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Achsenzeit: Wie Gelehrte eine Epoche erfanden

Im 1. Jahrtausend v. Chr. kam es zur Wende in der Menschheitsgeschichte. Gelehrte entwickelten weltweit aufklärerische Ideen. Die These der Achsenzeit klingt fantastisch – und ist es auch. Über eine verführerische Theorie, die das Verständnis von Geschichte radikal in Frage stellte.
Schule von Athen
Die berühmtesten Philosophen der Antike hat Raffael in seinem Fresko im Vatikan versammelt: In der Mitte diskutieren Platon und Aristoteles, um sie herum stehen Sokrates, Pythagoras, Heraklit, Euklid, Diogenes, Zarathustra und weitere. Welche Figur welchen Gelehrten darstellen soll, ist nicht in jedem Fall sicher. Aus den Jahren 1511 und 1510.

Im 1. Jahrtausend v. Chr. kam es zu einer erstaunlichen Entwicklung: Scheinbar unabhängig voneinander traten in den unterschiedlichsten Weltteilen große Persönlichkeiten aus dem Schatten der Vorzeit. Es waren keine Gewaltherrscher, die ihre Namen und Ruhmestaten in Stein verewigen ließen, sondern die ersten Philosophen und Religionsstifter der Menschheitsgeschichte. Ihre Lehren haben die Jahrtausende bis heute überdauert.

Während sich in Griechenland die Philosophie durch Denker wie Pythagoras, Heraklit, Sokrates oder Platon entfaltete und auch die Kunst aufblühte, verbreiteten am anderen Ende der Welt, in China, Konfuzius und Laozi ebenso revolutionäre Gedanken. In Indien entwickelten Gelehrte aus dem Hinduismus die Upanischaden, eine Sammlung philosophischer Schriften, und Siddhartha Gautama begründete den Buddhismus. Gleichzeitig wurde aus dem Judentum endgültig eine monotheistische Religion, unter dem Eindruck der Babylonischen Gefangenschaft und der Weissagungen der alttestamentarischen Propheten. Damit entstand erstmals ein abstraktes Gottesbild.

War es bloßer Zufall, dass sich diese welthistorisch bedeutsamen Ereignisse nahezu parallel an verschiedenen Orten ereigneten, oder steckte mehr dahinter? Diese Frage ließ auch den deutschen Philosophen und Psychiater Karl Jaspers (1883–1969) nicht los. 1949 veröffentlichte er das Buch »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte«. Darin prägte er für die Epoche um 500 v. Chr. oder grob zwischen 800 und 200 v. Chr. den Begriff der »Achsenzeit«.

Jaspers wollte damit belegen: Ebenjener historischen Phase komme eine einzigartige Bedeutung für die geistige Entwicklung der Menschheit zu. Sie sei sogar die »Achse«, um die sich die gesamte Weltgeschichte drehe. »Von dem, was damals geschah, was damals geschaffen und gedacht wurde, lebt die Menschheit bis heute«, schreibt der Philosoph. »In jedem ihrer neuen Aufschwünge kehrt sie erinnernd zu jener Achsenzeit zurück, lässt sich von dorther neu entzünden.«

Eine bemerkenswerte Epoche der Menschheitsgeschichte?

Für Jaspers war die Achsenzeit nichts Geringeres als die Geburtsstunde des eigentlichen, modernen Menschseins. In mehreren Kulturen parallel hätte sich ein Durchbruch vollzogen und das bis dahin vorherrschende von Mythen und Aberglauben geprägte Weltbild gewandelt. »Das Neue dieses Zeitalters ist (…), dass der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst wird.« Mythen wurden zu Gunsten der Vernunft zurückgedrängt, der Mensch begann, sich selbst und die Welt zu reflektieren, und brachte dabei die Grundkategorien hervor, in denen wir bis heute denken, war Jaspers überzeugt.

