Adipositasmedikamente: Hype ums neue Abnehmen
Es kommt selten vor, dass ein Hersteller für eines seiner Produkte die Werbung einstellt, weil es so erfolgreich ist. Aber genau das ist im Mai 2023 beim Medikament Wegovy passiert. In den USA, wo man verschreibungspflichtige Medikamente bewerben darf, zog der Hersteller Novo Nordisk seine Fernsehreklame zurück, weil er die große Nachfrage nicht mehr bedienen konnte.
Der in Wegovy enthaltene Wirkstoff mit dem Namen Semaglutid ahmt ein Hormon nach, das in unserem Körper den Appetit zügelt. Er wurde 2021 von der US Food and Drug Administration (FDA) als Mittel gegen Fettleibigkeit zugelassen. Ein Jahr später erfolgte die Zulassung in der EU. Zuvor hatten die Teilnehmenden einer Studie, die sich den Wirkstoff über ein Jahr lang injizierten, im Schnitt mehr als doppelt so viel Körpergewicht verloren – fast 16 Prozent – wie diejenigen, die ein älteres Medikament zur Gewichtsreduktion bekamen, das das gleiche Hormon nachahmt.
Erst 2017 war Semaglutid für die Behandlung von Diabetes Typ II zugelassen worden, allerdings unter dem Handelsnamen Ozempic (siehe Grafik »Gewichtskiller«). Es wird ebenfalls von Novo Nordisk hergestellt und enthält den gleichen Wirkstoff. Die Nachfrage nach Ozempic stieg sprunghaft an, da Ärzte irgendwann anfingen, es auch außerhalb der zugelassenen Anwendung zu verschreiben: zur Gewichtsreduktion.
Und es sind bereits weitere Medikamente gegen Fettleibigkeit auf dem Weg, die womöglich noch wirksamer sind. Den Wirkstoff Tirzepatid hat die FDA im November 2023 unter dem Namen Zepbound zur Gewichtsreduktion zugelassen. Er wird von Eli Lilly hergestellt und imitiert zwei Hormone, die das Hungergefühl steuern. Das Mittel Retatrutid wiederum ahmt gleich drei Hormone nach. Es zeigte bereits nach der ersten Hälfte einer klinischen Studie viel versprechende Ergebnisse, wie im Juni 2023 auf einer Konferenz berichtet wurde.
Themenwoche »Mein Körper, mein Gewicht«
Jedes Jahr das Gleiche: Nach der Schlemmerei in der Adventszeit nehmen sich viele Menschen zu Jahresbeginn vor, weniger zu essen und Kilos zu verlieren. Doch warum definieren sich Menschen so oft über ihre Körperform und ihr Gewicht? Von den psychologischen Motiven hinter dem Neujahrsvorsatz »Abnehmen« über die strauchelnde Body-Positivity-Bewegung bis hin zu Ansätzen wie intuitivem Essen und den neuesten Entwicklungen in der Adipositasmedizin: In dieser Themenwoche laden wir dazu ein, die Körperwahrnehmung und das eigene Gewicht aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.
- Neujahrsvorsätze: Dieses Jahr nehme ich wirklich ab!
- Schlankheitskult: Das Ende der Body Positivity?
- Fettleibigkeit: Warum der Body-Mass-Index in die Irre führt
- Intuitives Essen: Spüren, was der Magen sagt
- Adipositasmedikamente: Hype ums neue Abnehmen
- Abnehmen: »Medikamente wie Wegovy sind keine Lifestyle-Drogen«
Eine Therapie gegen starkes Übergewicht ist dringender notwendig als je zuvor. Der Anteil an Menschen mit Adipositas in der Gesamtbevölkerung hat sich in den letzten 50 Jahren verdreifacht. Die Krankheit geht in der Regel mit einem erhöhten Risiko für andere gesundheitliche Beschwerden einher, darunter Diabetes Typ II, Herzerkrankungen und einige Krebsarten. Darüber hinaus kann es die Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigen – etwa indem es die Bewegungsfreiheit einschränkt oder zu Schamgefühlen bei Betroffenen führt.
