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Adipositas: Schlank gespritzt

In vielen Fällen hilft stark Übergewichtigen nur eine Magenoperation, um dauerhaft Kilos zu verlieren. Nun ist eine Alternative in Sicht: ein Medikament, das den Stoffwechsel austrickst.
Frau trägt zu große Hose
Abnehmen ist nicht einfach. Mit einem neuen Medikament könnte das nun besser gelingen.

Für alle Diätgeplagten klingt es wie ein Traum: ein Arzneimittel für relativ müheloses Abnehmen. Tatsächlich hat die Europäische Union Anfang 2022 einen solchen Wirkstoff namens Semaglutid zugelassen. In den USA wird das Präparat des Pharmaunternehmens Novo Nordisk bereits unter dem Handelsnamen Wegovy vermarktet. »Das Mittel ist erstaunlich wirksam«, sagt der Ernährungsmediziner David Fäh von der Berner Fachhochschule in der Schweiz. Der Direktor des Helmholtz-Instituts für Stoffwechsel-, Adipositas- und Gefäßforschung in Leipzig, Matthias Blüher, berichtet, dass Patienten damit im Mittel 17 Prozent abnehmen würden, und das bei guter Verträglichkeit und Sicherheit. Er hält die Behandlung mit Semaglutid für einen Meilenstein: »Damit können wir ausgewählten Patienten endlich eine Alternative zu chirurgischen Eingriffen anbieten.«

Weltweit gibt es immer mehr Menschen, die an starkem Übergewicht leiden. Tatsächlich stehen Ärzte und Ernährungsberater aber vor dem Problem, dass es kaum wirkungsvolle Therapien gibt, um viel Körpergewicht zu reduzieren: »Mit Diät und Sport nimmt man typischerweise bis zu fünf Prozent des Körpergewichts ab«, sagt Blüher. Manche Patienten müssten aber 30 bis 40 Prozent ihres Gewichts reduzieren. Am besten funktioniert das mit Magenoperationen. Diese Eingriffe gehen jedoch mit einigen Risiken einher und verlangen eine lebenslange Nachsorge.

Mit Semaglutid könnte es endlich eine pharmazeutische Alternative geben, um die Kilos schwinden zu lassen. Ursprünglich wurde der Wirkstoff zur Therapie von Typ-2-Diabetes entwickelt, auch Altersdiabetes genannt. Den Ärzten fiel dabei auf, dass die Patienten stark abnahmen. Semaglutid ist ein synthetisches Hormon, das die Wirkung des körpereigenen Darmhormons GLP-1 (Glukagon-like Peptide-1) nachahmt und auf diese Weise den Stoffwechsel doppelt beeinflusst: Einerseits reguliert es den Blutzuckerspiegel, andererseits wirkt es auf Hirnregionen, die den Appetit steuern. Der Mechanismus ist noch nicht genau verstanden, doch fest steht: Einmal pro Woche gespritzt, verlangsamt das Medikament die Magenentleerung und beschleunigt das Einsetzen des Sättigungsgefühls.

Die Spritze hat ihren Preis

Zu den lästigen und häufigen Nebenwirkungen der GLP-1-Analoga zählen gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Völlegefühl, Durchfall und Appetitlosigkeit, weshalb sie behutsam dosiert werden müssen. »Die Beschwerden gehen mit der Zeit aber meist zurück und viele Patienten nehmen sie in Kauf«, so Blüher. In den USA sei die Nachfrage groß. »Sie kann momentan nicht vollumfänglich bedient werden, weil es Lieferschwierigkeiten bei den Spritzen gibt«, erzählt Blüher, der mit einer EU-Vermarktung von Wegovy noch in diesem Jahr rechnet.