Die Entdeckung, dass es um das 6. vorchristliche Jahrhundert herum zu einer beeindruckenden Dichte wegweisender Persönlichkeiten auf der ganzen Welt kam, war nicht neu. Schon knapp 180 Jahre vor Jaspers hatte der französische Orientalist Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron (1731–1805) in seinen Studien über den iranischen Religionsstifter Zarathustra, den er – fälschlicherweise – in das 6. Jahrhundert v. Chr. datierte, als Erster Ähnliches geäußert: Dieses Jahrhundert könne »als eine bemerkenswerte Epoche in der Geschichte der menschlichen Gattung angesehen werden«. Weiter schreibt Anquetil-Duperron: »Damals ereignete sich in der Natur eine Art Revolution, die in mehreren Teilen der Erde Genies hervorbrachte, die dem Universum den Ton angeben sollten.«

Jaspers entwickelte aus diesem Gedanken eine wissenschaftliche These mit einem griffigen Namen. Eine befriedigende Erklärung für die Gleichzeitigkeit der Ereignisse vermochte er allerdings nicht zu geben. Der Philosoph sprach von einem »Rätsel« und »Geheimnis«, nannte »gemeinsame soziologische Bedingungen«, die womöglich für geistiges Schöpfertum besonders vorteilhaft waren, als »einfachste Erklärung«.

Für ihn waren letztlich die Konsequenzen, die sich aus dieser Beobachtung ergeben, das Entscheidende: Die Weltgeschichte, die mit der Achsenzeit begann, hat mit Griechenland samt Israel, Indien und China drei selbstständige Wurzeln. Dementsprechend kann niemand den alleinigen Ursprung der Zivilisation für sich beanspruchen – oder gar historisch eine Überlegenheit begründen. In der Achsenzeit sah der Philosoph den Beweis, dass ein universeller menschlicher Geist in der Geschichte wirkte. Und im 1. Jahrtausend v. Chr. hätte er sich an verschiedenen Orten Bahn gebrochen.

Keine Hierarchie unter den Völkern

Schon Anquetil-Duperron hatte aus seiner Entdeckung Folgen für die Gegenwart abgeleitet. In Indien, wo der Franzose mehrere Jahre lang für seine Recherchen lebte, war er zu einem leidenschaftlichen Gegner von Eurozentrismus, Sklavenhandel und Kolonialismus geworden. Als Kosmopolit und Kind der Aufklärung folgerte er aus dem gleichzeitigen Auftreten großer geistiger Innovationen an verschiedenen Enden der Welt, dass alle Kulturen gleichwertig seien. Anquetil-Duperron lehnte jede Hierarchie unter den Völkern ab.

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatte Europa in den Augen von Jaspers den Anspruch auf eine Vorrangstellung in der Welt verloren

Auch Jaspers ging es darum, Lehren aus der jüngsten Geschichte zu ziehen. Der Heidelberger Gelehrte hatte den Nationalsozialismus mit seiner jüdischen Ehefrau in der inneren Emigration verbracht. Kurz vor Kriegsende hatten die Nazis beschlossen, ihn in ein Konzentrationslager zu schicken. Er entging der Internierung nur durch die eintreffenden US-Truppen.

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch sämtlicher europäischer Werte durch das NS-Regime hatte Europa in den Augen des Philosophen den Anspruch auf eine Vorrangstellung in der Welt verloren. »Vorbei ist der europäische Hochmut, ist die Selbstsicherheit, aus der einst die Geschichte des Abendlandes die Weltgeschichte hieß, fremde Kulturen in Museen für Völkerkunde gebracht, als Gegenstand der Ausbeutung und der Neugier angesehen wurden«, äußerte sich Jaspers bereits 1946 in einem Vortrag.

Die Kultur Europas als Randerscheinung

Die Achsenzeit war bestens dazu geeignet, den eurozentrischen Blick auf die Geschichte aufzubrechen und zur »Klassik einer globalisierten Menschheit« zu werden, wie der Ägyptologe Jan Assmann es in seinem Buch »Achsenzeit – Eine Archäologie der Moderne« aus dem Jahr 2018 ausdrückt. »In diesem offenen Horizont eines globalisierten Kulturgedächtnisses«, schreibt Assmann, »erscheint Europa dann nicht mehr als der eine Ursprung, sondern nur noch als lokale Ausprägung eines globalen geistigen Durchbruchs«. Die Offenbarung eines universellen menschlichen Geistes in der Vergangenheit ließ sich in diesem Sinne als eine Verpflichtung an die Zukunft interpretieren, fortan als geeinte Menschheit zu handeln.

Karl Jaspers (1883–1969) | Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs hatten den Philosophen und Psychiater stark beeinflusst, als er seine Theorie der Achsenzeit entwickelte. Er fragte sich, warum tiefe Feindschaft herrschte, wenn die Kulturen der Welt doch alle auf demselben geistigen Ursprung beruhen würden. Das Foto zeigt Jaspers im Jahr 1963.

