmt, sollte auf ASS verzichten
Wie jedes Medikament hat ASS Nebenwirkungen. »Bei einer längerfristigen Einnahme steigen das Blutungsrisiko und die Blutungsdauer, weil das Blut nicht mehr so gut gerinnt«, erklärt die Pharmakologin Keßler. »Vor allem in Magen und Darm kann es wegen ASS zu inneren Blutungen kommen.« Eines der Enzyme, die der Wirkstoff blockiert, produziert magenschützende Faktoren. Ohne sie kann die Magensäure zu Schleimhautreizungen und -verletzungen und in der Folge zu Bauchweh, Übelkeit und Erbrechen führen. »Es ist deshalb Standard, bei einer Dauertherapie zusätzlich Magensäurehemmer zu verschreiben – die natürlich selbst ebenfalls Nebenwirkungen haben«, berichtet Keßler weiter.
Weil ASS Natrium und Wasser im Körper zurückhält, verringert sich die Nierendurchblutung. »Aus diesem Grund sollten Menschen mit Nierenerkrankungen mit ihrem Arzt besprechen, ob sie ASS nehmen dürfen«, rät die Pharmakologin. Weil unter der Einnahme der Harnsäurespiegel steigt, gelte dasselbe für Gichtpatienten. Nach hohen Dosen könne es zu neurologischen Symptomen kommen, erklärt sie: Ohrensausen, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Benommenheit, Schwindel, Verwirrung. Für Menschen mit Asthma kann der Wirkstoff ebenfalls gefährlich sein, da er die Bronchienverengung verstärkt.
Immerhin, mit Lebensmitteln hat ASS keine Wechselwirkungen, abgesehen davon, dass der gleichzeitige Konsum von Alkohol das Blutungsrisiko erhöht. Die gleichzeitige Einnahme anderer Wirkstoffe kann ebenfalls gefährlich werden: Weil Ibuprofen und viele weitere Schmerzmittel die gerinnungshemmende Wirkung von Aspirin schwächen, darf man nie beide zusammen einnehmen. Wer bereits Gerinnungshemmer nimmt, sollte auf Acetylsalicylsäure verzichten, da es die blutverdünnende Wirkung verstärkt. »Blutdrucksenker wirken schlechter, und auch mit Gicht-, Diabetes- und Rheumamitteln gibt es Wechselwirkungen«, ergänzt Keßler. Werdende Mütter sollten ASS vor allem im letzten Drittel der Schwangerschaft nicht mehr nehmen. Für Kinder und Jugendliche ist das Mittel ebenfalls tabu, sagt die Professorin für Pharmakologie: »Bei ihnen kann es zum Reye-Syndrom kommen, das mit Hirn- und Leberschäden einhergeht.«
Primär- und Sekundärprophylaxe, was ist das?
Unter die Primärprophylaxe fallen Maßnahmen, die eine Erkrankung verhindern sollen. Zur Primärprophylaxe von Herzinfarkt und Schlaganfall zählen beispielsweise Medikamente, die den Blutdruck oder den Cholesterinspiegel senken.
Als Sekundärprophylaxe bezeichnen Ärzte Maßnahmen, die abwenden sollen, dass eine Krankheit erneut auftritt oder fortschreitet. Nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall nehmen viele Menschen Gerinnungshemmer, damit es nicht noch einmal zu so einem lebensbedrohlichen Ereignis kommt.
Wegen der »gar nicht so harmlosen Nebenwirkungen« rät Keßler davon ab, die zur Gerinnungshemmung empfohlene Dosis von 100 Milligramm ASS täglich zu überschreiten: »Der Spruch ›Viel hilft viel‹ gilt bei Aspirin nicht.« Und noch einen weiteren Hinweis gibt die Pharmakologin: »Die gerinnungshemmende Wirkung von ASS hält relativ lange an, weil sie die Enzyme der vorhandenen Blutplättchen irreversibel hemmt.« Die Wirkung lasse erst nach, wenn der Körper etwa eine Woche später neue Thrombozyten gebildet hat.
Vor vielen Operationen muss man ASS daher rechtzeitig absetzen, damit es auf dem OP-Tisch nicht zu unkontrollierbaren Blutungen kommt. Gleichwohl sollten Patienten die Tabletten nicht einfach eigenmächtig weglassen. Das wiederum, berichten Hamburger Forscherinnen und Forscher um die Anästhesiologin Lili Plümer, könne einen Reboundeffekt auslösen, der das Infarktrisiko schlagartig um mehr als 60 Prozent steigert.
Gesunde Senioren sollte man nicht vorbeugend mit ASS behandeln
Die meisten schienen das nicht zu wissen und gingen mit ASS allzu sorglos um, schreiben der Internist Alan Jacobsen und sein Team im Fachmagazin »Journal of the American Heart Association«: »Viele Patienten können ihr kardiovaskuläres Zehn-Jahres-Risiko kaum einschätzen und kennen die Risiken, Vorteile und die Rolle von ASS in der Prävention nicht.« Dennoch nahm fast jeder Zweite der Befragten das Mittel zur Primärprophylaxe.
