ASP-Schutzzaun: Gefangen am Eisernen Vorhang
Gemächlich fließt die Oder im Nordosten Brandenburgs der nahen Ostsee entgegen. Flankiert von weiten Poldern, die sich je nach Jahreszeit als saftig grüne Wiesenauen oder als überflutete Seenlandschaft präsentieren. Reste von Auwäldern, Altarme und Sümpfe mit umgestürzten Baumriesen verströmen einen Hauch von Wildnis. Hier, im Nationalpark Unteres Odertal, soll die Natur auf rund 60 Stromkilometern Länge das Sagen haben, hier soll die Dynamik des deutsch-polnischen Grenzstroms den Takt bestimmen: Großräumig, unzerschnitten und weitgehend frei von menschlichen Einflüssen darf sich Deutschlands einziger Auennationalpark nach seinen eigenen Gesetzen entfalten und bedrohten Tier- und Pflanzenarten das Überleben ermöglichen. »Prozessschutz« nennt sich das Natur-Natur-sein-Lassen im Jargon der Umweltverwaltungen. Er ist laut Bundesnaturschutzgesetz das wichtigste Element eines jeden Nationalparks.
Doch seit eineinhalb Jahren bestimmt auf deutscher Seite nicht der Prozess-, sondern der Seuchenschutz das Geschehen. Genauer: der umstrittene Versuch, der Afrikanischen Schweinepest (ASP) eine Grenze zu setzen, vor allem mittels Abschottung. Auf insgesamt fast 450 Kilometer Länge wurden in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen entlang der deutsch-polnischen Grenze massive Wildzäune errichtet, die ein Vordringen von ASP-infizierten Wildschweinen nach Westen verhindern sollen. Rechnet man die vielerorts bereits gebauten zweiten Zaunreihen zur Schaffung einer Pufferzone und die Umzäunung weiterer Ausbruchsgebiete hinzu, sind sogar schon rund 1400 Kilometer ASP-Zäune im deutsch-polnischen Grenzgebiet gesetzt.
Auf dem Spiel steht das Multimilliardengeschäft der Intensivschweinehaltung. Deutschland ist weltweit drittgrößter Schweinefleischexporteur. Wenn Abnehmerländer aus Sorge um ihre eigenen Schweinebestände einen Importstopp verhängen, führt das zu empfindlichen Umsatzeinbußen. Als im September 2020 in Brandenburg erste infizierte Schweine entdeckt wurden, dauerte es darum keine zwei Wochen, bis mit dem Bau des Eisernen Vorhangs begonnen wurde.
Für Menschen und fast alle Tiere ist der Erreger selbst harmlos, er wird in der Magen-Darm-Passage unschädlich gemacht. Haus- und Wildschweine dagegen tötet das aus Afrika stammende Virus fast immer. Seitdem es im Jahr 2007 in Georgien die Schwelle Europas erreichte, sind die Behörden in permanenter Habachtstellung. Ein totes Wildschwein mit ASP-Viren führt zur Abriegelung ganzer Landkreise. Ist ein Betrieb betroffen, müssen alle seine Schweine getötet werden und häufig sogar die in der Nachbarschaft gleich mit, selbst wenn sie gar nicht infiziert sind. Gleichzeitig ordnen die Behörden eine systematische Jagd auf die Wildschweine im Ausbreitungsgebiet an.
Und nun der Zaun Richtung Osten. Mit einer Länge von rund 250 Kilometern hat Brandenburg den größten Anteil daran. Auch die ökologischen Folgen der Barriere sind hier besonders offensichtlich, vor allem im Oder-Nationalpark.
Wanderbewegungen werden empfindlich gestört
»Die Wanderbewegungen vieler Tierarten, die in einer Flussaue natürlicherweise jahreszeitlich stattfinden, werden jetzt verhindert«, sagt Nationalparkleiter Dirk Treichel. »Mindestens zwei Zäune zerschneiden den Nationalpark von Nord nach Süd, stellenweise sind es noch mehr.« Die Auswirkungen werden vor allem bei Hochwasser sichtbar. Denn auch die vom Oderwasser gefluteten Wiesen, die Polder, sind dann durch Zäune eingeschlossen und mit ihnen viele Tiere darin – von einem »Badewanneneffekt« spricht der Nationalparkchef.
Die Folgen sind dramatisch. Videos und Fotos von Wildkameras zeigen, wie Gruppen von Rehen verzweifelt versuchen, dem Wasser landeinwärts zu entkommen, in ihrem Überlebenskampf aber immer wieder an Zäune stoßen. Bis zur Erschöpfung laufen sie die Absperrung entlang. Dass die Rehe die 1,20 Meter hohen Hindernisse problemlos überspringen könnten, wie die Behörden beim Bau der Anlage behaupteten, »stimmt einfach nicht«, sagt Treichel. 40 tot geborgene Rehe und ein Rothirschkalb sprächen dagegen. Die stundenlangen vergeblichen Versuche der Tiere habe er aber mit eigenen Augen beobachten können, sagt der Nationalparkleiter.