In Deutschland ist der Vorgänger, Saxenda, seit 2015 zugelassen. Durchschnittlich nehmen Patienten damit sieben Prozent ihres Körpergewichts ab. Saxenda und auch das wirksamere Wegovy sind erst für Menschen mit Adipositas ab einem Body Mass Index (BMI) von 30 zugelassen oder für Übergewichtige ab einem BMI von 27 mit einer Begleiterkrankung wie etwa Bluthochdruck. In den USA beträgt der Listenpreis von Wegovy vor Rabatten für die Monatsration 1349 Dollar.

Doch weil der US-Gesundheitsmarkt anders tickt, sagt das wenig über den künftigen Ladenpreis hier zu Lande aus. »Wir arbeiten mit Hochdruck daran, Wegovy Menschen mit Adipositas in Deutschland zur Verfügung stellen zu können. Momentan können wir aber noch keine Aussage zum Preis und zum Zeitpunkt der Markteinführung machen«, sagt Nina Trittruf von Novo Nordisk. Gerade hier dürften die Kosten jedoch eine große Rolle spielen: »In Deutschland ist Übergewicht im Sozialgesetzbuch nur als eingeschränkte Lebensqualität und nicht als Erkrankung verankert, und Medikamente, die primär zur Zügelung des Appetits oder zur Abmagerung gedacht sind, dürfen von den Krankenkassen nicht erstattet werden«, erklärt Blüher. Im Klartext: Wer mit Wegovy abnehmen möchte, wird dafür selbst aufkommen müssen. Die Nachfrage könnte dennoch groß sein: In Deutschland waren in den Jahren 2014/15 laut Selbstangaben mehr als die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig, knapp ein Fünftel stark übergewichtig, also adipös. Neuere Erhebungen fehlen, die Zahlen dürften aber weiterhin ähnlich ausfallen oder sogar höher.

Weltweit ist die Situation nicht viel besser: 2016 waren der WHO zufolge 39 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung übergewichtig, 13 Prozent adipös, Tendenz weiter steigend. Die WHO hat Adipositas deswegen bereits 2008 als chronische Krankheit eingestuft und »globesity« (nach englisch: »globe« und »obesity«) zu einem der Hauptprobleme der Zukunft erklärt. Die gesundheitlichen Folgen sind beträchtlich, etwa Rückenschmerzen, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Probleme, denn auch das seelische Leid ist häufig groß.

»Ob man viel oder wenig wiegt, kann man nur bis zu einem gewissen Grad steuern«Matthias Blüher, Endokrinologe und Diabetologe am Helmholtz-Institut für Stoffwechsel-, Adipositas- und Gefäßforschung in Leipzig

Noch immer haftet Übergewichtigen das Image an, willensschwach zu sein. Überflüssige Pfunde, so der weit verbreitete Glaube, lassen sich mit Bewegung und Diät schließlich gut in den Griff bekommen. »Ob man viel oder wenig wiegt, kann man nur bis zu einem gewissen Grad steuern«, sagt Blüher. Warum jemand 50 oder 70 Kilogramm mehr auf die Waage bringe als andere, sei allein durch Fehlverhalten nicht zu erklären. Wie die WHO und viele seiner Kollegen betont der Fachmann Bühler daher schon seit vielen Jahren, dass es sich bei Adipositas um eine chronische Krankheit handelt. Im Juli 2020 hat das auch der Deutsche Bundestag anerkannt, was als erster Schritt zu einer besseren Versorgung Betroffener gewertet wird. Damit zukünftig die Kosten von Medikamenten von den Krankenkassen übernommen werden, braucht es allerdings noch eine Gesetzesänderung.

Der Körper liebt Zucker und Fett

Der Grund für die weiter zunehmende Verbreitung von Übergewicht ist ein tief in uns verankertes Überlebensprogramm, das uns fett- und zuckerhaltige Kost lieben lässt. Aus gutem Grund: Den längsten Teil der Menschheitsgeschichte war Nahrung ein knappes Gut. »Selbst während Hungersnöten schafft es unser Körper, das Gewicht einigermaßen stabil zu halten. Das ist eine großartige Leistung, die uns jahrtausendelang das Überleben gesichert  hat«, sagt Blüher.

