Corona bei Tönnies: Aerosole verbreiteten Viren am Fließband
Ein Superspreader-Ereignis an einem Fließband löste den Coronavirus-Ausbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies aus, bei dem inzwischen mehr als 2000 Menschen infiziert wurden. Vermutlich transportierte ein Aerosol den Erreger. Das berichtet eine Arbeitsgruppe um Thomas Günther vom Heinrich-Pette-Institut in Hamburg, die detailliert die ersten Ansteckungen nachverfolgte. Wie das Team in einer Vorabveröffentlichung berichtet, übertrug ein infizierter Mitarbeiter das Virus in einem Radius von mindestens acht Metern auf mehrere Kollegen. Die Betroffenen arbeiteten an festen Positionen entlang eines Fließbandes, so dass eine räumliche Analyse der ersten Fälle möglich ist. Die Untersuchung stützt die Hypothese, dass beim Tönnies-Ausbruch infektiöse Aerosole eine große Rolle spielten; das führt die Arbeitsgruppe allerdings auch auf die besonderen Bedingungen zurück, unter denen sich die ersten Ansteckungen abspielten.
Schauplatz war der Zerlegebereich für Rinderviertel, ein geschlossener Raum, in dem die Luft kontinuierlich umgewälzt und auf zehn Grad gekühlt wird. Gleichzeitig begünstigte die harte körperliche Arbeit der Beschäftigten nach Ansicht des Teams die Entstehung der Aerosole. Die Befunde der Studie decken sich mit mehreren Faktoren, die schon länger im Verdacht stehen, die Ausbreitung von Sars-CoV-2 zu begünstigen. Besonders die Rolle der Aerosole wird kontrovers diskutiert.
Der Ausbruch in der Fabrik in Rheda-Wiedenbrück begann, kurz nachdem das Land Nordrhein-Westfalen Reihentests in Fleisch verarbeitenden Betrieben angeordnet hatte. Deswegen lässt sich der genaue Ablauf nachverfolgen. Ursprung war demnach ein Ausbruch in einer kleineren Fabrik in Dissen, etwa 30 Kilometer entfernt. Zwei Mitarbeiter der Frühschicht in der Fabrik Rheda-Wiedenbrück meldeten ihrem Arbeitgeber, dass sie Kontakt mit zwei Mitarbeitern aus Dissen hatten, die später positiv getestet wurden; vier Tage nach dem Treffen waren auch ihre Tests positiv. Weitere sechs Tage später fanden die Behörden unter den 147 Mitarbeitern der Frühschicht bereits 18 neue Fälle. Nach einem Monat war die Zahl der Infizierten im Betrieb auf mehr als 1400 gewachsen, der größte Cluster in einer deutschen Fleischfabrik bisher.
Derartige Ausbrüche in Fleisch verarbeitenden Betrieben gab es während der Pandemie auch in mehreren anderen Ländern, zum Beispiel den USA. Schon früh vermuteten Fachleute, dass die besonderen Bedingungen in solchen Betrieben – zum Beispiel eben stark gekühlte Luft in geschlossenen Räumen – dafür verantwortlich waren. Nach Angaben des Teams um Günther ist die neue Untersuchung allerdings die erste Studie, die einen derartigen Ausbruch direkt nachvollzieht, um den Übertragungsmechanismus zu entschlüsseln. Die Arbeitsgruppe kommt zu dem Schluss, dass Aerosole im Zerlegebereich die plausibelste Erklärung für das Ansteckungsmuster bieten. Die ursprünglich Infizierten steckte demnach 60 Prozent aller Kollegen an, die an drei aufeinander folgenden Tagen in einem Umkreis von bis zu acht Metern um ihn herum arbeiteten.
Dass tatsächlich alle Nachfolgefälle auf die vom ersten Infizierten ausgehenden Infektionsketten zurückgehen, belegen Erbgutuntersuchungen des Virus. Alle Erreger zeigen das gleiche Muster von acht typischen Punktmutationen im Genom; diese haben keine Auswirkungen auf die Eigenschaften des Virus, erlauben aber die Nachverfolgung der Abstammungslinie. So zeigt diese Analyse, dass der Ansteckungscluster nahezu sicher auf nur einen der beiden ursprünglich angesteckten Arbeiter zurückgeht – beim zweiten Infizierten fand die Gruppe um Günther eine zusätzliche Mutation, die bei keinem später Infizierten auftaucht. Warum einer der Infizierten zum Superspreader wurde, während der andere das Virus nicht weitergab, ist unbekannt.
Die räumliche Analyse der Arbeitsplätze zeigen einen starken Zusammenhang mit der Position des Superspreaders am Fließband, während nur in Einzelfällen ein Bezug zur Unterbringung oder gemeinsamer Anreise herstellbar ist. Die Arbeitsgruppe geht deswegen davon aus, dass der Zerlegebereich der Ort der Ansteckungen war – und dass die dortigen Bedingungen die Übertragung von Aerosole begünstigten. An Orten mit ähnlichen Bedingungen reiche deswegen ein Abstand von anderthalb oder zwei Metern keineswegs als Schutz aus, schreibt das Team. Stattdessen seien einerseits Maßnahmen wie eine verbesserte Lüftung mit Filtern oder gute Gesichtsmasken notwendig, andererseits regelmäßige Tests und Quarantäne auch von Personen mit größerem Abstand zu Infizierten.
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