Mehr als 100 000 Menschen unterzeichnen Petition
Vor allem das Schicksal der hilflos ertrinkenden Rehe hat die Öffentlichkeit aufgeschreckt. In einer Bürgerpetition fordern inzwischen mehr als 100 000 Menschen eine Verlegung des Zauns um mehrere Kilometer nach Westen außerhalb des Nationalparks und der Überschwemmungsgebiete. Gegen die zuständige Landrätin des Kreises Uckermark stellte der Deutsche Tierschutzbund Strafanzeige wegen Tierquälerei.
Experten sehen in den ertrunkenen Rehen nur den sichtbarsten Teil einer menschengemachten ökologischen Katastrophe. Laut Treichel sind zahlreiche weitere Tierarten betroffen, darunter viele streng geschützte: Fischotter, Biber oder Wolf etwa. Selbst manch extrem bedrohte Auenvogelart wie Seeadler, Singschwan oder Wachtelkönig und sogar die Amphibienwanderung leiden nach Meinung der Experten unter dem Zaun. Und das ausgerechnet im einzigen deutschen Auennationalpark.
Schuld daran ist auch ein weiterer Nebeneffekt der Zäune: Wenn nach einer Überschwemmung das Wasser abläuft, wirken deren feine Gittermaschen wie Filter, in denen Treibgut aller Art hängenbleibt. Äste, Baumstämme, Wurzeln, Schilfbüschel und Plastik verweben sich zu einer dichten und mit jedem Hochwasser wachsenden Wand, die im Sommer dann beispielsweise für die noch nicht flugfähigen Küken der auf dem Boden lebenden Wachtelkönige unüberwindbar ist. Die Vogelart ist gerade in die höchste Bedrohungsstufe der bundesweiten Roten Liste der Brutvögel heraufgestuft worden. Im Nationalpark hat sie eine ihrer wichtigsten Vorkommen deutschlandweit.
Wie die Initiatoren der Petition und der Umweltverband WWF fordert auch Treichel, die Zäune sofort in Gebiete jenseits der Überschwemmungsflächen und außerhalb der Nationalparkgrenzen zu verlegen. So wie er jetzt verlaufe, könne der Schutzzweck des Nationalparks und damit sein gesetzlich vorgeschriebener Auftrag nicht mehr erfüllt werden. Daran ändern auch die Durchlässe und »Wildtierbrücken« nichts, die als Notfallmaßnahme nach einem Bürgerproteststurm errichtet wurden. Nach Meinung von Experten sind sie nur für wenige Tierarten geeignet, und selbst von diesen würden sie in Paniksituationen häufig nicht gefunden.
Rückkehr der gemütlichen Riesen ausgebremst
Der WWF sieht ein weiteres Problem durch die Drahtbarrieren. »Der Zaun stellt ein massives Hindernis für die Rückkehr von Elch und Wisent dar«, sagt Nina Gandl. Sie leitet ein grenzübergreifendes Projekt des Umweltverbands, das die natürliche Wiederbesiedlung der Region durch die großen Pflanzenfresser begleitet. Wenige Kilometer östlich der Oder-Grenze leben in Polen heute wieder 300 bis 400 Wisente frei. Nach einem 2001 verhängten Jagdmoratorium vermehrt sich die westpommersche Population kräftig. Sie ist der ganze Stolz polnischer Naturschützer und vieler polnischer Bewohner der Grenzregion.
»Elche und Wisente stehen dank deutlicher Bestandserholungen in Polen an der Schwelle zu einer natürlichen Wiederbesiedlung Deutschlands«, sagt Gandl. Die jahrelangen grenzüberschreitenden Bemühungen, den hier zu Lande ausgerotteten Pflanzen fressenden Großtieren ein natürliches Comeback zu ermöglichen, würden durch den Zaun zunichtegemacht. »Der Sinn und Zweck eines Nationalparks besteht gerade darin, Lebensräumen und den Tieren, die darin leben, ungestörte Entwicklungsmöglichkeiten zu lassen – diesen Zweck unterminiert der Zaun, indem er wertvollste Habitate durchtrennt und den Tieren natürliche Bewegungsräume geradezu brutal abschneidet«, sagt Gandl.
Inzwischen versucht sich das zuständige brandenburgische Verbraucherschutzministerium in Schadensbegrenzung. Die Staatssekretärin und Leiterin des brandenburgischen ASP-Krisenstabs, Anna Heyer-Stuffer, sicherte die Verlegung von Teilen des Zaunes zu, ließ aber offen, wann das genau geschehen werde und wie der Zaun künftig verlaufen solle. Auch die Frage, ob es die vom WWF seit Langem geforderte und aus Sicht der Naturschützer rechtlich vorgeschriebene Verträglichkeitsprüfung des Zauns mit der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie doch noch geben soll, ist weiter offen. »Der Zaun steht seit eineinhalb Jahren, und diese Prüfung lässt immer noch auf sich warten«, sagt Gandl.