Jaspers verstand diese Offenbarung aber vor allem als einen Aufruf, den anderen zu verstehen und Engstirnigkeit, Hass und Gewalt zu überwinden. Und sie war für ihn das beste Mittel, gegen Absolutheitsansprüche vorzugehen, etwa eine Religion zur einzig wahren zu erheben. Denn die Achsenzeit beweise ja, »dass Gott sich geschichtlich auf mehrfache Weise gezeigt und viele Wege zu sich geöffnet hat«.

Nachdem Jaspers' These zunächst nur bescheidenen Widerhall gefunden hatte, begannen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ab den 1970er Jahren, seine Idee aufzugreifen und weiterzuspinnen. Der Begriff der Achsenzeit avancierte in der Folge zu einer festen Epochenbezeichnung für die Zeit zwischen 800 und 200 v. Chr.

Dennoch mangelte es auch von Anfang an nicht an Kritik. Mit seiner Fixierung auf den besagten Zeitraum würde Jaspers Gründergestalten wie Pharao Echnaton, Jesus oder Mohammed aus dem großen Menschheitssprung ausschließen. Und vergleichbare Durchbrüche habe es sowohl vor als auch nach der Achsenzeit immer wieder gegeben, moniert Assmann. Zudem stellte sich die grundsätzliche Frage, welche Gemeinsamkeiten letztlich Buddha, die Propheten des Alten Testaments und die vorsokratischen Philosophen haben – außer dass sie etwa zur selben Zeit lebten.

Viele warfen Jaspers vor, nur die elitären Schichten der damaligen Gesellschaften im Blick zu haben. Denn für ihn hatten lediglich die großen Einzelpersönlichkeiten eine Zeitenwende eingeläutet. Ihr Wirken sagt jedoch nur wenig über die allgemein vorherrschenden Geisteshaltungen jener Zeit aus.

Geschichte hat kein Ziel und keinen Sinn

Forschende sehen manche Grundlage von Jaspers' These inzwischen als überholt an. Der Gelehrte ging davon aus, dass die Achsenzeitkulturen weitgehend isoliert voneinander existierten. Archäologische Funde belegen jedoch, dass es bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. vielseitige Beziehungen zwischen dem Mittelmeerraum und China gab. Dass es dabei auch zu einem Austausch von Wissen gekommen sein könnte, stellt die These von den Parallelentwicklungen, die sich völlig unabhängig voneinander vollziehen, in Frage.

Letztlich war Jaspers' Idee im Kern widersinnig. Der deutsche Philosoph war, durch die Schrecken von Krieg und Ausgrenzung geprägt, mit einem neuen, universalistischen Geschichtsbild angetreten: Er wollte die dominierende europäische Perspektive durch einen globalen Blickwinkel ersetzen. Doch schon der Grundgedanke der Achsenzeit beruhte auf der Vorstellung, dass die Geschichte einen Sinn und ein Ziel habe. Eine Idee, die sich aus einem christlich und jüdisch geprägten Weltbild speiste.

Ebenso entspringt das Motiv, dass es Zeitenwenden gibt, einer typisch abendländischen Tradition, wie Assmann nachweist: »Seit Jahrtausenden lebt Europa im Zeichen der Zeitachse, des Vorher und Nachher, der großen, alles verändernden Wende: vom Polytheismus zum Monotheismus, vom Heidentum zum Christentum, vom Mythos zum Logos.« Die Achsenzeit war letztlich der Versuch, eine alles entscheidende Wende für die gesamte Welt zu definieren, an der die ganze Menschheit Anteil gehabt hätte.

Warum Ägypten und Mesopotamien nicht zur Achsenzeit gehörten

Letztlich war die Achsenzeit ein Konstrukt. Denn Jaspers hat von vornherein alle historischen Figuren ausgeschlossen, die nicht seine Bedingungen erfüllten. Etwa mit diesem Kriterium: »Der Mensch wird sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst«, definierte Jaspers ein Merkmal der Achsenzeit. Das sei geschehen, weil der Mensch ein reflexives und vernunftbegabtes Denken entwickelte. Und weil man seine bisherigen Weltanschauungen in Frage stellte – etwa ob die althergebrachten Mythengeschichten tatsächlich geschehen sein könnten.