Wie die Medikamente wirken
Die Mittel reduzieren offenbar den Appetit der Menschen – wie genau sie das tun, wird noch erforscht. Klar ist: Semaglutid imitiert ein Hormon namens Glucagon-like Peptide 1, kurz GLP-1. Dieses wird normalerweise im Darm produziert, wenn Nahrung aufgenommen wird, und weist die Bauchspeicheldrüse an, Insulin herzustellen. GLP-1-Nachahmerpräparate wurden deshalb zunächst zur Behandlung von Diabetes Typ II entwickelt, bei dem der Körper zu wenig Insulin produziert und der Blutzuckerspiegel zu hoch ist.
In der damals hierzu durchgeführten klinischen Studie wurde jedoch eine überraschende Nebenwirkung bemerkt: Der Appetit der Teilnehmenden nahm ab. Mögliche Ursache: Die ersten GLP-1-Imitatoren wurden zwar für den Darm entwickelt, es gibt aber für das Hormon auch Rezeptoren in den Hirnregionen, in denen unsere Appetit- und Belohnungszentren liegen. Werden diese Rezeptoren durch GLP-1-Nachahmer – die sogar länger im Körper verbleiben als das natürliche Hormon – aktiviert, löst dies ein Sättigungsgefühl aus. Zudem wird die Magenentleerung verlangsamt und das rein mit dem Essen verbundene Belohnungsgefühl verringert. Letzteres könnte eine Erklärung dafür sein, dass Menschen, die Semaglutid einnehmen, auch ein geringeres Verlangen nach Alkohol, Rauchen und Glücksspiel haben. Bereits seit mindestens einem Jahrzehnt untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ob GLP-1-Nachahmer als potenzielle Mittel zur Behandlung von Süchten wirken könnten – einige klinische Studien sind bereits am Laufen.
Und: Seit mehr als zehn Jahren entwickeln Forscher und Forscherinnen zudem Medikamente, die neben GLP-1 ein weiteres Hormon, das glukoseabhängige insulinotrope Polypeptid (GIP), imitieren. Die Idee: Betroffene verlieren womöglich noch mehr Gewicht, wenn beide Rezeptoren aktiviert werden. Ein solches Arzneimittel ist zum Beispiel das bereits erwähnte Mounjaro. In einer klinischen Studie verloren die Probandinnen und Probanden, die die höchste Dosis über einen Zeitraum von fast 1,5 Jahren einnahmen, durchschnittlich 21 Prozent Körpergewicht.
Lange Zeit waren Forschende davon ausgegangen, dass der GIP-Rezeptor ausgeschaltet werden sollte, um eine Gewichtsabnahme herbeizuführen, aber »jetzt zeigt sich, dass GIP genauso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger als GLP ist«, sagt Matthias Tschöp, Geschäftsführer des Helmholtz-Forschungszentrums München. Eine Kurzzeitstudie, die im Juni 2023 auf der Tagung der American Diabetes Association in San Diego vorgestellt wurde, zeigte, dass übergewichtige Menschen schon allein durch die Aktivierung der GIP-Rezeptoren abnehmen.
Medikamente, die die GIP-Rezeptoren im Gehirn aktivieren, haben offenbar noch einen Vorteil in der Therapie von Adipositas: Sie senken nicht nur das Gewicht, sondern unterdrücken anscheinend auch Nebenwirkungen, die bei GLP-1-Präparaten auftreten können, wie etwa Übelkeit und Erbrechen.
Trotzdem werden weiterhin Medikamente entwickelt, die das Gegenteilige tun und den GIP-Rezeptor hemmen. Ein Wirkstoffkandidat, der vom biopharmazeutischen Unternehmen Amgen im kalifornischen Thousand Oaks getestet wird, deaktiviert die GIP-Rezeptoren und aktiviert die GLP-1-Rezeptoren. Die höchste Dosis in einer klinischen Studie der frühen Phase führte bei den Teilnehmenden nach drei Monaten zu einem Verlust von etwa 15 Prozent ihres Körpergewichts. Da das Amgen-Medikament einen Antikörper enthält – ein größeres Molekül als die anderen Hormonnachahmer –, erreiche es wahrscheinlich nicht das Gehirn, vermutet Matthias Tschöp. Stattdessen bleibe es vielleicht nur im Darm.