»Wir sind wie bei Corona auch bei ASP im Blindflug«
Besonders erbost sind viele Naturschützer über die aus ihrer Sicht ebenso rücksichts- wie fantasielose Seuchenbekämpfung mit Hilfe eines Sperrriegels, der sich nicht einmal als sonderlich wirkungsvoll erwiesen habe. Polen etwa geht einen anderen Weg und weigert sich, wertvolle Auengebiete auf seiner Seite einzuzäunen. Dort setzt man stattdessen auf Biosicherheit in den Schweinebetrieben selbst – strenge Zutrittskontrollen, Desinfektion und eine möglichst rigorose Vermeidung von Kontakten zwischen Haus- und Wildschweinen.
Dass der Zaun die ASP nicht aufhalten kann, lässt sich durch Zahlen belegen. Bei fast 2500 Wildschweinen wurde bis Mitte Februar in Brandenburg das Virus entdeckt. »Wir sind ganz ähnlich wie bei der Corona-Pandemie in einer Art Blindflug«, sagt Anita Idel. Die Veterinärmedizinerin bemängelt, dass es seitens der zuständigen Behörden keine Evaluierung der gegen die ASP ergriffenen Maßnahmen gebe. »Das bedeutet, dass wir weder wissen, wie gut sie die Ausbreitung abbremsen, noch, wie groß die Schäden für Wildtiere und Ökosysteme sind.«
Ein weggeworfenes Wurstbrötchen kann eine Infektion entfachen
Der Zaun soll verhindern, dass infizierte Wildschweine aus dem polnischen Seuchengebiet ihre Artgenossen auf der deutschen Seite anstecken, die dann ihrerseits das Virus in die Schweinemastbetriebe einschleppen, direkt oder auf Umwegen. Doch das sei bei Weitem nicht der einzige Ausbreitungspfad, sagt Idel, die für das brandenburgische Umwelt- und Landwirtschaftsministerium ein Gutachten zur ASP verfasst hat. Schon lange ist bekannt, dass das Virus an Autoreifen klebt, an Schuhen und sogar an Lebensmitteln. Selbst ein weggeworfenes Wurstbrot kann eine infektiöse Dosis enthalten. »Das kann jederzeit und überall passieren und so zu einem Eintrag in ein neues Gebiet zu führen«, sagt die Expertin.
Solche »Sprunginfektionen« treten beispielsweise entlang von Autobahnen auf. So hat es in Belgien fernab des aktuellen ASP-Verbreitungsgebiets Fälle gegeben. Und auch von Sardinien aus ist die Seuche auf das italienische Festland eingeschleppt worden, an Bord einer Fähre. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg lassen sich plötzliche Ausbrüche in Schweinehaltungen weit westlich des Hauptseuchengebiets ebenfalls nur durch Einschleppung über Menschen erklären.
Auch aus einem weiteren Grund sehen Naturschützer und Veterinärmediziner wie Idel das ASP-Management allein über Bejagung von Wildschweinen und das Errichten von Zäunen kritisch. Das Virus werde mittlerweile nicht mehr allein von außen eingetragen, sondern sei in der sehr hohen Wildschweinpopulation entlang der deutsch-polnischen Grenze endemisch geworden – also fest etabliert, glauben sie. Es gelte – wieder eine Parallele zur Coronakrise –, sich auf einen dauerhaften Umgang mit der ASP einzurichten. »Wir müssen deshalb weg von Maßnahmen, die das Ausbruchsgeschehen zu einem hohen Preis für Natur und Ökosysteme im besten Fall abfedern oder verzögern, aber nicht an die Wurzel des Problems gehen«, fordert Idel. Sie plädiert daher dafür, verstärkt auf die Entwicklung von Impfstoffen für Wildschweine zu setzen. Diese könnten über Köder verimpft werden. Mit dieser Methode ist es zu Beginn der 2000er Jahre bereits gelungen, die Tollwut hier zu Lande auszurotten.
Bei keinem anderen Erreger, abgesehen vom Coronavirus, wird gerade mehr Geld investiert. Aber noch gibt es keinen einsatzbereiten Impfstoff. »Experten rechnen für die EU in zwei bis drei Jahren mit der Zulassungsreife«, sagt Idel. Sie fordert, am besten jetzt schon einmal die Impfkampagne vorzubereiten.
Und Nationalparkchef Treichel drängt auf eine möglichst baldige Verlegung der Zäune. Mit Sorge blickt er auf den bevorstehenden Vogelzug nach Norden, wenn im März zehntausende Wasservögel das Gebiet passieren. In der Dämmerung oder bei Nebel sind die Zäune für sie kaum sichtbar. Schon jetzt hat man vereinzelt Singschwäne und Reiher als Schlagopfer gefunden. In den kommenden Wochen könnten die Auswirkungen noch viel gravierender sein.
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