Jaspers' Kriterien speisten sich jedoch aus der abendländischen Geistesgeschichte. Er ließ damit die großen Zivilisationen des Altertums in Ägypten und Mesopotamien durchs Raster fallen. Seines Erachtens waren sie durch eine »magische Religion ohne philosophische Erhellung, ohne Erlösungsdrang, ohne Durchbruch in die Freiheit vor den Grenzsituationen« gekennzeichnet. Sie bildeten eine »Welt, die die Grundlage der Achsenzeit wurde, aber in ihr und durch sie unterging«, schreibt der Philosoph. Eine universalhistorische Bedeutung kommt ihnen nur zu, weil die Akteure der Achsenzeit von ihnen gelernt hätten und an ihnen gewachsen seien. All jene Kulturen, die weder ein Fundament des axialen Durchbruchs bildeten noch auf ihm aufbauten, rechnete Jaspers in die Kategorie der geschichtslosen »Naturvölker«.

Die Achsenzeit ist eine der »wirkmächtigsten Mythen der Moderne«Jan Assmann, Ägyptologe und Kulturhistoriker

Dabei würden Kulturen, die der Philosoph aussortierte, durchaus seinen Kategorien entsprechen. Das fand eine internationale Forschergruppe in den vergangenen Jahren heraus. Sie stellte die Achsenzeit erneut auf den Prüfstand. Dafür zapfte sie eine gigantische Datenbank an: Seshat – Global History Databank. Das Onlinearchiv hat Daten zu rund 450 Kulturen gespeichert, die bis in die Zeit um 4000 v. Chr. zurückreichen. Das Team um Jenny Reddish vom Complexity Science Hub Vienna, einem Forschungsverein in Wien, und Daniel Hoyer vom George Brown College in Toronto durchsuchte die Datenbank nach Zeiten und Orten, die den Kriterien der Achsenzeit entsprechen. 2019 veröffentlichten sie ihre Erkenntnisse in dem Buch »Seshat History of the Axial Age«.

Ein Ergebnis der Forscher lautete: Religion und Gesetz wandelten sich in Ägypten und im anatolischen Reich der Hethiter zum Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. Also lange vor Jaspers' Achsenzeit. »Die Daten zeigen, dass ›axiale‹ Merkmale wiederholt auftraten«, erklärt Hoyer in einer Pressemitteilung. »Dies geschah in vielen Teilen der Welt und in ihrem eigenen Tempo, in einigen Fällen viel früher als 800, in anderen viel später als 200 v. Chr.« Angetrieben hat diese Entwicklungen, so vermutet Hoyer, dass die Gesellschaften zunehmend komplexer geworden waren.

Jaspers' These widerspricht also nicht nur den bekannten historischen Fakten, sondern der Philosoph klammerte auch eigentlich passende Kulturen aus. Damit war das Vorhaben, eine inklusive und nicht eurozentrische Perspektive auf die Geschichte zu gewinnen, bereits in der Theorie gescheitert. »Der von Jaspers ausdrücklich abgelehnte ›europäische Hochmut‹ ist bei seinem Projekt, alle Kulturen und Gesellschaften nach einem einzigen Rationalitätsmaßstab zu bewerten, offenkundig am Werk«, urteilt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in einem Sammelband zur Achsenzeit aus dem Jahr 1992. Letztlich wollte Jaspers Gemeinsamkeiten finden. Dafür blendete er aber kulturelle Besonderheiten aus. »Der Wunsch nach einem Königsweg zum menschlichen Kern hat zur Missachtung, wenn nicht Verabscheuung von Traditionen und Umweltbedingungen geführt«, schreibt Aleida Assmann.

Eine These sollte die Menschheit vereinen

Jaspers' These der Achsenzeit nährte sich aus einer Sehnsucht. Er hoffte auf eine Menschheit, die sich als Einheit verstand, kosmopolitisch und humanistisch agierte. Dafür wollte der Philosoph einen Bezugspunkt in der Vergangenheit schaffen, an dem sich die Menschheit »neu entzünden« könnte. Aber wie sollte das mit einer These funktionieren, die einzigartige historische Vorgänge in ein wissenschaftliches Konstrukt zwingen wollte? Als solches – und nicht als »Tatbestand«, wie Jaspers meinte – beurteilen die meisten Fachleute die Achsenzeit heute.

Andere gehen noch weiter und halten dem Denker vor, letztendlich genau das geschaffen zu haben, was er eigentlich mit seiner Geschichtsphilosophie als irrational und unmodern abwerten wollte: einen Mythos. Auch Jan Assmann sieht das so. Für ihn handelt es sich bei der Achsenzeit neben Sigmund Freuds Ödipuskomplex und Max Webers These von der Entzauberung der Welt um eine der »wirkmächtigsten Mythen der Moderne«. Und wie jene konnte auch dieser Mythos wohl nur auf dem Boden christlich-jüdischer Denktraditionen entstehen.

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