»Ein fitter Rentner, der regelmäßig Sport treibt, sich gesund ernährt und nicht familiär vorbelastet ist, muss kein ASS nehmen«Sven Poli, Neurologe
Wenngleich weltweit schätzungsweise eine Milliarde Menschen regelmäßig ASS nehmen: In Deutschland herrscht Zurückhaltung. »Bei einem hohen Herzinfarktrisiko kann es sinnvoll sein, mit einem Plättchenhemmer vorzubeugen«, sagt Sven Poli, stellvertretender ärztlicher Direktor der Neurologischen Klinik mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen. Der Neurologe ist Mitautor der Leitlinie zur Sekundärprophylaxe, kann eine flächendeckende Primärprophylaxe mit ASS aber nicht empfehlen: »Wir müssen immer Risiko und Nutzen abwägen. Weil ASS die Gerinnung hemmt, kann es Herzinfarkten vorbeugen, das stimmt. Doch um nur einen Fall zu verhindern, muss man rein rechnerisch mehr als 300 Patienten behandeln.« Das Risiko für innere Blutungen, das mit dem Alter steige, sei es nicht wert, gesunde Senioren ohne Vorerkrankungen vorbeugend mit ASS zu behandeln: »Ein fitter Rentner, der regelmäßig Sport treibt, sich gesund ernährt und nicht familiär vorbelastet ist, muss kein ASS nehmen. Sein Herzinfarktrisiko ist geringer als das Blutungsrisiko.«
Was lange nicht klar war: Die schützende Wirkung der Standarddosis lässt ab einem Körpergewicht von 70 Kilogramm ohnehin drastisch nach, wie eine Studie von Peter Rothwell und anderen aus Oxford belegt. Armin Grau, der frühere erste Vorsitzende der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft, sagte dazu in einer Pressemitteilung: »Etwa 80 Prozent aller Männer und die Hälfte aller Frauen wiegen mehr. Wir müssen davon ausgehen, dass sehr viele Menschen in der Primär- und Sekundärprophylaxe unterversorgt sind.«
ASS verlängert ein gesundes Leben nicht
Dass der präventive ASS-Konsum heute kritisch betrachtet wird, ist verschiedenen größeren Studien zu verdanken, die den Mythos von der Prophylaxepille in den vergangenen Jahren regelrecht entzaubert haben: Im Jahr 2014 brachen japanische Wissenschaftler um den Internisten Yasuo Ikeda ihre Untersuchung an 15 000 Älteren vorzeitig ab, weil bei jenen, die ASS nahmen, kaum weniger Herzinfarkte, dafür aber mehr Blutungen auftraten.
Die beiden großen Studien ASCEND und ARRIVE bescheinigten ASS zur Prophylaxe ebenfalls nur eine marginale Wirkung. Und die Untersuchung ASPREE, für die ein großes Forschungsteam um den Epidemiologen John McNeil mehr als 19 000 Menschen aus Australien und den USA untersuchte, zeigte, dass ASS ein gesundes Leben nicht verlängert. »Zwischen den Versuchsgruppen mit Aspirin und denen mit Placebo gab es nur sehr geringfügige Unterschiede.« Mehr noch: Das Sterberisiko stieg unter ASS sogar leicht an, laut der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung »ein Debakel«.
Im Jahr 2020 hat ein Team dann den Umbrella-Review veröffentlicht. Die Autoren und Autorinnen haben 67 Publikationen der vergangenen Jahre analysiert und kamen zu folgenden Zahlen: Bei gesunden Senioren verringert niedrig dosiertes ASS das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko um 17 Prozent. Gleichzeitig steigt jedoch das Risiko für Blutungen im Verdauungstrakt um 47 Prozent und das von Hirnblutungen um 34 Prozent.
Wer tatsächlich regelmäßig ASS nehmen müsse, »sollte sich auf Dosen von weniger als 150 Milligramm beschränken«Sven Poli, Neurologe
Als richtungsweisend gilt der Review der Harvard-Wissenschaftlerin Inbar Raber samt Team, der 2019 im Fachmagazin »The Lancet« erschien und sein Fazit schon im Titel trägt: »Aufstieg und Fall von Aspirin in der Primärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen«. Die Forschenden schreiben: »Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ASS tödliche kardiovaskuläre Ereignisse bei Patienten, die noch kein erstes Ereignis hatten, nicht reduziert, aber das Blutungsrisiko erhöht.«
Auf keinen Fall, sagt Leitlinienautor und Neurologe Poli, sollten Ältere deshalb aus Sorge vor Herzinfarkt und Schlaganfall einfach selbst beschließen, ASS einzunehmen: »Davon rate ich dringend ab. Wie hoch der mögliche Nutzen und das individuelle Blutungsrisiko sind, sollte immer ein Arzt beurteilen.« Wer dann tatsächlich regelmäßig ASS nehmen müsse, »sollte sich auf Dosen von weniger als 150 Milligramm beschränken«, sagt Poli. Träten allergische Reaktionen, Unwohlsein oder Magenschmerzen auf, sei wiederum ein Arzt um Rat zu fragen. »Teerstuhl, als ganz schwarzer Stuhl, ist ein Alarmzeichen, das auf innere Blutungen hindeutet.«
Auch die Hallenser Pharmakologin Keßler hält nichts von einer vorbeugenden ASS-Einnahme ohne klaren Anlass: »Ältere nehmen sowieso oft so viele Tabletten. Da sollte man doch um jede froh sein, die man nicht schlucken muss.« Gibt es eine Alternative, um Herzinfarkt und Schlaganfall im Alter wirksam vorzubeugen? Ja, sagt Keßler, die gebe es: »Die beste Alternative ist ein gesunder Lebensstil.«
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