Heute kehrt sich dieser Schutzmechanismus allerdings ins Gegenteil: Die Verlockungen beginnen mit Frühstückscerealien und Knuspermüsli und hören mit Knabbergebäck wie Käsestangen und Chips auf. Die Zunahme energiedichter, hochverarbeiteter Lebensmittel in den vergangenen 50 Jahren ist beispiellos, und unser Körper hat dieser permanenten Kalorienflut nicht viel entgegenzusetzen. »Im Lauf unserer Evolution war es nicht notwendig, Mechanismen zu entwickeln, die uns vor zu vielen Kalorien schützen«, sagt Fäh.

»Im Lauf unserer Evolution war es nicht notwendig, Mechanismen zu entwickeln, die uns vor zu vielen Kalorien schützen«David Fäh, Ernährungsmediziner an der Berner Fachhochschule

Hinzu kommt, dass es nicht wirklich viel braucht, um Gewicht zuzulegen: Täglich 50 bis 100 Kilokalorien mehr als nötig, also beispielsweise zehn Gummibärchen, sorgen nach einem Jahr rein rechnerisch für zwei bis fünf Kilo mehr Fettmasse. Hat man erst einmal Fettpolster angelegt, ist man schnell in einem Teufelskreis gefangen: »Die Lust an der Bewegung wird weniger, und das Essverhalten verändert sich, man wird resistent nicht nur gegenüber Insulin, sondern auch gegenüber vielen anderen Hormonen, die Hunger und Sättigung regulieren«, sagt Fäh. Diesen Teufelskreis durchbrechen GLP-1-Medikamente teilweise, so dass Übergewichtige Hunger und Sättigung wieder besser wahrnehmen.

Reduziertes Gewicht zu halten, bleibt Herausforderung

Allerdings gilt: »Der Wirkstoff hilft nur, solange man ihn nimmt«, erklärt Fäh, der Semaglutid nicht als Wundermittel verstanden wissen möchte. »Der langfristige Erfolg dieser Medikamente steht und fällt mit parallel eingeführten Lebensstilveränderungen, die einer professionellen Begleitung bedürfen. Sonst verpufft der Effekt, sobald man das Mittel absetzt.« Daher ändert auch das Medikament nichts an der großen Herausforderung, die Adipositas-Betroffene zu bewältigen haben: »Über alle Studien hinweg schaffen es nur wenige Menschen, ihr Wunschgewicht dauerhaft zu halten«, sagt Fäh. Viele seien bereit, Einschränkungen für einen begrenzten Zeitraum hinzunehmen, aber danach fielen sie oft in die gleichen Verhaltensmuster zurück und das Gewicht stiege wie von einem Gummiband gezogen wieder an. »Das ist kein Versagen, das ist unsere biologische Ausstattung«, betont Blüher.

Eine Lösung könnte sein, das Medikament lebenslang einzunehmen. Langzeiterfahrungen mit GLP-1-Analoga in der Adipositas-Therapie fehlen jedoch. Immerhin existieren zehn Jahre Erfahrung in der Diabetestherapie, wobei das Mittel dort geringer dosiert ist. Blüher glaubt daher, dass die Medikamente ebenso für eine langfristige Therapie geeignet sein könnten. »Möglicherweise kommt für manche Patienten auch eine Intervalltherapie in Frage, hier fehlen uns aber noch Erfahrungswerte, das wird die Zukunft zeigen.« Positiv hervorzuheben sei, dass Diabetiker unter der Medikation weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickelten, so Blüher. Die Ergebnisse einer entsprechenden Studie mit Nichtdiabetikern werden für Ende 2023 erwartet. Vorerst wird jedoch gelten: Wer sein Gewicht nach einer erfolgreichen Reduktion halten möchte, muss zwingend seinen Lebensstil und seine Ernährungsgewohnheiten ändern – und zwar dauerhaft.

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