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Paläoanthropologie: Adam aus Heidelberg

Am 21. Oktober 1907 machte die Gemeinde Mauer Furore: In einer Sandgrube des kleinen Orts bei Heidelberg tauchte nach einer halben Million Jahre ein menschlicher Unterkiefer auf. Homo heidelbergensis gilt heute als unsere Stammart.
Vom Menschen der Urzeit
"Ich versichere, daß ich in der im Freiherrn von Göler'schen Stammgut Mauer stehenden, von Herrn Josef Rösch in Mauer gepachteten Sandgrube, Grundstück Nr. 789 Mauerer Gemarkung, welche Sandgrube in der geologischen Spezialkarte des Großherzogthums Baden Blatt 32 nördlich von Mauer in der Gewann Grafenrain als solche verzeichnet ist, am Montag, den 21. Oktober 1907, beim Ausheben des Sandes den in angeschlossener Figur 1 und 2 photografierten Unterkiefer an der unter Figur 3 angeschlossenen photografischen Aufnahme der Sandgrube mit einem roten Kreuz bezeichneten Stelle in Gegenwart des hier anwesenden mitunterzeichnenden Fuhrknechtes Andreas Obländer aus Zuzenhausen gefunden habe, den ich noch am gleichen Tage dem Pächter der Sandgrube, Herrn Josef Rösch in Mauer übergeben habe."

Daniel Hartmann | Daniel Hartmann (1854-1952) fand am 21. Oktober 1907 den Unterkiefer von Mauer.
Diese Urkunde, ausgestellt vom großherzoglich- badischen Notar Ludwig Weihrauch, beglaubigt den Wendepunkt im Leben des Tagelöhners Daniel Hartmann. Am 5. November 1854 in Leimen bei Heidelberg geboren, hatte er sich seit seinem 15. Lebensjahr in der nahe gelegenen Sandgrube des Dörfchens Mauer verdingt; am 21. Januar 1952 starb er hochbetagt als Ehrenbürger seiner Gemeinde.

Ein harter Brocken

Der Tag des "Sand-Daniels" beginnt wie üblich in aller Herrgottsfrühe. Hartmann steht an diesem 21. Oktober 1907 bereits in seinem 53. Lebensjahr, kann jedoch immer noch schuften wie ein junger Mann. Zusammen mit seinem Kollegen Jakob Engelhart soll er in der Grube Grafenrain den Pferdekarren von Andreas Obländer mit Sand beladen.
"Heit haw ich de Adam g'funne"
(Daniel Hartmann)
Doch plötzlich stößt er mit seiner Schaufel auf einen harten Brocken. Als er den in zwei Hälften auseinandergebrochenen Klumpen vom Sand befreit, ahnt er bereits, dass er etwas Besonderes in den Händen hält.

Zunächst ist wenig zu erkennen, da die eine Hälfte des Brockens mit einem Kalkstein fest verbacken ist, doch die Zähne, die aus dem zweiten Stück herauslugen, kann der erfahrene Arbeiter sofort deuten: ein versteinerter Kiefer – womöglich von einem Menschen.

Grube Grafenrain | Die Sandgrube Grafenrain bei Mauer 1907: Die Fundstelle des Homo heidelbergensis ist mit einem Kreuz gekennzeichnet.
Jetzt bewährt sich, dass der Heidelberger Anthropologe Otto Schoetensack den Mauerern Arbeitern eingeschärft hat, jeden Fund sorgfältigst zu bergen. Die Mauerer Sande galten bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als El Dorado für Fossilien. Die Paläontologen wussten, dass der Neckar – der heutzutage fünf Kilometer nördlich gen Heidelberg fließt – einst in einem weiten Bogen hier sein Bett fand, wo er in der Flussschlinge Sand und mit ihm zahlreiche Überreste ablagerte.

So hatte der Schädel eines Waldelefanten (Elephas antiquus), der hier 1887 aufgetaucht war, besonderes Aufsehen erregt. Bis zur Stilllegung der Grube Grafenrain im Jahr 1962 konnten mehr als 5000 Fossilien geborgen werden, darunter Großsäuger wie Flusspferde, Waldnashörner, Waldbisons, Bären, Säbelzahnkatzen und Löwen. Demnach scheint sich der Neckar in der "Mauerer Waldzeit" durch eine warme Baumlandschaft geschlängelt zu haben.