Ob der Wirkstoff ins Gehirn vordringt, wurde bislang nicht untersucht. Gleichwohl könne es eine Region erreichen, die nicht durch die Blut-Hirn-Schranke abgeschirmt ist und mit der Nahrungsaufnahme zu tun hat, sagt Elissa Snook, Mediensprecherin bei Amgen. Außerdem tragen laut Snook Signale, die über das periphere Nervensystem übertragen werden, vermutlich auch dazu bei, den Appetit zu zügeln. Daher ist ein direkter Zugang zum Gehirn möglicherweise gar nicht notwendig.
Daneben erforschen Wissenschaftler Glukagon, ebenfalls ein Darmhormon. Im Gegensatz zu Wirkstoffen, die auf GLP-1- und GIP-Rezeptoren wirken, erhöht die Aktivierung des Glukagonrezeptors den Blutzucker, indem er die Leber dazu anregt, Glukose zu produzieren. Deshalb vermuteten Forscherinnen und Forscher, dass es förderlich für die Gesundheit sein könnte, diesen Rezeptor zu inaktivieren.
»Diese Schlussfolgerung übersieht das Energie- und Fettverbrennungspotenzial von Glukagon«, sagt Timo Müller, der stellvertretende Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas am Helmholtz Zentrum München. Durch die Aktivierung der Glukagonrezeptoren in der Leber wird nicht nur Glukose produziert, sondern auch der Fettabbau dort angestoßen. Zudem steigert sich der Energieverbrauch, möglicherweise indem das sympathische Nervensystem stimuliert wird, das unsere Kampf-oder-Flucht-Reaktion steuert. Aber: »Alles, was den Sympathikus aktiviert, neigt auch dazu, die Herzfrequenz und den Blutdruck zu erhöhen«, sagt der Münchner Biologe, der mit Novo Nordisk zusammenarbeitet. Dieser Effekt zeigte sich etwa in der Retatrutid-Studie: Bei vielen der Teilnehmenden trat eine erhöhte Herzfrequenz auf, die ungefähr nach einem halben Jahr ihren Höhepunkt erreichte und dann langsam wieder abnahm. Dies zeige, dass man Medikamente wie Retatrutid – so genannte Triple-Agonisten, die die Rezeptoren für Glukagon, GIP und GLP-1 aktivieren – nur Menschen mit guter gesundheitlicher Verfassung geben sollte, sagt Timo Müller. In der Studie verloren die Betroffenen im Durchschnitt 24 Prozent ihres Körpergewichts, wenn sie die höchste Dosis fast ein Jahr lang zu sich nahmen.
Die Einnahme jedes dieser drei Hormone könne zu einer Gewichtsabnahme führen, sagt Matthias Tschöp. Aber zusammen wirken sie synergetisch, indem sie sich gegenseitig in Schach halten. Die GIP-Aktivierung unterdrückt die Nebenwirkungen der GLP-1-Aktivierung, und beide Hormonnachahmer stimulieren die Insulinproduktion und verhindern damit, dass Glukagon den Blutzucker zu stark ansteigen lässt. Inzwischen entwickeln einige Unternehmen Arzneimittel, die mehr als ein Hormon imitieren; mindestens zehn Präparate werden derzeit in klinischen Studien getestet und könnten bald auf den Markt kommen.
Wer kann mit den Mitteln abnehmen?
Obwohl die Medikamente in klinischen Studien beeindruckende Ergebnisse bei der Gewichtsabnahme zeigen, sind sie nicht für jeden geeignet. »Es gibt eine kleine Gruppe von Patienten, die nur sehr wenig Körpergewicht verlieren, wenn man ihnen GLP-1 gibt«, sagt Müller. »Warum dies der Fall ist, ist nicht ganz klar.«
Fettleibigkeit hat eine Vielzahl von Ursachen, und etliche davon können beeinflussen, ob eine Behandlung wirkt oder nicht. In der Regel spielen die Gene eine Rolle. Sie führen zum Beispiel dazu, dass manche Menschen Lebensmittel bevorzugen, die nicht ausreichend Sättigungssignale auslösen. Aber auch Schlafmangel, chronischer Stress, schlechte Ernährung und Bewegungsmangel beeinflussen die Stoffwechselrate negativ und führen zu überflüssigen Pfunden. Umweltfaktoren gepaart mit einer genetischen Veranlagung zur Gewichtszunahme ergeben »einen perfekten Sturm«, sagt Susan Yanovski, Kodirektorin des Office of Obesity Research am US National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases in Bethesda, Maryland.