Otto Schoetensack | Der Heidelberger Paläoanthropologe Otto Schoetensack (1850-1912) beschrieb 1908 auf Grund des Unterkiefers von Mauer die Menschenart Homo heidelbergensis. Das Foto ist wahrscheinlich 1882 aufgenommen worden.
Auf menschliche Überreste ist bis zu jenem Schicksalstag im Jahr 1907 allerdings noch niemand gestoßen. Doch die Zeit ist reif. Das 51 Jahre zuvor gefundene Neandertaler-Skelett hat deutlich gemacht, dass auch der Mensch dem Wandel der Evolution unterliegt. Der am 12. Juli 1850 in Stendal geborene Otto Schoetensack – der zunächst als Chemiefabrikant in Mannheim sein Geld verdiente und erst sehr spät eine universitäre Laufbahn eingeschlagen hat – ist fest davon überzeugt, dass die Mauerer Sande auch menschliche Fossilien bergen.

Der Beweis

Daniel Hartmann tut nun genau das, was ihm im Falle eines solchen Glücksfunds aufgetragen worden ist: Er übergibt ihn noch am selben Tag dem Grubenpächter Josef Rösch. Der schreibt tags darauf einen Brief an Schoetensack:
"Gestern wurde nun dieser Beweis erbracht"
(Josef Rösch)
"Schon vor 20 Jahren haben Sie sich bemüht, durch Funde in meiner Sandgrube Spuren des Urmenschen zu finden, um den Nachweis zu liefern, daß zu gleichen Zeit mit dem Mammut auch schon der Mensch in unserer Gegend gelebt hat. Gestern wurde nun dieser Beweis erbracht, indem 20 m unter der Ackeroberfläche auf der Sohle meiner Sandgrube die untere Kinnlade, sehr gut erhalten, mit sämtlichen Zähnen, von einem Urmenschen stammend, gefunden wurde. Auf der linken Hälfte der Kinnlade werden die Zähne durch ein Conglomerat bedeckt, dagegen ist die rechte Hälfte frei."

Gedenkstein | An der Fundstelle des Homo heidelbergensis in der Grube Grafenrain wurde 1907 ein Gedenkstein errichtet, der heute längst wieder tief unter der Erde verborgen liegt. Das Foto zeigt den Grubenpächter Josef Rösch (2. von links stehend) sowie den Finder Daniel Hartmann (rechts sitzend).
Daniel Hartmann drückt den Sachverhalt etwas schlichter aus. In der auf seinem Heimweg gelegenen Gastwirtschaft "Hochgschwender" verkündet er voller Stolz: "Heit haw ich de Adam g'funne!"

Schoetensack, der mit dem nächsten Zug aus Heidelberg nach Mauer geeilt ist, macht sich zusammen mit seinen Kollegen Wilhelm Salomon, Hermann Klaatsch und Gottlieb Port sofort ans Werk. Der Kiefer ist menschlich, daran gibt es keinen Zweifel. Doch das fehlende Kinn sowie die kräftigen Ansatzstellen für die Kaumuskulatur fallen besonders auf – deutliche Unterschiede zum heutigen Menschen.

Homo heidelbergensis | "Mauer 1", der 600 000 Jahre alte Unterkiefer aus den Neckarsanden bei Heidelberg gilt als Belegexemplar für die menschliche Spezies Homo heidelbergensis.
Im Heidelberger Zoologischen Institut wird das Fossil behutsam gereinigt; die beiden Hälften können zusammengeklebt werden. Dabei lösen sich vier Zähne, die man erst 1937 wieder aufsetzen wird. Heute zeigt der Unterkiefer allerdings wieder Lücken – die Zähne gingen am Ende des Zweiten Weltkriegs verloren, als der Unterkiefer in einem Bergwerk ausgelagert werden musste.

Das Geschlecht des Fossils ist übrigens immer noch nicht eindeutig geklärt. Nur sein kräftiger Bau lässt vermuten, dass der Kiefer einst einem Mann gehörte. Abnutzungsspuren an den Zähnen deuten auf ein Todesalter zwischen zwanzig und vierzig Jahren.

Eine neue Art

Schoetensack entschließt sich, das Fossil als eigene menschliche Art zu beschreiben. Bereits im September 1908, also noch nicht einmal ein Jahr nach dem Fund, erscheint seine Monografie: "Der Unterkiefer des Homo heidelbergensis aus den Sanden von Mauer bei Heidelberg – Ein Beitrag zur Paläontologie des Menschen". Der Mensch von Mauer trägt damit einen wissenschaftlichen Namen.

Rekonstruktion des Homo heidelbergensis | So könnte er ausgesehen haben: Rekonstruktion des Homo heidelbergensis nach Dieter Heidenreich
Über das Alter des Unterkiefers lässt sich Schoetensack nicht aus. Klar ist ihm nur, dass Homo heidelbergensis vor langer Zeit gelebt haben muss. Bis heute entzieht sich das Fossil einer exakten Datierung. Auf Grund der Begleitfunde in der Sandschicht schätzen Paläontologen es auf etwa 600 000 Jahre.

Damit hielt der Heidelbergmensch bis Anfang der 1990er Jahre den Rekord des ältesten Europäers. Erst die 800 000 Jahre alten Funde aus der Höhle Gran Dolina im nordspanischen Atapuerca-Gebirge sowie die sogar auf 1,8 Millionen Jahre taxierten Fossilien in Georgien bei Dmanisi übertreffen ihn.

Die Stellung des Funds im Stammbaum des Menschen blieb Schoetensack, der nur wenige Jahre nach der Artbeschreibung am 23. Dezember 1912 an einem Hirnschlag starb, weit gehend verborgen. Er erlebte auch nicht mehr, wie der von ihm kreierte Artname wieder angezweifelt wurde. Denn mit zunehmenden Hominidenfunden kamen die Anthropologen zu der Überzeugung, dass der Heidelberger nur als europäische Version des weltweit erfolgreichen Homo erectus die Bühne der menschlichen Evolution betreten hatte. Flugs wurde er zur Unterart Homo erectus heidelbergensis degradiert.

Entwicklungsgeschichte des Menschen | Homo heidelbergensis wird heute von einigen Forschern als Schlüsselart im Stammbaum des Menschen interpretiert. Demnach hat er sich in Europa zum Neandertaler, Homo neanderthalensis, entwickelt, der jedoch vor etwa 30 000 Jahren ausgestorben ist. In Afrika soll aus H. heidelbergensis der anatomisch moderne Mensch, Homo sapiens, entstanden sein, der sich schließlich auf der ganzen Welt ausbreitete.
Diese Ansicht hat sich inzwischen wieder gewandelt. Heute möchten etliche Forscher den Namen Homo erectus nur der asiatischen Linie vorbehalten, während die Frühform in Afrika unter den Namen Homo ergaster firmiert. Aus diesem könnte dann vor vielleicht einer Million Jahre ein Zweig entsprungen sein, der zur universalen Stammart sowohl des Neandertalers in Europa, als auch des anatomisch modernen Menschen in Afrika avancieren sollte. Ihr Name: Homo heidelbergensis.

Falls diese Interpretation zutrifft, hätte Schoetensacks Heidelbergmensch einen erstaunlichen Karrieresprung von einem Nebengleis zur Schlüsselspezies in der menschlichen Entwicklung zurückgelegt: In Europa wandelte er sich vermutlich zum Neandertaler, der jedoch vor etwa 30 000 Jahren das Feld räumen musste. Auch der asiatische Homo erectus starb aus. Doch aus Afrika kommend sollten die Nachfahren des Homo heidelbergensis als Homo sapiens die Welt erobern.

Vom Menschen der Urzeit

Wer heute auf seinen Spuren wandeln möchte, sollte sich beeilen: Aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums präsentiert der Verein "Homo heidelbergensis von Mauer" noch bis zum 25. November 2007 die Ausstellung "Vom Menschen der Urzeit".

In der Mauerer Ortsmitte lässt sich in einem kleinen Fachwerkhaus, dem Heid'schen Haus, das Original des Unterkiefers bestaunen, das nach der Ausstellung wieder im Tresor der Heidelberger Universität verschwinden soll. Neben Steinwerkzeugen sind auch fossile Tierknochen mit Bearbeitungsspuren zu sehen, die zeigen, dass Homo heidelbergensis auch das Knochenmark seiner Beutetiere nicht verschmähte.

Wenige Schritte weiter geht es zum Rathaus mit dem Urgeschichtlichen Museum, das mit weiteren Tierfossilien sowie mit Schädelabgüssen verwandter Hominiden aufwartet. Und am Ortsrand liegt der Fundort: die Sandgrube Grafenrain. Hier hat sich zwar im letzten Jahrhundert einiges verändert, doch eine frei gelegte, über zwanzig Meter hohe Sandwand lässt die Dimensionen der Fundschichten erahnen.

Um ein Gefühl für die verstrichene Zeit zu vermitteln, haben sich die Ausstellungsmacher etwas Besonderes ausgedacht: Die 1100 Meter zwischen dem Heid'schen Haus und der Sandgrube sind als "Zeitenpfad" angelegt, auf dem man mit jedem Schritt etwa 600 Jahre Menschheitsgeschichte zurücklegen kann. Und vom Heidelberger "Adam" bis heute ist es in der Tat ein weiter Weg.

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