Langsam beginnen Forscher und Forscherinnen zu verstehen, wer mit Hilfe von Hormonnachahmern abnehmen könnte. In einer Studie wurden fettleibige Menschen anhand verschiedener Faktoren – darunter die Stoffwechselgeschwindigkeit und die Menge, die sie essen müssen, bevor sie sich satt fühlen – in Kategorien eingeteilt. Es stellte sich heraus, dass fettleibige Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die schon bald nach dem Essen Hunger verspürten, nach einem Jahr Behandlung mit einem älteren GLP-1-Nachahmerpräparat namens Liraglutid doppelt so viel Gewicht verloren wie Personen mit Adipositas aus der Allgemeinbevölkerung.
Ein weiterer Ansatz könnte die Genetik sein, wie eine Studie von Forschenden der University of Texas und eine weitere Studie eines Forschungsteam aus den USA und Europa zeigen. Bei Menschen mit Diabetes Typ II beeinflussen demnach einige Genmutationen, die die Aktivierung des GLP-1-Rezeptors steuern, wie sehr sich ihr Insulin- und Blutzuckerspiegel ändert, wenn man ihnen GLP-1-Nachahmerpräparate gibt. Diese Mutationen scheinen allerdings nichts damit zu tun zu haben, ob jemand durch die Mittel abnimmt oder nicht.
Möglicherweise gebe es noch mehrere seltene genetische Varianten, die dafür sorgen, dass die Medikamente bei manchen Menschen keinerlei gewichtsreduzierenden Effekt haben, sagt Ewan Pearson, klinischer Forscher an der University of Dundee, der an der zweiten Studie mitgewirkt hat. Er arbeitet mit Eli Lilly zusammen, um herauszufinden, welche Personengruppen gut auf das Mittel Tirzepatid, das sowohl GLP-1 als auch GIP nachahmt, ansprechen. Andere Unternehmen würden wahrscheinlich ähnliche Studien zu ihren jeweiligen Adipositasmedikamenten durchführen, fügt er hinzu.
Doch selbst wenn man die Genetik außen vor lässt, könnte es einfache, aber zuverlässige Wege geben, um vorherzusagen, wie gut jemand auf die Mittel ansprechen wird, so Pearson. Menschen mit Diabetes Typ II beispielsweise neigen dazu, weniger Gewicht zu verlieren als nicht Betroffene, wenn sie GLP-1-Nachahmer einnehmen. Über die Gründe dafür gibt es nur Hypothesen, aber nichts Gesichertes. »Wenn ich das herausfinden könnte, bekäme ich wahrscheinlich einen richtig schönen Preis«, sagt Jamy Ard von der Wake Forest University School of Medicine in Winston-Salem, North Carolina. Der klinische Forscher berät mehrere Unternehmen, die Programme zur Behandlung von Fettleibigkeit anbieten, und erhält von ihnen Forschungsgelder.
Auch das Geschlecht und das Ausgangsgewicht einer Person können die Wirkung beeinflussen. In der Retatrutid-Studie verloren die Teilnehmerinnen bei allen getesteten Arzneimitteldosierungen im Durchschnitt einen höheren Anteil ihres Körpergewichts als die Teilnehmer. Und laut Timo Müller zeigen Tierstudien, dass bei dreifach wirkenden Pharmazeutika wie Retatrutid der Gewichtsverlust umso größer ist, je höher das Ausgangsgewicht der Mäuse ist. »Der Triple-Agonist ist daher eher etwas für die Extremfälle.«
Welche langfristigen Risiken bestehen
Die kurzfristigen Nebenwirkungen dieser Medikamente sind eindeutig: Meist sind es Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und andere verdauungsbedingte Probleme. Wegen dieser Beschwerden brechen manche Menschen die Therapie ab. Eine Studie ergab, dass GLP-1-Nachahmer das Risiko von Darmverschlüssen, die einen Krankenhausaufenthalt erfordern, erhöhen. Eine geringe Anzahl von Menschen, die die Medikamente einnahmen, berichtete zudem von Selbstmordgedanken.
Die Arzneistoffe könnten nicht nur zu einem Verlust von Fett führen: Bei einer Gruppe von Studienteilnehmern, die Semaglutid einnahmen und deren Körperzusammensetzung untersucht wurde, waren fast 40 Prozent des verlorenen Gewichts fettfreie Körpermasse, also etwa Muskeln, Sehnen und Bänder. Dennoch war letztlich das Verhältnis der fettfreien Körpermasse zur Gesamtkörpermasse gesünder. Und in der Regel geht – egal welche Abnehmmethode man wählt – eine Gewichtsabnahme immer auch mit dem Verlust von fettfreier Körpermasse einher.
»Körper nehmen gerne zu, sie mögen es hingegen nicht, Gewicht zu verlieren«Arya Sharma, Mediziner
Diejenigen, die eine Behandlung inklusive Hormonpräparaten beginnen und die anfänglichen Nebenwirkungen aushalten, werden die Medikamente wohl lebenslang einnehmen müssen, um ihr Gewicht zu halten. »Körper nehmen gerne zu, sie mögen es hingegen nicht, Gewicht zu verlieren«, sagt Arya Sharma, ein Spezialist für Adipositas. Der Mediziner, der früher an der University of Alberta in Edmonton, Kanada, tätig war, lebt in Berlin und berät unter anderem Unternehmen, die sich mit Fettleibigkeit beschäftigen. »Wenn jemand anfängt, Gewicht zu verlieren, reagiert der Körper mit einer Verlangsamung des Stoffwechsels und verstärktem Heißhunger«, sagt er. Und: »Diesem System ist es egal, ob du Diabetes, Schlafapnoe oder eine Fettlebererkrankung hast.«
Medikamente gegen Fettleibigkeit sollen helfen, dieses Verlangen zu unterdrücken und die Biologie eines Menschen dahingehend zu verändern, dass er sich auch mit weniger Kalorien zufrieden fühlt. Doch die meisten Menschen, die irgendwann wieder auf diese Mittel verzichten, nehmen erneut zu. Daher gehen Forscher davon aus, dass der Großteil der Patienten, die beginnen, die Arzneien einzunehmen, diese in irgendeiner Form ein Leben lang zu sich nehmen werden. Eine solche langfristige Einnahme könnte negative Auswirkungen haben. Die Risiken »können selten sein, so dass man sie erst sieht, wenn [die Medikamente] von Millionen von Menschen eingenommen werden«, sagt Susan Yanovski. »Oder es kann lange dauern, etwa mehrere Jahre, bis sie sich tatsächlich bemerkbar machen.«
Fast alle Forscher auf diesem Gebiet sind sich jedoch ziemlich sicher, dass die Mittel auch bei langfristiger Einnahme unbedenklich sind. Denn der erste Wirkstoff, der den GLP-1-Rezeptor aktiviert, Exenatid, wurde bereits 2005 von der FDA für die Behandlung von Diabetes Typ II zugelassen. »Aus medizinischer Sicht haben wir bereits viel Erfahrung mit chronischen Therapien mit diesen Medikamenten«, sagt Jamy Ard. Kliniker und Forschende würden die Patienten weiter beobachten, aber er sei zuversichtlich, dass es keine Anzeichen für ein erhöhtes Risiko gefährlicher Nebenwirkungen gibt. Weitere Fachleute, die mit »Nature« gesprochen haben, stimmen ihm zu. Um mögliche negative Auswirkungen zu minimieren, könnte Matthias Tschöp sich vorstellen, dass man zunächst mit einem Mittel startet, das mehrere Rezeptortypen aktiviert, und dann zu einem milderen Medikament wechselt.
»Kliniker müssen sicherstellen, dass die Medikamente junge Menschen nicht daran hindern, alle Nährstoffe und Proteine zu sich zu nehmen, die sie für ein normales Wachstum brauchen«Katherine Morrison, Endokrinologin
Doch speziell eine Gruppe könnte in diesem Zusammenhang Anlass zur Sorge geben: Jugendliche. Manche Stoffe zur Gewichtsreduktion, darunter Wegovy, sind schon ab zwölf Jahren zugelassen. Die Zeit bis zum Erwachsenenalter ist entscheidend für Wachstum und Entwicklung. Fettleibige Kinder und Jugendliche neigen dazu, auch als Erwachsene in dieser Gewichtsklasse zu bleiben. Daher gibt es gute Argumente, bereits in jungen Jahren überschüssiges Gewicht zu verlieren. »Kliniker müssen jedoch sicherstellen, dass die Medikamente junge Menschen nicht daran hindern, alle Nährstoffe und Proteine zu sich zu nehmen, die sie für ein normales Wachstum brauchen«, sagt Katherine Morrison, eine pädiatrische Endokrinologin an der McMaster University in Hamilton, Kanada. Sie sitzt im Beirat von Novo Nordisk sowie von Rhythm Pharmaceuticals in Boston, Massachusetts, einer Firma, die an Behandlungen für seltene genetische Formen der Fettleibigkeit arbeitet.
Bislang gibt es nur wenige Untersuchungen dazu, wie sich solche Arzneimittel auf Jugendliche auswirken; dennoch könnten laut Morrison für die meisten Heranwachsenden mit Adipositas die Vorteile die Risiken überwiegen: »Wenn wir ihre Lebensqualität und ihre körperliche Gesundheit verbessern können, ist das auch ein Vorteil«, sagt sie. »Das dürfen wir in unserer Sorge nicht vergessen.«
Verändern diese Medikamente unser Denken über Fettleibigkeit?
Die neueste Welle an Pharmazeutika stimmt die meisten Wissenschaftler und Kliniker zuversichtlich. »Ich freue mich einfach für die Patienten«, sagt Matthias Tschöp. »Es gibt jetzt Licht am Ende des Tunnels.« Und die Forschenden hoffen, dass die Erkenntnisse bezüglich der biologischen Grundlagen und der chronischen Natur der Fettleibigkeit die Krankenkassen davon überzeugen werden, die Medikamente zu bezahlen.
Müller zufolge zeigen die Arzneimittel, dass Fettleibigkeit nicht auf einen »Mangel an Willenskraft« zurückzuführen ist. Mehr Sport zu treiben und weniger zu essen, reiche in der Regel nicht aus, fügt er hinzu. Weil das Gehirn uns sagt, wann und wie viel wir essen sollen, liegt dort das biologische Ungleichgewicht – und damit das Behandlungspotenzial.
»Wir müssen ein besseres Verständnis von Gesundheit entwickeln, das unabhängig vom Gewicht ist«Sarah Nutter, Psychologin
Doch nicht jeder teilt diese Begeisterung. Es gebe Menschen, die sich wirklich wegen der Akzeptanz dieser Medikamente und des Hypes darum Sorgen machen, sagt Sarah Nutter, Psychologin an der kanadischen University of Victoria: Manche befürchteten etwa, die Mittel könnten Essstörungen und die Stigmatisierung von Gewicht noch verschlimmern.
Die neuen Medikamente treffen auf eine Welt mit allgegenwärtiger Diätkultur und einem gesellschaftlichen Druck, schlank zu sein. »Wir müssen ein besseres Verständnis von Gesundheit entwickeln, das unabhängig vom Gewicht ist«, findet Nutter. So ergab eine Studie, dass fast 30 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die als fettleibig galten, eine gute kardiometabolische Gesundheit hatten, die durch Faktoren wie Blutdruck und Cholesterinspiegel definiert wird. Gesundheit gebe es bei jedem Gewicht, sagt auch Geoff Ball, ein klinischer Forscher, der sich an der University of Alberta auf pädiatrische Adipositas spezialisiert hat und für Novo Nordisk in einem nationalen Beratungsgremium zu diesem Thema tätig war. »Es gibt für Menschen kein richtiges Gewicht.«
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